Der Gen-Therapie-Boom kommt erst
In den USA traf sich die Elite der Human-Genetiker, um sich über die neuesten Erkenntnisse ihrer Wissenschaft auszutauschen
Gelegenheit für einen Blick auf den aktuellen Forschungsstand, der auch auf einem Kongress in Wien diskutiert wurde
Beim "51st Annual Meeting of the American Society of Human Genetics" (ASHG) trafen sich Experten aus der ganzen Welt, um in San Diego ihre Forschungsergebnisse vorzustellen.
Die Genetiker sind sich sicher, dass der Boom der Gen-Therapien noch bevor steht. Die nächsten zehn Jahre werden große Veränderungen in der Medizin bringen, gezielte Eingriffe in das Erbmaterial eröffnen zunehmend neue Behandlungsmöglichkeiten. Robert Desnick von der Gene Therapy and Molecular Medicine der Mount Sinai School of Medicine in New York stellte auf dem Kongress die Auffassung fest, dass zwar dieses Jahr nur 60 der insgesamt 1000 eingereichten Abstracts Gen-Therapie zum Inhalt hatten, aber immerhin sei dieser Bereich im Gegensatz zu den vergangenen Jahren ein eigener Programmpunkt und würde mit Sicherheit zügig ausgebaut. Die meisten Verfahren sind noch experimentell.
Der Tod des 18jährigen Jesse Gelsinger, der 1999 durch eine vehemente Immunreaktion verstarb, während er an einer Testreihe mit genveränderten Viren (Vgl. HIV als Hoffnung für Krebs-Patienten) zur Behandlung von Lebererkrankungen teilnahm, war ein harter Rückschlag für viele Zulassungsverfahren. Nicht viele Anträge wurden genehmigt, es gibt aber einige Anzeichen, dass sich das langsam ändert. Vier Gen-Therapien sind zurzeit in der klinischen Erprobungsphase. Kürzlich ließ die Europäische Union eine Protein-Ersatz-Therapie für die Fabry-Krankheit) zu und wahrscheinlich wird sich die amerikanische Food and Drug Administration (FDA) dieser Entscheidung anschließen.
Gen-Diagnostik
Aus Europa kamen kritischere Töne, als sich ebenfalls in diesem Jahr mehr als 3000 Genexperten aus 99 Ländern zum "10th International Congress of Human Genetics 2001" in Wien trafen. Sie forderten, dass mit Gen-Diagnostik und -Therapie sehr achtsam umgegangen werden müsse. Ihr Fazit lautete, dass die Zulassung genetischer Tests nicht von kommerziellem Druck oder öffentlichen Vorlieben gesteuert sein sollte. Die Fachgesellschaft European Society of Human Genetics (ESHG) legte anlässlich der Tagung das Papier: "Empfehlungen zu genetischen Screening-Programmen für die Bevölkerung vor". Der ESHG -Vorsitzende Ségolène Aymé kommentierte die Empfehlungen:
Es ist nicht akzeptabel, dass Unternehmen oder andere Organisationen jedermann genetisches Screening anbieten. Genetische Tests können sehr nützlich sein, wenn damit die Veranlagung für bestimmte Erkrankungen frühzeitig erkannt wird. Doch können sie auch nachteilige Auswirkungen haben. So gibt es vielfach noch keine Therapie oder vorbeugende Maßnahmen für Erkrankungen, die diagnostiziert werden können. Auch könnten die Ergebnisse solcher Tests falsch interpretiert werden. Eine Missbrauchsgefahr stellt soziale Ausgrenzung dar.
Der Gendiagnostik sollte immer eine ausführliche Aufklärung des Patienten voran gehen, um mit ihm Sinn und Zweck sowie die Risiken zu klären. Die Experten sind der Meinung, dass die Tests nicht einfach frei verfügbar sein sollten, sondern ähnlich gehandhabt werden sollten wie verschreibungspflichtige Medikamente, d.h. der beratende Arzt trägt einen Teil der Verantwortung. Außerdem empfiehlt die ESHG in jedem Land Europas eine Institution einzurichten, die sicher stellen soll, dass genetische Tests geprüft und korrekt angewandt werden. Diese Stelle soll auch die Qualität der Testmethode überprüfen, die Schulung von entsprechenden Fachleuten überwachen und über Gen-Tests auf persönlicher Ebene beraten. Eine unabhängige, internationale Koordinationsstelle sollte zudem geschaffen werden.
