Der Krieg der Türkei und Europas Schweigen

Seite 2: Mörderische Repressionswelle und das Schweigen der EU

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Um es ganz klar auszusprechen, der türkische Staat hat im Südosten des Landes einen regelrechten Krieg entfacht, bei dem ganze Städte durch Panzer- und Artilleriebeschuss zu Trümmerlandschaften zerschossen werden und die Einwohner als Freiwild der türkischen Soldateska gelten, wie unter Lebensgefahr aufgenommene Videos nahelegen.

Selbst Human Rights Watch berichtet inzwischen von "Dutzenden von getöteten Zivilisten", während eine türkische NGO den Tod von 44 Kindern bei dieser jüngsten Repressionswelle beklagt. Von den staatlichen Killertruppen erschossene Zivilisten müssen oftmals tagelang auf den Straßen liegen bleiben, da diese alles abknallen, was sich auf den Straßen bewegt - von Säuglingen bis zu alten Greisen.

Die Städte der Türkei haben sich in "Kriegszonen" verwandelt, berichtete auch das Wall Street Journal. Während der türkische Staat einen offenen Terrorfeldzug gegen die eigene Bevölkerung führt, gilt die PKK - deren Kämpfer maßgeblich an der Rettung der Jesiden vor den Klerikalfaschisten des Islamischen Staats beteiligt waren - weiterhin im Westen als "Terrororganisation".

Und abermals schweigen die Verbündeten in der "westlichen Wertegemeinschaft" des geschätzten "NATO-Partners" Türkei zu diesem sich entfaltenden staatlichen Massenmord, dem in kürzester Zeit Hunderte von Menschen zum Opfer fielen. Während deutsche Regierungspolitiker noch vor gut zwei Jahren jeden von ukrainischen Sicherheitskräften zusammengeschlagenen Neonazi hysterisch skandalisierten, als die prowestliche "Opposition" in Kiew einen veritablen Regierungssturz organisierte ("Ukraine über Alles!"), herrscht nun in Berlin absolute Funkstille.

Die professionellen Menschenrechtskämpfer im Umfeld der deutschen Außenpolitik scheinen alle in die Weihnachtsferien abgetaucht zu sein, während der frisch gebackene EU-Beitrittskandidat eine mörderische Repressionswelle im Südosten des Landes entfacht.

Das Kalkül Erdogans

Das Kalkül Erdogans bei seiner mörderischen Eskalationsstrategie, bei der mehrere Waffenstillstandsangebote der PKK ausgeschlagen wurden, ist eindeutig. In der Gewalt gegen die Kurden der Türkei entlädt sich der Frust Ankaras über die spektakulär gescheiterte imperiale Strategie der inzwischen weitgehend islamisierten Türkei, die in die Fußstapfen des ottomanischen Imperiums treten wollte.

Die von der Türkei unterstützten Bürgerkriegsparteien in Syrien - sowohl der Islamische Staat wie die Islamisten im Westen des Landes - befinden sich in der Defensive, während der als Kompensation gedachte militärische Vorstoß in den Irak nach kurzer Zeit kläglich scheiterte.

Mehr noch: der sich nun abzeichnende Sieg der syrischen Kurden und verbündeter Gruppen gegen den Islamischen Staat scheint ein Albtraumszenario Erdogans wahr werden zu lassen: Anstatt seines geopolitischen Traums von einer islamistischen Großtürkei könnte sich im Gefolge des Syrienkrieges eine selbstverwaltete und basisdemokratische Region an der türkischen Südgrenze etablieren, die auch auf sein zusehends autoritär geführtes Reich ausstrahlen würde.

Sobald die mit den Kurden verbündeten Demokratischen Kräfte Syriens den Korridor an der türkischen Grenze blockieren (Erfolg der Kurden gegen den IS stört türkische Interessen), den Ankara bislang dem Islamischen Staat offen hielt, sind die Tage des Kalifen von Raqqa und seiner klerikalfaschistischen Terrorbanden gezählt.

Zudem will Erdogan die Kurden der Türkei in die Knie zwingen, bevor diese nennenswerte militärische Unterstützung erhalten könnten - etwa in Form russischer avancierter panzerbrechender Waffen. Der russisch-türkische Konflikt eröffnet Moskau die Option, Ankara vermittels massiver militärischer Unterstützung der Kurden unter Druck zu setzen.

