Der Angriff der Digitalgeräte auf die übrigen Lernmedien

Steve Jobs Schule. Bild: Steve Jobs School, Maurice de Hond

Von "Flipped Classrooms", Mikrolernen und dem möglichen Ende der Schreibschrift

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"Wir leben in der spannendsten Zeit seit der Renaissance", sagte der Digital-Prophet und Oxford-Professor Ian Goldin unlängst auf der "Online Educa Berlin", kurz OEB, einer der weltgrößten Messen für digitale Lernmedien. Bevor wir beim Lernen zukünftig primär mit Artificial-Intelligence-Software interagieren, bevor Lerninhalte in unsere Bekleidung integriert werden ("Wearable Learning") und Roboter Lehrer abgelöst haben, ist auch ein Blick auf das, was gegenwärtig schon möglich ist, aufregend.

Im Vergleich zur Lehr- und Lernkultur vor 25 Jahren wird schnell klar, dass die Karten neu gemischt wurden: Schlagwörter wie "Collaborative Learning", "Open Educational Resources" oder "Living Content" beschreiben eine digitale Bildungsrevolution, deren Geschwindigkeit für manche viel zu schnell geht, für andere hingegen noch zu langsam.

Fest steht: Wo das Präsenzseminar durch das "Webinar" abgelöst wird, Diskussionen nicht mehr im Realraum, sondern etwa mit "Adobe Connect" stattfinden, wo die materielle Schultafel durch die virtuelle "Padlet"-Wand ersetzt wird, da verändern sich nicht zur Produktions- und Rezeptionsweisen rapide, sondern auch die Inhalte selbst.

Im "Flipped Classroom" läuft Lernen verkehrt

Das Neue kann funktionieren. Wie etwa an der Donau-Universität Krems in Niederösterreich, wo man sich zunehmend dem Ansatz des "Flipped Classrooms" verschreibt: Das eigentliche Lernen findet außerhalb der Universität statt, in der Präsenzlehre dominieren hingegen Fragen, Diskussionen, Case Studies, Kreativelemente bis hin zu Rollenspielen und Inszenierungen.

Die Studierenden arbeiten zwar noch Studienbriefe durch, aber der Wissenscheck kann am Smartphone oder Desktop geschehen: Schon vor der Präsenzlehre klicken sich die Studierenden durch digitale Wissenskarten, im Fall des Kerncurriculums eines Studiengangs über 500 an der Zahl. Die Lösung stammt vom Mikrolern-Pionier "KnowledgeFox" aus Wien und wird mittlerweile nicht nur an Universitäten, sondern auch in Unternehmen zur Weiterbildung von Mitarbeitern in 25 Ländern eingesetzt.

Der Erfolg in Krems kann sich sehen lassen: "Die Studierenden kommen seit der Einführung des Mikrolernens viel besser vorbereitet in die Präsenzlehre", sagt Studiengangleiter Peter Parycek. Eine empirische Erhebung unter den Studierenden ergab Höchstnoten: 93 Prozent der Befragten lobten die Lernunterstützung durch "KnowledgeFox"-Wissenskarten. Offenbar findet mit dem technologischen Wandel auch ein Wandel der Lerngewohnheiten statt: Interaktives Arbeiten am digitalen Endgerät schlägt das Pauken nach Skripten.

"Micro-Content" statt Info-Overkill

Während die einen hier einen Rückfall ins behavioristische "Programmierte Lernen" der sechziger und siebziger Jahre des 20. Jahrhunderts sehen, sind andere davon überzeugt, dass gerade dieses Lernen die Menschen besser vorbereitet: "Im Zeitalter von Google-Books-Snippets, Powerpoint-Bullet Points und dem schnellen Erfassen von Inhalten etwa in der Wikipedia ist es gerade der "Micro-Content", sind es diese kleinen Lerneinheiten, durch die sich neues Wissen besser und nachhaltiger in unseren Gehirnen einprägt", sagt der Multimedia-Professor Peter A. Bruck aus Salzburg unter Berufung auf Forschungen von Eric Kandel.

"Gerade durch Vernetzungen kleiner Wissenselemente entsteht Neues, wird Kreativität und Innovation gefördert", sagt Bruck. Und er liefert eine Zahl, basierend auf eigenen Erhebungen: "Wir messen bis zu 90 Prozent Reproduktionsvermögen von Lerninhalten auch drei Monate nach dem Mikrolernen." Die bekannte Vergessenskurve von Ebbinghaus wäre somit zu vergessen.

Donau Uni: Mikrolernen

Vom Ende der Schreibschrift

Aber wann und wo soll die Lernrevolution beginnen? Einen Blick in die mögliche Zukunft gestattet ein Besuch in einer der derzeit 25 "Steve Jobs Schulen" in den Niederlanden. Dort werden gerade die humanistischen Bildungsideale ausgetrieben. "Wozu brauchen wir eigentlich noch Lehrbücher? Wozu brauchen wir die Schreibschrift? Vierjährige sollten besser das Programmieren lernen, um auf die Zukunft vorbereitet zu sein", sagt Schulgründer Maurice de Hond ohne einen Anflug von Provokation.