Die Diskrepanz zwischen der Wahrnehmung der Gen-Forschung zwischen der Bevölkerung und den professionelle Genetikern zeigt eine auf dem Kongress vorgestellte Studie des internationalen Teams um Dorothy Wertz von der Medizinischen Fakultät der University of Massachusetts. 1'400 Personen in den USA, Deutschland und Frankreich wurden nach ihren Ansichten gefragt und es ergab sich, dass die meisten Patienten denken, es sollte für sie möglich sein, ihre ungeborenen Kinder auf "Geburtsfehler" zu testen und ihr Geschlecht zu bestimmen. Mehr als 88% der Deutschen, 93% der Amerikaner und 97% der Franzosen möchten, dass Eltern ihre Kinder auf Anfälligkeit für Brustkrebs testen können. Viele von ihnen (jeweils 34%, 63% und 45% ) glauben, dass es für Eltern ermöglicht werden sollte, ihre Kinder auf Krankheiten zu testen, die weder verhindert werden können noch heilbar sind. "Das heißt nicht, dass sie diese Tests machen würden", erläuterte Wertz die Ergebnisse, "sie möchten nur das Recht dazu haben." Überrascht waren die Wissenschaftler von der Meinung der meisten Eltern, dass Schulen und Schulsysteme die Ergebnisse der Gentests ihrer Sprösslinge kennen sollten, wenn ein Kind z.B. eine Tendenz zu asozialem Verhalten zeigen. "Genetiker haben immer betont, dass dies zur Stigmatisierung des Kindes führen würde", meinte Wertz, "aber die Eltern sagen, es würde dem Kind helfen. Sie wollen sich mit den Lehrern zusammensetzen und den besten Weg ausarbeiten, um dem Kind zu helfen - und das kann nur geschehen, wenn die Information geteilt wird."
Gen-Patente
Debattiert wurde in Wien auch über die Patentierung von Genen. Hier stehen sich inzwischen öffentliche Meinung und Absicherungsanspruch der Industrie oft kontrovers gegenüber. "Es gibt keinen Grund, eine genetische Sequenz nicht zu patentieren. Wichtig ist, was ein Unternehmen oder ein Forscher mit seiner Entdeckung macht," meinte Alaistair Kent, Direktor von Genetic Interest Group (GIG), der internationalen Dachorganisation von Selbsthilfegruppen für Erbkrankheiten. Ein Patent ist eine Art sozialer Vertrag zwischen Gesellschaft und Entdecker, der auch verpflichte. Das intellektuelle Eigentum und sein Schutz sind wichtig, weil sonst keine industriell finanzierte Forschung mehr stattfindet, aber die Interessen der Öffentlichkeit können auch nicht einfach weg gewischt werden. Das Beispiel der Pharmaunternehmen und der Prozess um die AIDS-Medikamente in Südafrika (Vgl AIDS in Afrika) zeigt, dass die Firmen letztlich in jedem Fall auf öffentliche Zustimmung angewiesen sind. Auch die Organisation for Economic Cooperation and Development (OECD) erarbeitet eine Studie zum Problemkreis Genomics und Patente, sie hält eine breite öffentliche Debatte dazu für unverzichtbar.
Auch der Kongress in San Diego diskutierte die Frage der Gen-Patente kontrovers. Noch gibt es in den USA die Möglichkeit, sich humane DNS patentieren zu lassen, aber es gibt Forscher, die überzeugt sind, dass die biotechnischen Firmen, die auf diese Patente vertrauen, bald ohne Geschäftsgrundlage dastehen könnten. So besitzt die Firma Myriad Genetics in Salt Lake City ein Patent auf ein Gen namens BRCA1, das mit Brustkrebs verbunden ist und sie vertreten die Auffassung, dass nur sie das Recht haben, entsprechende Tests für Brustkrebs zu verkaufen. Dem steht ein Anspruch des Institut Pasteur gegenüber, denn die französischen Wissenschaftler haben ebenfalls eine Mutation auf BRCA1 entdeckt und argumentieren, selbiges falle nicht unter das Patent. Außerdem verweisen sie darauf, dass die tatsächlich von Myriad patentierte Gen-Sequenz nicht stimmte und insgesamt auf den Informationen des durch öffentliche Gelder finanzierten Human Genome Projects beruhe.
