Den Wandel mit aller Entschlossenheit ergreifen

Seite 5: Bio-Luddismus

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1. Die Medizin macht die Menschen krank

Ivan Illich hat eine extreme bio-luddistische Position eingenommen: Medizin selbst macht uns krank und sollte abgeschafft werden. Eine Variante dieser Kritik ist, daß Genuntersuchungen dazu führen könnten, daß wir alle "gefährdet" seien und sich jeder so als krank betrachtet. Noch beunruhigender könnte eine genetische Diagnose eine Zweidrittel-Gesellschaft schaffen, aufgeteilt in jene mit relativ guten Genen und in jene mit genetischen Krankheiten. Die genetische Diagnose wird uns alle, kurz gesagt, genetisch krank machen. Das würde dann noch problematischer sein, wenn eine Krankheit diagnostiziert wird, die noch nicht behandelbar ist.

Manchmal macht die Medizin die Menschen kränker, aber ich klammere mich an das Versprechen der Moderne, daß der wissenschaftliche Fortschritt unser Leben allgemein verbessert und daß Wissen besser ist als Nicht-Wissen. Ich glaube nicht, daß wir jemals Menschen unter Zwang in Kenntnis von der Wahrscheinlichkeit einer sich entwickelnden Krankheit setzen, auch wenn wir vielleicht Eltern und Ärzte so erziehen sollten, daß sie vorsichtig vorgehen sollten, wenn sie Kinder über ihre Risiken informieren wollen. Wir wissen alle, daß wir vom Tod gefährdet sind. Und Menschen sehen mit oder ohne Gendiagnose die medizinische Geschichte ihrer Eltern und Verwandten als Vorboten für ihre Zukunft. Sowohl die Kenntnis als auch die Verweigerung, seine genetische Veranlagung zu kennen, vergrößern die Wahlmöglichkeiten entscheidungsfähiger Erwachsener. Menschen die Möglichkeit abzusprechen, diese Wahl zu treffen, verbessert ihr Leben nicht.

Dieses Argument berücksichtigt nur die erste diagnostizierende Stufe der neuen Eugenik und nicht die zweite, darauf folgende einer Korrektur. Weit davon entfernt, jedermann krank zu machen, verspricht der Fortschritt der Gentherapie, jedermann gesund zu machen.

2. Die heiligen Grenzen der natürlichen Ordnung

Rifkin hat sich mit religiösen Führungspersönlichkeiten verbunden, um eine andere fundamentalistische Überzeugung zu vertreten, nämlich daß die Gentechnologie die heiligen Grenzen übersteigen, obgleich wir nicht "Gott spielen" sollten. Ich glaube nicht, daß sich göttliche Grenzen ausmachen lassen, und ich glaube auch nicht an eine "natürliche Ordnung", außer an diejenige, die wir haben.

Wir können nicht gegen die Natur vorgehen, da es selbst ein Bestandteil der Natur wäre, wenn wir dies tun.

Love and Rockets

Es gibt keine "natürlichen Grenzen" hinsichtlich der Kontrolle unserer Biologie oder Ökologie. Es gibt keinen "natürlichen" Weise, ein Baby zu bekommen oder zu sterben. Auch wenn es eine solche für die Geburt und den Tod gäbe, glaube ich nicht, daß wir moralisch gezwungen wären, sie zu akzeptieren.

3. Technologien dienen Herrschaftsinteressen

Manche zögern zu behaupten, daß medizinische Technik an und für sich schlecht sei, hingegen sagen sie, daß die Mächtigen stets die Techniken so ausformen und anwenden, daß sie die Herrschaft über die nicht so Mächtigen wahren. Obwohl das wahrscheinlich zutrifft, ziehen sie die Schlußfolgerung, daß jede Technik aufgegeben werden sollte. Die Reichen und Mächtigen haben einen besseren Zugang zu Telefonen als die Armen und Ohnmächtigen, und Telefone werden von den Reichen und Mächtigen benutzt, um mehr Reichtum und Macht zu erwerben. Deswegen sollte man freilich nicht die Telefone verbannen, sondern den Telefonservice subventionieren und eine Gesellschaftsreform einleiten.

4. Das Genom ist für eine technische Manipulation zu komplex

Eine weitere fundamentalistische Überzeugung ist, daß das Genom zu kompliziert für eine technische Manipulation sei und daß es deswegen bestimmt unerfreuliche und nicht gewünschte Folgen geben werde. Dieses Argument läuft parallel zur tiefsten Überzeugung der Ökologen, daß die menschliche Steuerung des komplexen globalen Ökosystems unmöglich sei und daß unsere einzige Hoffnung darin bestünde, den Planeten seiner Selbstorganisation zu überlassen.