Es ist eine andere Welt, so eine Steve Jobs School: Kein fixer Unterrichtsbeginn, keine Klassen, keine Schulbücher, ja nicht mal Schulbänke, sondern gemütliche Sofas. Alle Schüler erhalten im Alter von vier Jahren ihr eigenes iPad. Die Schreibschrift wird nicht mehr gelehrt. "Nur noch fünf Prozent der Texte, die in den Niederlanden produziert werden, sind in Schreibschrift geschrieben, 95 Prozent entstehen mit Maschinen", sagt de Hond unter Berufung auf eigene Forschungen.

Also: Schreibschrift raus aus dem Curriculum, Programmieren rein. Die Schule werde übrigens nicht von Apple, sondern von der öffentlichen Hand gefördert, sagt Maurice de Hond. Und seine eigene Tochter erhielt ihr erstes iPad mit eineinhalb Jahren…

iPads für Eineinhalbjährige?

Ein strikter Gegner solcher Schulversuche ist der österreichische Philosoph Konrad Paul Liessmann, der durch seine Streitschrift "Theorie der Unbildung" international bekannt wurde. Er kommentiert im Gespräch mit Telepolis die niederländischen Bestrebungen so:

Das iPad stellt eine Verarmung an Kulturtechniken dar. Die Welterschließung durch digitale Medien stellt eine Verarmung mehrdimensionaler Welterfahrung dar. Und die Abrichtung durch Bildmedien schon ab dem vierten Lebensjahr stellt eine Verarmung der Phantasie und damit eine empfindliche Einschränkung von Kreativität dar. Die Kontrollen, die in allen Formen digitalisierten Lernens eingebaut sind, weil sie den technischen Imperativen der Digitalisierung entsprechen, schränken die Freiheit der Lehrer und Schüler empfindlich ein.

Konrad Paul Liessmann

Wo Meinung gegen Meinung steht, bedarf es empirischer Studien ohne Bias. Doch die sind Mangelware. Warum gibt es noch keine Vergleichsgruppen mit Schülern, die in klassischen Schulen lernen und mit "Steve Jobs Schülern"? Auch in der Frage Micro- versus Macro-Content wären weitere Erhebungen dringend notwendig: Wer merkt sich Inhalte tatsächlich besser - jener, der klassisch in Print-Skripten büffelt oder jener, der mit interaktiven Wissenskarten á la "KnowledgeFox" am Smartphone, Tablet oder PC arbeitet?

Qualität von Content sichern

Wenn Fünfjährige in den Niederlanden ihre ersten Powerpoint-Präsentationen halten, stellt sich auch frühzeitig die Frage nach Original und Plagiat. Meist wird für die Thematik viel zu spät, nämlich erst am Beginn eines Universitätsstudiums, sensibilisiert. Doch auch das gehört zur digitalen Bildungsrevolution: Der Technik- und Contentwandel bedarf vor allem auch neuer Formen der Content-Qualitätssicherung.

Die Werkzeugpaletten der führenden Plagiatssoftware-Lösungen, wie etwa "Turnitin", gehen längst über den bloßen Abgleich mit Millionen von Dokumenten - "Turnitin" gibt eine Zahl von 51 Millionen an - hinaus: Sie ermöglichen den Lehrenden zunehmend auch die digitale Korrektur von Content und die Unterstützung bei der Beurteilung.

Der Markt ist ständig in Bewegung: Ein neuer Anbieter, "Unplag" aus der Ukraine, kündigt etwa für 2016 Großes an: Sie wollen die ersten sein, die kostenlos eine Plagiatssuche mit Google Books ermöglichen. "Wir haben im November eine positive Antwort vom Google API-Team erhalten", sagt Unplag-Manager Ivan Klymenko: "Plagiatssuche mit Unplag in der Google Buchsuche wird für jeden in der Welt gratis sein." Dabei geht es um immerhin 25 Millionen eingescannter Werke, Stand Oktober 2015.

Der führende deutsche Anbieter "PlagScan" aus Köln will hier nun nachziehen. Auch er kündigt für 2016 Innovationen an, wie etwa die automatische Generierung eines "Plagiats-Strichcodes", wie er seit dem Fall Guttenberg in Plagiatswikis wie etwa VroniPlag eingesetzt wird.

Es geht um "Employability"

"Problemlösungsvermögen statt reines Faktenwissen", ist das Credo von Schul-Innovator Maurice de Hond. "Kreative Vernetzung von Wissenselementen statt lineares Auswendiglernen", sagt Mikrolern-Pionier Peter A. Bruck. Letztlich geht es wohl für alle um das Schlagwort "Employability", für Holtzbrinck-Digital-Chef Michael Hock, der derzeit ebenfalls kräftig in digitale Lern-Unternehmen investiert, die entscheidende Kategorie: Fitness für den Arbeitsmarkt.

Da ist der klassische Bildungskanon - bestehend aus der Geschichtskenntnis und dem Geschichtsbewusstsein, dem Theorie- und Kontextualisierungswissen, der Kenntnis der Klassiker der Literatur, aber auch den "alten" Kulturtechniken wie etwa der Schreibschrift - nicht mehr zentral. Problemlösungskompetenz, Kreativität, Innovation, Vernetzung - das sind die neuen Tugenden. Und die werden eben zunehmend multimedial (etwa in "MOOCs", Massive Open Online Courses), interaktiv (wie im Mikrolernen) und selbststeuernd (wie in den "Steve Jobs Schulen") vermittelt.

Stefan Weber ist Dozent der Kommunikationswissenschaft und tätig als Plagiatsgutachter.