Lori Andrews, Direktor des Institute of Science, Law and Technology am Chicago Kent College of Law referierte auf dem Kongress, dass zwar noch kein Gericht in den USA die Klage angenommen hätte, es aber im US-Kongress bereits Tendenzen gebe, die bisherige Politik der Gen-Patentierungen zu überdenken. Die Europäische Union erwäge ebenfalls neue Rahmenrichtlinien zu setzen, damit Gen-Patente widerrufen werden können, wenn sich herausstellt, dass sie gegen das öffentliche Interesse verstoßen. Das könnte ein riesiges Problem für Firmen wie Myriad, Human Genome Sciences, Incyte Genomics und andere werden, die ihren Wert auf diese Patente gründen.
Rassismus und Gene
Deutlich lehnten die in Österreich tagenden Wissenschaftler auch mögliche rassistische Tendenzen ab, die zur Widerauflage der eugenischen Politik der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts führen könnte. Derartige Tendenzen sind in den Programmen einiger rechts-extremen Gruppierungen in Europa zu finden. Prof. Gerd Utermann von der Österreichische Gesellschaft für Humangenetik formulierte die allgemein geteilte Position: "Humangenetische Forschung zielt auf ein grundlegendes Verständnis unserer biologischen Natur und unserer Herkunft ab. Die Wissenschaft der Genetik kann niemals dazu dienen, Rassismus zu legitimieren. Tatsächlich fordert die Genetik dazu heraus, den Begriff "Rasse" infrage zu stellen."
Dass es "völkische" Gen-Identitäten gibt, haben die Genetiker inzwischen deutlich widerlegt. Prof. Bryan Sykes von der Universität Oxford, einer der international renommiertesten Gen-Forscher, stellte auf dem Kongress fest, dass die individuellen Unterschiede größer sind, als die Gemeinsamkeiten von Nationen:
Es gibt kein Volk, das genetisch homogen ist. Wenn wir uns fragen, wer wir als Europäer sind, dann kann fest gestellt werden, dass 95 Prozent der Menschen von sieben Müttern ab stammen. Das ergibt die Analyse der nur durch Mütter vererbten DNS der Mitochondrien. Es gibt kein Gen, das eine Einteilung der Menschheit in Gruppen erlaubt. Es gibt letztlich nur das Individuum.
Tatsächlich lehrt uns das Humangenom, dass zwei zufällig aus der 6 Milliarden umfassenden Erdbevölkerung ausgewählte Personen sich in mindestens einer von 1000 Basen unterscheiden. Aber die meisten dieser genetischen Unterschiede sind gar nicht sichtbar.
HIV und Pest
In San Diego berichteten Wissenschaftler vom National Cancer Institute (NCI) über eine Gen-Mutation, die gegen HIV resistent macht und wahrscheinlich seine Träger bereits im Mittelalter vor der Pest schützte. Es ist eine Veränderung auf dem Gen CCR5 (auf das die Firma Human Genome Sciences ein Patent beantragt hat), dass nach neuen Ergebnissen bei Vererbung von beiden Elternteilen eine HIV-Infektion verhindert. Wenn es nur von einem Elternteil vererbt wird, verzögert es den Ausbruch von AIDS durchschnittlich um drei Jahre. Hochrechungen hatten schon gezeigt, dass diese Gen-Mutation für eine Verlangsamung der AIDS-Sterblichkeitsrate sorgen könnte (Vgl. AIDS ist ein globales Problem). In Skandinavien haben 15% der Bevölkerung diese Veränderung auf Gen CCR5, in Mitteleuropa etwa 10%, in Südeuropa 5%, in Afrika und Ost-Asien kommt sie gar nicht vor. Diese Unterschiede sind nicht zufällig, sondern Folge einer dramatischen genetischen Selektion. Davon ist Stephen O'Brien, Chef des Laboratory of Genomic Diversity beim National Cancer Institute überzeugt. Sein Team entdeckte, dass die Mutation vor ungefähr 700 Jahren stark selektiert wurde - und das war genau die Zeit, als der schwarze Tod durch Europa zog und die Menschen wie die Fliegen sterben ließ. Wer den Gen-Defekt hatte, war besser geschützt und überlebte die Pest-Epidemie, um die Mutation an seine Erben weiterzugeben. Wissenschaftler vom Institut Pasteur in Paris wollen die Hypothese der Amerikaner jetzt überprüfen, indem sie entsprechend mutierte Mäuse mit der Pest infizieren.
Aids-Experten versuchen nun mit dem neuen Wissen entsprechende HIV-Wirkstoffe zu entwickeln. Die Idee ist, einen Hemmer des normalen CCR5-Moleküls als Medikament einzusetzen, der dann wie die Gen-Mutation vor der Infektion schützen soll.