Der Kampf um Manbij

Die Interessen der Kurden, der Türkei und des IS

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Seit Anfang Juni 2016 dauert die Offensive der Demokratischen Kräfte Syriens SDF auf die vom IS besetzte Stadt Manbij (kurdisch: Minbic) an. Von Tişrin aus rückten die Einheiten der SDF, unterstützt von Luftschlägen der Koalition, vor und es gelang ihnen, Manbij vollkommen einzuschließen. Haus für Haus, Viertel für Viertel wird intensiv um die Stadt gekämpft.

Manbij stellt traditionell, wie viele andere Städte Nordsyriens, eine multikulturelle und multiethnische Stadt dar. Die Geschichte der Stadt reicht bis weit in die Antike zurück. Vor dem Krieg zählte die Bevölkerung mehr als 120.000 Einwohnerinnen und Einwohner. Etwa ein Drittel der Bevölkerung bestand aus Kurden, der Großteil der Bevölkerung ist arabisch. Hinzu kommen Suryoye, Tscherkessen und Turkmenen. Nach einem Zensus von 2004 lebten zu diesem Zeitpunkt etwa 400.000 Menschen im Kreis Manbij. Etwa zwei Drittel der Bevölkerung aus der Region Manbij sind geflohen.

Manbij. Screenshot aus einem Video zur Offensive

Der Ort hat neben seiner wirtschaftlichen Bedeutung vor allem eine große strategische Relevanz als Versorgungslinie des IS aus der Türkei. Wie auch der Sprecher der US geführten Koalition, Colonel Christopher Garver, betont:

Zur Frage warum die Region Manbij so wichtig ist: Sie stellt den Hauptgrenzübertrittspunkt dar, an dem ausländische Kämpfer von der Türkei aus nach Syrien einreisen.

Manbij ist der letzte Ort, der die Hauptstadt des IS, Raqqa, mit der Türkei - via den Grenzübergang Jarabulus (kurdisch: Cerablus) - verbindet. Zuvor war mit der Befreiung von Tell Abyad von der Herrschaft des IS eine weitere wichtige Verbindungslinie weggefallen. Wie zuvor Tell Abyad stellte Manbij bis in die jüngste Vergangenheit einen wichtigen Knotenpunkt dar, über den der Handel des IS mit geraubten Antiquitäten und Öl aus dem Irak und Syrien in die Türkei stattfindet und hat daher eine hohe strategische Relevanz für den IS wie auch für die türkische Interessenspolitik in Syrien (vgl. Was ist dran an den russischen Vorwürfen zum IS-Öl-Schmuggel via Türkei?).

Die Offensive der Syrisch Demokratischen Kräfte (SDF) und die IS-Milizen

Die Offensive der SDF wird vom neu gegründeten Militärrat von Manbij (MMC) angeführt. Der Militärrat von Manbij gründete sich am 2. April dieses Jahres aus den Gruppen Einheit der Euphrat Brigaden, den Turkmenen von Manbij, Shems El-Shemal und Siwar Manbij. Die Führung der Offensive wurde diesen lokalen Strukturen aus Manbij übergeben.

Bezeichnend ist die Benennung der Offensive nach dem SDF Kommandanten Abu Leyla aus Manbij. Abu Leyla war Gründer der Katib Shams ash-Shamal, die Teil der FSA war. Seine Einheit nahm am Widerstand in Kobanê teil und er wurde zum Mitbegründer der SDF und zur integrativen Figur für die verschiedenen Ethnizitäten und politischen Fraktion in der Region mit seinem Credo, nicht für eine Ethnie, sondern für ein demokratisches Syrien zu kämpfen.

Der Vormarsch auf Manbij geht langsam voran, da IS-Milizen die Zivilbevölkerung als Schutzschild verwenden: "Die Anwesenheit von Zivilisten und unsere Sorge um die Sicherheit dieser Familien drängen uns dazu, geduldig bei der Eroberung der terroristischen Zentren innerhalb der Stadt zu sein." Daher dauert die Auseinandersetzung um diese Stadt schon mehr als einen Monat an und hat sich in einen Häuserkampf verwandelt.

Der IS scheint außerdem die Taktik zu verfolgen, Gebäude systematisch zu verminen zu und ferngesteuerte Drohnen zur Aufklärung einzusetzen. Diese sollen dazu dienen, Stellungen der SDF zu orten und die entsprechenden Gebäude zu sprengen. So wurden in dem am 10. Juli zu etwa 85 Prozent befreiten Stadtviertel Hezawne bisher angeblich 126 Minen entschärft.

Während im Kampf außerhalb der Städte die Luftunterstützung der internationalen Koalition eine größere Rolle zu spielen scheint, sind die SDF und der MMC in Manbij weitgehend auf sich allein gestellt. Ein entscheidender Erfolg gelang, als der für die "Innere Sicherheit" verantwortliche Befehlshaber des IS von Manbij am 10. Juli durch die SDF getötet wurde.

