Dear Mr. Berlusconi

Der Frontalangriff des Economist auf den italienischen Ministerpräsidenten und Medienzar Silvio Berlusconi stößt mitten ins Sommerloch

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The Economist wagt sich auf dünnes Eis: Ein offener Brief und ein Fragenkatalog an Silvio Berlusconi sowie ein Dossier bilden das Hauptthema der neuen Ausgabe. Doch die enthaltene Kritik ist verhalten, geradezu höflich britisch. George Walker Bush bezeichnet ihn als besten europäischen Freund, SPD-Europaparlamentarier als "nicht Europa-kompatibel". Er ist Ministerpräsident Italiens und EU-Ratspräsident der zweiten Jahreshälfte 2003.

Zwei Jahre regiert Silvio Berlusconi nun wieder das stiefelförmige Land im Mittelmeer. Als "Erfolge" kann er bislang vorweisen: Stopp verschiedener Ermittlungsverfahren gegen sich und befreundete Politiker, Verschärfung der Einwanderungsbedingungen, verstärkte Medienkonzentration in seinem Umfeld und nicht zuletzt die Teilnahme an der "Koalition der Willigen" im Dritten Golfkrieg. Berlusconi verkörpert ein ganz neues Europa: Geschmeidig, modern, unangreifbar - und nicht uneingeschränkt als demokratisch zu bezeichnen.

Der "Economist" stellt Silvio Berlusconi unangenehme Fragen - zum Beispiel in Bezug auf die mutmaßlich geflossenen Schmiergelder rund um den Kauf der Firma SME 1985. Das Gerichtsverfahren, das eben diese Zahlungen untersuchen sollte, wurde durch das neue Immunitätsgesetz ausgesetzt. Eine Fortsetzung erfolgt frühestens, wenn Berlusconi aus Amt und Würden scheidet. Fragen auch zu den Geldquellen von Firmen, für die der heutige Ministerpräsident in den späten 60ern und frühen 70ern zumindest mit seinem Namen stand.

Silvio Berlusconi ist bislang sechs mal verschiedener Straftaten schuldig gesprochen worden: Steuerhinterziehung, Falschaussage, Bestechung und Bilanzfälschung sind die Grundlagen einer umfangreichen Sammlung an Gerichtsverfahren. Damit steht Berlusconi in schlechtester Tradition bekannter italienischer Spitzenpolitiker: Amtsvorgänger Bettino Craxi wurde 1994 der Bilanzfälschung, illegaler Parteispenden und Bestechung schuldig gesprochen, Giulio Andreotti 2002 gar wegen Beteiligung an der Ermordung eines Journalisten 1979.

Die im Hintergrund stehenden Fragen lässt der Economist allerdings unangetastet: Kann es zulässig sein, dass der erste Mann in der Regierung auch die "vierte Macht im Staate" zu großen Teilen kontrolliert? Presse und Rundfunk Italiens sind fest in den Händen des Forza Italia-Primus. Man stellt diese und ähnliche Fragen zur demokratischen Gesinnung wohlweislich nicht. Denn die Briten wagen sich mit ihrer Kritik am demokratisch gewählten Regierungschef eines anderen europäischen Landes schon weit vor.

Die EU-Ratspräsidentschaft bringt Berlusconi bislang mehr Schwierigkeiten als Vorteile. Doch wer sollte die anstehende europaweite Vereinheitlichung des Justizwesens besser angehen als er, der sich zumindest in italienischen Gerichtssälen hervorragend auskennt?