Das Genom und das Ökosystem sind sehr kompliziert und die Möglichkeit, in einem der beiden mehr als lokale Defekte zu reparieren, ist vielleicht noch Jahrzehnte entfernt. Aber möglicherweise werden wir den genetischen Code schreiben Ökosysteme technisch herstellen und die strukturellen Folgen unserer Eingriffe in künftige Körper und Planeten mit dem Computer simulieren zu können. Natürlich wird es schwierig sein zu entscheiden, wann die Folgen eines genetischen Entwurfs hinreichend gut verstanden sein werden, so die Realisierung sicher ist. Unser gegenwärtiges Kontrollverfahren ist wahrscheinlich dieser Aufgabe nicht angemessen.

Das Wissen über das Genom und die Voraussagekraft möglicher Folgen sollten sehr groß sein, bevor wir Anwendungen auf Menschen oder die Freisetzung von genmanipulierten Tieren gestatten. Auch wenn sich Elias und Annas gegen die "positive" Keimbahntherapie wenden, die ich befürworte, schlagen sie drei vernünftige Vorbedingungen für den Einsatz der Gentechnologie vor.

a) Es sollte zuvor eine hinreichend große Erfahrung mit der Gentherapie von somatischen Zellen bei Menschen geben, die ganz klar ihre Sicherheit und Wirksamkeit gezeigt hat.

b) Es sollte in der Verwendung von geeigneten Tiermodellen einen annehmbaren wissenschaftlichen Nachweis geben, daß eine Keimbahntherapie die entsprechende Krankheit heilt oder beseitigt und kein Leiden hervorruft.

c) Jede Anwendung sollte von der Arbeitsgruppe Gentherapie der NIH und von lokalen Prüfungsgremien mit einer vorhergehenden öffentlichen Diskussion gebilligt worden sein.

Wer an die Möglichkeit einer wirksamen öffentlichen Kontrolle glaubt, mag hinsichtlich der angemessenen Standards, die von der Öffentlichkeit und den Kontrollgremien gefordert werden, sehr unterschiedlicher Meinung sein. Aber Liberale und Konservative unterscheiden sich ganz fundamental von den Bio-Ludditen, die glauben, die natürliche Welt sei so kompliziert und Regierungen so dumm, daß jeder Eingriff verboten werden sollte.

Zweifellos wird das Gendesign einer extensiven Experimentierphase an Tiermodellen unterzogen werden, bevor Experimente mit Menschen beginnen. Ich sehe kaum ethische Probleme, wenn man mit Tieren experimentiert. Das Problem mit Tiermodellen besteht darin, daß man Tierarten erzeugen könnte, die gefährlich werden, wenn man sie ins Ökosystem aussetzt. Die Freilassung von gentechnologisch manipulierten Tieren sollte man mit äußerster Vorsicht handhaben.

Gentechnisch erzeugte Mikroorganismen stellen eine größere Bedrohung als gentechnisch manipulierte Menschen dar, weil Menschen sich nicht schnell fortpflanzen, weil sie äußerst verletztlich und während ihrer Kindheit abhängig sind, weil sie groß und sichtbar sind und durch Waffen kontrolliert werden können. Die nächste Stufe wird in der Entscheidung liegen, wann Genprodukte von Erwachsenen bei ihnen selbst aus therapeutischen oder anderen Gründen eingesetzt werden können. Man kann sich gesellschaftliche Gefahren vorstellen, die aus der selbsterzeugten Veränderung der Gene entstehen. Daher sollten Genprodukte dieselben Test der Food and Drug Administration unterzogen werden wie Medikamente. Auf der anderen Seite bin ich für eine substantielle Liberalisierung unserer Drogen- und Medikamentengesetzgebung, was auch die Legalisierung von Narkotika und psychotropen Drogen einschließt, und ich trete auch für eine ziemlich liberale Politik gegenüber der genetischen Selbstveränderung ein.

Das wirkliche Dilemma beim Testen geht mit dem Gendesign von Kindern einher. Selbst wenn wir eine extreme marktorientierte Gesellschaft haben, die eine unkontrollierte genetische Veränderung von Eiern, Spermien und Embryonen zuläßt, bezweifle ich, daß viele Frauen die Geburt und Aufzucht von Kindern riskieren würden, für deren "Produktsicherheit" es keine Garantie gibt. Trotzdem werden wir zweifellos weiterhin streng die genetische Veränderung von Kindern kontrollieren. Die Sicherheit und Wirksamkeit von Genprodukten wird nicht nur von Eltern, sondern auch von Regierungsbehörden und Anbietern gefordert werden.

Auch wenn das einschüchternd sein sollte, so sind das viele Probleme, die sich heute auch bei Drogen und medizinischen Mitteln stellen. Mit oder ohne genetisch manipulierten Produkten gehen wir zu einer neuen technischen Bewertung medizinischer Produkte über, die den Wunsch nach einer glaubhaften Wirksamkeit und Sicherheit mit dem Bedürfnis, nützliche Therapien schnell freizugeben, und der individuellen Freiheit, seinen eigenen Körper zu kontrollieren, im Gleichgewicht halten. Genprodukte werden nur eine der Herausforderungen darstellen, denen sich unsere Kontrollverfahren stellen müssen.