Politische Pläne nach der Befreiung

Immer wieder machen die SDF und der MMC deutlich, dass es nicht ihr Ziel sei, die Stadt zu erobern und sie zu besetzen, sondern sie zu befreien und anschließend der Selbstverwaltung ihrer Bewohner zu übergeben (Manbij: Was kommt nach dem Erfolg der SDF?). In diesem Sinne rief der neugegründete Stadtrat von Manbij die Bevölkerung zum Bleiben auf.

Der Sprecher der SDF, Shervan Dervish, erklärte gegenüber Al-Monitor:

Am Tag nach der Befreiung von Manbij, wird unsere Mission darauf beschränkt sein, die Stadt zu schützen. Wir werden unsere Operationen auf die militärischen Fronten beschränken. Manbij wird vollständig einer zivilen Verwaltung übergeben werden, die den Auftrag zur Kommunikation mit allen Beteiligten der Stadt haben wird, um mit Einbeziehung ihrer politischen, sozialen und tribalen Vertreter einen lokalen Rat zu bilden.

Dass dieser Ansatz auch in einer mehrheitlich arabisch bewohnten Region funktionieren kann, hat die Selbstverwaltung von Tell Abyad (kurdisch: Gire Sipi) gezeigt. Hier verwaltet ein ebensolcher multiethnischer und multiidentitärer Rat die Stadt, während sich eine demokratische Selbstverwaltung an der Basis in Form von Räten zu formieren beginnt.

Dieser Prozess der Selbstorganisierung hat in den befreiten Gebieten, wie in Arfed bei Shehba, im Westen des Korridors, aber auch in Vororten von Manbij begonnen. Die ersten Räte aus Vertretern der lokalen Bevölkerung haben dort bereits begonnen, eine Übergangsverwaltung zu bilden.

Heci Elrebi vom Zivilen Rat von Manbij erklärte dazu gegenüber ANHA:

Gemeinsam mit der Säuberung der Dörfer von Manbij von den Banden durch den MMC, wurde vom zivilen Rat damit begonnen, die Dienstleistungen für die Bevölkerung zu erfüllen. Es wurden zwei Zentren eingerichtet, eines im Dorf Elhei im Osten von Manbij, ein anderes im Viertel Ebu Qelqel. Die beiden Zentren wurden von elf Personen umfassenden Komitees ins Leben gerufen.

So wurden in den Dörfern zwei Großbäckereien in Betrieb genommen, in denen nun täglich 8t Brot produziert wird. Weiterhin werden täglich 3000 Säcke Brot aus Kobanê in die Region geschickt. Ein ähnliches Vorgehen findet auch bei der Versorgung mit Brennstoffen statt. Gemüse und Obst wird ebenso verteilt, das Strom- und Wassernetz wird trotz aller Beschwernisse nach Angaben des Zivilen Rates rekonstruiert. Allerdings wird die Arbeit stark durch die massive Verminung der Region behindert.

Flucht aus Manbij

Während der IS versucht, die Zivilisten in der Stadt an der Flucht zu hindern, gelingt dennoch Tausenden die Flucht in die befreiten Gebiete. Personen, die vom IS auf der Flucht aufgegriffen werden, werden umgebracht. So wurden Anfang Juli 40 Zivilpersonen, die aus der vom IS kontrollierten Stadt Um al Housh geflohen waren, vom IS ermordet. Der lokale Medienaktivist Salem Hamdan erklärte gegenüber ARA News:

Die ISIS-Terroristen haben sie gnadenlos am Ortseingang abgeschlachtet und die Bewohner bedroht, ihnen würde eine ähnliche Bestrafung widerfahren, sollten sie den Ort ohne Erlaubnis verlassen.

Geflüchtete werden von den MMC und der SDF erstversorgt und dann von den zivilen Strukturen unterstützt. Insbesondere der Kanton Afrin hat viele zehntausend Geflüchtete aufgenommen und versorgt diese, trotz Embargos seitens der Türkei, aus eigenen Mitteln. Insbesondere sind immer wieder Berichte und Bilder zu sehen, wie Frauen und Mädchen sich die vom IS aufgezwungene Vollverschleierung vom Leib reißen. Die wiedereröffneten Märkte mit Makeup und bunter Kleidung werden trotz der Lage stark besucht. Zu einem Symbolbild in den sozialen Medien ist eine ältere Frau geworden, die feiert, endlich wieder "Rot" tragen zu können.

Entscheidend beim Vorgehen im Korridor zwischen Kobanê und Afrin ist, der arabischen und turkmenischen Bevölkerung deutlich zu machen, dass einer Befreiung durch den IS keine "kurdische Besatzung" mit "ethnischen Säuberungen" folgt. Dies wurde in den Darstellungen der Türkei immer wieder von der Region um Tall Abyad behauptet.

Der Korridor zwischen Afrin und Kobanê stellt für die Türkei eine zentrale Route des eigenen Einflusses in die Region dar. Zur Durchsetzung dieses Einflusses werden turkmenische Milizen, aber auch das dschihadistische Bündnis Jaisch Al Fatah benutzt.