Der Kreml hat bereits eine rasche Annäherung an die Kurden eingeleitet, die Erdogan "verschrecken" müsse, so Sputniknews. Moskau könnte der PKK das russische Äquivalent der amerikanischen TOW-Systeme liefern, die den Vormarsch der Regimestreitkräfte in Syrien so massiv behindern.

Und schließlich geht es Erdogan auch um eine konkrete militärische Entlastung seiner islamistischen und dschihadistischen Verbündeten in Syrien, indem die PKK in einen langwierigen Konflikt mit dem türkischen Staat verwickelt werden soll, der die Guerilla zwingen würde, ihre auf die Bekämpfung des Islamischen Staates konzentrierten Kräfte zu spalten.

Mit dem Terrorfeldzug will Ankara somit die PKK auch zu Verzweiflungstaten provozieren, zu Terrorakten auf türkischem Territorium, um die Mär von den kurdischen "Terroristen" weiter aufrechterhalten zu können.

Bislang sind aber nur kurdische Splittergruppen, die keine organisatorische Verbindung mit der PKK haben, dem türkischen Staat auf den Leim gegangen. Die "Freiheitsfalken Kurdistans" sollen einen terroristischen Mörserangriff auf den Flughafen von Istanbul durchgeführt haben, bei dem eine Putzfrau getötet wurde.

Rache nach der Wahlniederlage

Nach Innen geht es Erdogan darum, die Kurden für die Wahlniederlage zu bestrafen, die er Mitte 2015 erlitt. Frieden lohnt sich für die AKP nicht. Der Aufstieg der Kurdenpartei HDP, die vom Friedensprozess an den Wahlurnen mehr profitierte als Erdogans AKP, verleitete die türkischen Islamisten erst zu ihrer Eskalationsstrategie, die in Wechselwirkung mit den massenmörderischen Bombenanschlägen gegen die Opposition in Ankara das gewünschte Wahlergebnis bei der Neuwahl zeitigte.

Die Neuauflage des Krieges und der Bombenterror, der sich ausschließlich gegen die linke Opposition richtete, haben der als Partei der Ordnung auftretenden AKP die verunsicherten Wähler zurückgetrieben.

Es war nicht nur die linke Kurdenpartei HDP, deren Wahlerfolg der AKP im Juni 2015 die absolute Mehrheit nahm. Auch die ordinär faschistische MHP konnte im ersten Wahlgang erheblich Stimmenzugewinne verzeichnen - sie wurde mit 16,6 Prozent drittstärkste Kraft.

In dieser Partei sammelten sich all jene rechtsextremen Kräfte, die es Erdogan nicht verzeihen konnten, dass er überhaupt einen Friedensprozess mit den Kurden einleitete. Mittels der Neuauflage des Bürgerkrieges konnte die MHP bei der Parlamentswahl im November auf 11,9 Prozent gedrückt werden.

Somit hofft Erdogan, mit dem Feldzug gegen die Kurden die inneren Widersprüche innerhalb der türkischen Machtstrukturen zu überbrücken, indem Islamismus und türkischer Nationalismus in einer kriegsbedingten Fusion aufgehen: Es ist nicht übertreiben, hierbei von der Ausformung einer klerikalfaschistischen oder islamofaschistischen Staatsideologie und Praxis zu sprechen. Der Krieg soll die Reihen innerhalb durch interne Machtkämpfe zerrütteten türkischen Machtapparats schließen.

Nicht minder ekelhaft ist das Kalkül Europas, das insbesondere die europäische "Führungsmacht" Deutschland zu ihrem eisigen Schweigen über den Terrorfeldzug Erdogans verleitet. Die Türkei soll die Flüchtlingsströme Richtung BRD eindämmen, die Erdogan bewusst als Druckmittel einsetzte, um Berlin und Brüssel Zugeständnisse abzupressen.

Mit Erfolg: Angela Merkel engagierte sich schon während des Wahlkampfes de facto als Wahlkampfhelferin Erdogans, als sie kurz vor dem Urnengang dem türkischen Staatschef ihre Aufwartung machte, um ihm Milliardensummen für die Flüchtlingsabwehr und eine erneute EU-Beitrittsperspektive zu versprechen.

Offensichtlich wurde dabei auch vereinbart, dass Berlin und Brüssel die Augen fest verschließen, wenn die türkischen "Sicherheitskräfte" ihre Strafexpedition in die Kurdengebiete starten.