Dein Freund, das Fettgewebe

Der gestörte Fettstoffwechsel, die andere Seite der Diabetes

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Übergewicht ist zur Volkskrankheit geworden, doch es gibt auch das krasse Gegenteil: Menschen, die kein Gramm Fett auf den Rippen haben. Sie leiden an dem seltenen Berardinelli-Seip-Syndrom, auch Lipodystrophie genannt. Bei der Erforschung dieser Krankheit haben die Wissenschaftler jetzt Entdeckungen gemacht, die das Verständnis der Diabetes verändern. Der New Scientist fasst einige Ergebnisse zusammen.

Kein Gramm Fett auf die Waage zu bringen, klingt reizvoll, doch es gibt eine Steigerung von schlank und mager: mit einem Körper zu leben, der kein Fett speichern kann. Man kann mit Lipodystrophie geboren werden oder sie im Lauf des Lebens erwerben, wie dies beispielsweise bei HIV-Patienten häufig der Fall ist.

Ständig hungrig

In jedem Fall bedeutet es aufzufallen, neugierige Blicke auf sich zu ziehen. Menschen mit Berardinelli-Seip-Syndrom haben Körper mit harten, maskulinen Konturen, eben weil das Fett fehlt, das sie weicher und runder macht. Obendrein bedeutet es auch: Hunger zu haben, und zwar ständig. Wer jetzt neidvoll denkt: "Die können ja wenigstens so viel essen, wie sie wollen", der irrt.

Eben weil Lipodystrophie-Patienten die Fähigkeit fehlt, Fett zu speichern, sind die Fettwerte in ihrem Blut extrem hoch – mit allen gesundheitlichen Risiken, die das mit sich bringt. Und daher müssen die Erkrankten eine strenge Diät halten.

Grundproblem Insulinresistenz

Bei der Erforschung der Lipodystrophie hat die Forschung nun wichtiges entdeckt: Menschen, die keine Fett im Körper aufbauen können, habe viel gemeinsam mit Menschen, die davon zu viel haben. Beide Patientengruppen leiden nämlich in der Regel auch unter Diabetes vom Typ 2, bekannt auch als Altersdiabetes. Sie ist gekennzeichnet durch eine zunehmende Insulinresistenz: Die Körperzellen erkennen das Insulin nicht mehr ausreichend und reagieren nur schwach auf den Botenstoff, der den Zellen hilft, die Glukose aus dem Blut aufzunehmen. Die Bauchspeicheldrüse produziert immer mehr Insulin, um die verminderte Insulinempfindlichkeit auszugleichen, damit steigt der Glukosespiegel im Blut, was zu vielen Erkrankungen führt.

Dein Freund, das Fettgewebe

Lange Zeit hat die Wissenschaft Diabetes einzig unter dem Aspekt des Kohlenhydratestoffwechsels betrachtet. Wie der New Scientist schreibt, gibt es aber immer mehr Anzeichen dafür, dass der Fettstoffwechsel womöglich die größere Rolle spielt. Für New Scientist-Autor Bob Holmes ist damit sogar eine Aufwertung des Fettgewebes unseres Körpers verbunden: Er schlägt vor, es endlich als einen guten Freund zu betrachten. Denn es spaltet das Fett, das wir zu uns nehmen in Fettsäuren auf und speichert sie, bis wir sie brauchen. Nur wenn es dabei überfordert wird und sich die Fettsäuren und ihre Abbauprodukte in den Muskelzellen zu sammeln beginnen, löst es die verhängnisvolle Insulinresistenz aus.

Fettzellen womöglich aktiver als angenommen

Es gibt auch noch einen weiteren Grund, warum sich Fettsäuren im Muskelgewebe aufbauen. Eine Forschergruppe um Gerald Shulman vom Howard Hughes Medical Institute der Yale University hat herausgefunden, warum Diabetes 2 ein solch hartnäckiger Begleiter des Alterns ist und obendrein bei manchen stärker Menschen ausgeprägt ist als bei anderen: Bei den Mitgliedern einer Familie mit Insulinresistenz, bei denen über Generationen hinweg Diabetes 2 auftrat, stellt er eine verminderte Aktivität der Mitochondrien fest, also der Motoren der Körperzellen. Diese Ermüdung ist auch eine charakteristische Erscheinung des Älterwerdens.

Mitchell Lazar, Chef des Diabetes-Zentrums der University of Pennsylvania hält Fettzellen zudem für aktiver als bislang angenommen. Sie seien mehr als Gefäße, die aufnehmen, bis sie überquellen und er glaubt, dass sie die Insulin-Empfindlichkeit des Körpers steuern, da die meisten Insulin-intensivierenden Stoffe, so genannte Thiazolidinedione (TZD), Rezeptoren stimulieren, die vor allem im Zellkern von Fettzellen gefunden wurden.

Sport in der Pille

Das neue Verständnis davon, welche Rolle die Fettzellen bei der Entstehung von Insulinresistenzen spielen, wird die Entwicklung neuer Medikamente vorantreiben. Es muss jetzt nur gelingen, die Enzyme zu finden, die Reaktion der Zellen auf das Insulin regeln.

Als viel versprechender Ansatz hat sich das Enzym AMP-Kinase (AMPK) erwiesen. Es regt die Zellen an, mehr Glukose und Fettsäuren zu verbrennen. Auf diese Weise wird die Konzentration von Fettsäuren in den Zellen gesenkt, gleichzeitig reagieren die Muskelzellen empfindlicher auf Insulin. Sport ist ein natürliches Stimulans der AMPK-Aktivität. Deshalb ist Bewegung so gesund. Die Pharmaindustrie forscht bereits an Medikamenten, die diese Portion Sport in Pillen verabreichen.

Neue Therapien

Medikamente, die die Fähigkeit der Zellen anregen, mit Fettsäuren fertig zu werden, könnten Lipodystrophie-Patienten und Übergewichtigen gleichermaßen helfen und die Behandlung von Diabetes ein gutes Stück weiter bringen. Und es wird höchste Zeit, für neue Therapien, denn das Problem nimmt rasant zu. Nach Angaben des New Scientist werden 2020 weltweit rund 250 Millionen Menschen an Diabetes 2 erkrankt sein. Die Ursachen sind Übergewicht, aber auch die Überalterung der Gesellschaft.