Der Krieg in der Ukraine und die Sicherheit Europas
Verheerenden Folgen unrealistischer Kriegsziele: Wie Fehleinschätzungen und selektives Moralisieren den Krieg verlängern. Eine Analyse.
Der völkerrechtswidrige Angriffskrieg Russlands auf die Ukraine löste eine historische "Zeitenwende" aus. Zu lange schon haben Fehleinschätzungen aller Seiten die Diskussion über das beherrscht, was angeblich dem Ukrainekrieg eine entscheidende Wende geben würde.
Dies hat nicht nur zu unrealistischen Vorhersagen geführt, sondern auch zur Kriegsverlängerung beigetragen. Ein langwieriger Abnutzungskrieg ist nicht im ukrainischen Interesse, wenn sich eine Verhandlungslösung abzeichnen sollte, die die Souveränität und Unabhängigkeit des ukrainischen Staates wahrt.
Es wäre politisch unklug und unmoralisch, Verhandlungsinitiativen zu unterlassen und stattdessen die Ukrainer zu ermutigen, für die Wahrung von Prinzipien und westliche Interessen an der Schwächung Russlands zu sterben.
Der Ukraine-Krieg gefährdet die Sicherheit Europas. Um ihn zu beenden und eine Eskalation zu verhindern, muss selektives Moralisieren durch Realpolitik ersetzt werden.
Der Kollaps der europäischen Sicherheitsordnung
Die in den 1990er-Jahren vereinbarte europäische Sicherheitsordnung sollte die gesamteuropäische Sicherheitskooperation unter Einschluss Russlands gewährleisten. Ihr verdankt Deutschland seine Einheit.
Der Zwei-plus-vier-Vertrag steht beispielhaft für die Verknüpfung von Prinzipien, die den Weg zu einer stabilen Sicherheitsordnung ebneten: das Recht auf nationale Selbstbestimmung und die freie Bündniswahl einerseits und die Pflicht zur Wahrung geopolitischer Zurückhaltung.
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Als "Eckpfeiler" der europäischen Sicherheit begrenzte der KSE-Vertrag die Land- und Luftstreitkräfte der Nato und der Staaten der Warschauer Vertragsorganisation und setzte Obergrenzen für gefechtsentscheidende Waffensysteme in ihren damaligen Stationierungsräumen.
Das Wiener Dokument ergänzte diese Vereinbarungen durch Vertrauens- und Sicherheitsbildende Maßnahmen für alle KSZE-Staaten.
Die europäische Sicherheitsordnung erodierte jedoch bereits Jahre vor dem russischen Angriffskrieg gegen die Ukraine. Auch westliche Staaten haben die inklusive OSZE abgewertet und Rüstungskontrollabkommen gekündigt oder unterminiert. So opferten die USA unter Präsident George W. Bush den KSE-Vertrag und die gesamteuropäische Sicherheitskooperation einer neuen geopolitischen Agenda.
Bush wollte den Nato-Beitritt Georgiens und der Ukraine vorbereiten. Als er beim Nato-Gipfel 2008 in Bukarest – gegen deutsch-französischen Widerstand – den Nato-Beitritt der Ukraine forcierte, war für Moskau eine "rote Linie" erreicht. Sie beeinflusst bis heute dort maßgeblich das strategische Denken. Im Vordergrund stehen
- die strategisch wichtigen Flottenbasen auf der Krim und in Sewastopol,
- die Verbindung zu den Russland-affinen Bevölkerungsteilen in der Ostukraine, und
- das strategische Gleichgewicht mit den USA.
Nach Bukarest fühlte sich der georgische Präsident Saakaschwili ermutigt, das Problem Südossetien mit Waffengewalt zu lösen. Der finnische OSZE-Vorsitz und der französische EU-Ratspräsident Nikolas Sarkozy vermittelten einen Waffenstillstand.
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Moskau erkannte die Unabhängigkeit Südossetiens und Abchasiens an. Trotz dieser Abfolge der Ereignisse gilt der russisch-georgische Krieg heute oft als Beispiel für Moskaus frühe Hinwendung zur militärischen Aggressionspolitik.
Präsident Obamas Reset-Politik hatte bei der nuklearen Rüstungskontrolle Erfolg: Der New Start-Vertrag von 2010 versprach, eine neue Periode der Verständigung einzuleiten. Dagegen scheiterten Versuche, auch die konventionelle Rüstungskontrolle in Europa zu erneuern.
Der Maidan-Aufstand
Die USA unterstützten den Maidan-Aufstand 2013/14 gegen den gewählten ukrainischen Präsidenten Janukowitsch; die Außenminister Deutschlands, Frankreichs und Polens versuchten, vor Ort zu vermitteln. Das scheiterte am Widerstand der "Maidan-Kommandeure".
Präsident Janukowitsch floh, seine Partei zerbrach. Das Rumpfparlament verabschiedete ein Gesetz zur Abschaffung des Russischen als regionale Amtssprache.
Wegen des Vetos des Übergangspräsidenten trat ein modifiziertes Sprachgesetz erst 2019 in Kraft. Der Beitritt zur EU und zur Nato erhielt 2019 Verfassungsrang; 2008 hatte es dafür nicht einmal in der Westukraine eine Bevölkerungsmehrheit gegeben.