Die Interessen der Türkei

Trotz der außenpolitischen Kehrtwende der Türkei in ihrer Politik gegenüber Russland und den USA bzw. Israel hat sich die Haltung der Türkei gegenüber Rojava nicht geändert. Die Zusammenarbeit mit Dschihadisten zur Bekämpfung der kurdischen Befreiungsbewegung scheint auch nach dem Anschlag auf den Atatürk Flughafen in Istanbul, vermutlich durch eine IS-Einheit, ungebrochen weiterzugehen. Der Anschlag in Istanbul kann als eine Warnung des in der Türkei tief mit dem Staat vernetzten IS verstanden werden. Wo seine Prioritäten liegen, machte der Präsident Erdogan nach dem Anschlag in Ankara deutlich, als er in einer Rede am 2. Juli sagte:

Wir haben die gleiche Position, wie vor sechs Jahren. Ein PYD-Terrorist ist ein viel gefährlicherer Terrorist als ein IS-Terrorist.

Gerade Manbij hat für den IS wie für die Türkei eine hohe Bedeutung. Manbij zu befreien, stellt einen Schlag gegen das ökonomische Beziehungsnetzwerk der Türkei mit dschihadistischen Gruppen dar - inklusive des IS, wie manche sagen. Demnach häufen sich die Hinweise darauf, dass der IS in Manbij mit Hilfe der Türkei agiert.

Eine Kampagne von Entlastungsangriffen für den IS erfolgte nach Angaben von SDF nahen Quellen durch Dschihadisten, welche aus der Türkei bei Jarabulus über die Grenze gebracht worden waren. Zuvor seien vom türkischen Militär die Minen an der Grenze geräumt worden, bevor hunderte türkische, tschetschenische und afghanische Dschihadisten die Grenze überquerten.

Bei der Befreiung von Manbij werden immer wieder neue Dokumente gefunden, welche augenscheinlich den offiziellen Grenzverkehr zwischen der Türkei und dem IS zu belegen scheinen. Weiterhin haben Ahrar al Sham, vor allem von Saudi-Arabien und Türkei gestützt, und Jabhat al Nusra (Al Qaida) die Angriffe in Azaz eingestellt und sind dem IS, mit dem sie in einer immer wieder in offener Feindschaft auftretenden Beziehung stehen, zur Hilfe geeilt. Das gleiche scheint für Kräfte von ETILAF, der angeblich moderaten Opposition, zu gelten, die sich an dem Angriff von drei Seiten auf den Belagerungsring um Manbij zur Entlastung des IS beteiligt haben.

Unter Vermittlung der Türkei sei nach Angaben der Nachrichtenagentur DIHA ein Waffenstillstand zwischen diesen Gruppen und dem IS ausgehandelt worden. Hinzu kommen die massiven Angriffe des türkischen Militärs auf die Region Tell Abyad (Gire Spi). Bei der Bombardierung der zivilen Ansiedlungen durch türkisches Militär über die Grenze hinweg kamen in letzten Wochen etliche Zivilpersonen ums Leben. Dutzende wurden verletzt oder verstümmelt. Sowohl unter den Getöteten, als auch unter den Verletzten befinden sich Kinder.

Sollte es wirklich zu einem solchen Waffenstand gekommen sein, so trägt dieser die deutliche Handschrift der türkischen Machtinteressen in der Region. Die koordinierten Angriffe von Dschihadisten innerhalb und außerhalb von ETILAF weisen darauf hin. Auch Amnesty International hat die Kriegsverbrechen von ETILAF nahestehenden Gruppen wie Nour Edin Zenki angeklagt.

Türkei, Russland und die Kurden

Die öffentliche Neupositionierung der türkischen Regierung in Bezug auf Russland und USA/Israel wird von der kurdischen Bewegung als ein Zeichen der Schwäche der türkischen Regierung betrachtet, die offensichtlich nicht in der Lage zu sein scheint, den Vormarsch der SDF entlang der syrisch/türkischen Grenze zu stoppen. Ein ehemaliger türkischer Diplomat wird von ARA News dazu folgendermaßen zitiert:

Erdogan hat möglicherweise den Druck, welche die internationalen Klagen gegen ihn aufbauen, gespürt und damit die Notwendigkeit nach 14 Jahren an der Macht gelernt, die Regeln des Spiels endlich selbst zu lernen.

Sicherlich versucht die Türkei, Russland gegen die Kurden auszuspielen. Ob dies der Türkei gelingen wird, ist fraglich. Gefährlich kann allerdings eine mögliche Verständigung der Türkei und der Assad-Regierung gegen Rojava sein. Ansätze dieser Entwicklung zeigten sich bereits bei Offensiven in Aleppo.

Während die Kämpfe um Manbij noch laufen, bereiten sich die SDF schon zum Angriff auf das letzte große IS-Zentrum zwischen Kobane und Afrin vor - die Offensive auf Al Bab.