Zunahme der Gewalt
Die Gewaltanwendung nahm landesweit zu. Die Autonome Republik Krim erklärte am 11. März 2014 die Unabhängigkeit. Am 18. März annektierte Moskau die Krim und Sewastopol, um die Basis der Schwarzmeerflotte zu sichern und die etwa 60 Prozent ethnischer Russen wieder mit dem "Mutterland" zu verbinden.
Zudem verwies Russland auf den Präzedenzfall Kosovo. Die Nato reagierte mit einer strategischen Rückwendung zur Abschreckung und Vorneverteidigung, die EU mit Sanktionen.
Die OSZE setzte während der gewaltsamen Eskalation im Osten und Süden der Ukraine ihre Feldpräsenz ein, flankiert von Beobachtungen nach dem Wiener Dokument und dem Vertrag über den Offenen Himmel (OHV). In kürzester Zeit konnte sie eine Sonderbeobachtungsmission bilden.
Das Normandie-Format
Die Präsidenten der Ukraine, Russlands, Frankreichs und die Bundeskanzlerin ("Normandie-Format") vereinbarten 2014/15 die Minsker Abkommen, um die schweren Kämpfe zwischen den Donbass-Milizen und ukrainischen Freiwilligenverbänden und Regierungstruppen zu beenden.
Die politischen Bestimmungen wurden von Kiew allerdings nicht umgesetzt. Gleichwohl nahm die EU Kiew nicht in die Pflicht. Ihre Sanktionen richtete sie ausschließlich gegen Moskau.
Dort verfestigte sich der Eindruck, dass die Ukraine nicht mehr beabsichtige, Minsk zu erfüllen, sondern sich mithilfe von Verbündeten darauf vorbereitete, die Krim und den Donbass zurückzuerobern. Am 24. März 2021 erließ Präsident Selenskyj das Dekret "über die Strategie der De-Okkupation und Wiedereingliederung des vorübergehend besetzten Gebietes der Autonomen Republik Krim und der Stadt Sewastopol".
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Zugleich schloss Kiew Sonderbündnisse mit den Nato-Mächten USA, Großbritannien, Polen und Litauen, die sich ausdrücklich gegen Russland richteten und eine zunehmende militärische Verflechtung förderten.
In diesem Umfeld begann Moskau im Frühjahr 2021 großangelegte Militärmanöver an den Grenzen der Ukraine, was auch eine Ausgangsbasis für den Angriff im Februar 2022 schuf. Diese Manöver konnten nicht kooperativ verifiziert werden, weil mittlerweile die Rüstungskontrollarchitektur völlig kollabiert war.
INF-Vertrag gekündigt
Schon 2008 war der KSE-Vertrag gescheitert. Die Trump-Regierung kündigte 2019 den INF-Vertrag und verließ 2020 auch den Open-Skies-Vertrag. Moskau folgte prompt.
Am 17. Dezember 2021 forderte Moskau die USA und die Nato auf, sich nicht weiter nach Osteuropa zu erweitern, auf den Beitritt Kiews zu verzichten, die militärische Infrastruktur zurückzuziehen, die seit der Nato-Russland-Grundakte (1997) in den Beitrittsländern eingerichtet worden war, und zur Rüstungskontrolle zurückzukehren.
Der Zusammenbruch der regelbasierten Sicherheitsordnung in Europa lässt sich nicht durch eine einseitige Schuldzuweisung erklären, sondern deutet auf ein eklatantes Politikversagen und die Unfähigkeit zu Dialog und Kompromiss auf beiden Seiten hin.
Klärung der Kriegsursachen
Der Kollaps dieser Vereinbarungen wurde teils willentlich von den USA und ihren Verbündeten veranlasst, teils auch sehenden Auges in Kauf genommen. Dies kann freilich den Angriffskrieg Moskaus gegen die Ukraine nicht rechtfertigen.
Doch hilft die nüchterne Aufarbeitung dieses Versagens bei der Klärung der Kriegsursachen, der Kriegsziele und der möglichen Wege aus der militärischen Konfrontation. Die Beendigung des Krieges bleibt sowohl mit der Lösung des übergeordneten geopolitischen Konflikts als auch mit der Befriedung der Ukraine mit ihren unterschiedlichen Identitäten verknüpft.
Fehlkalkulationen und das Schrauben an der Eskalationsspirale
Zu Beginn des Angriffs im Februar 2022 hat die russische Führung die nationale Einheit der ukrainischen Mehrheitsbevölkerung und die Widerstandskraft der Regierungstruppen völlig unterschätzt. Gleichwohl glaubte Moskau, Kiew rasch zur Annahme seiner Forderungen zwingen zu können.
Doch auch Kiew dürfte über den raschen russischen Vorstoß im Süden überrascht gewesen sein. Das Ausmaß der lokalen Kollaboration mit der Besatzungsverwaltung hat Kiew ebenso alarmiert wie die hohe Zahl an Wehrdienstverweigerern.
Auch im Westen herrschten übertriebene Erwartungen, dass die Ukrainer an Führung und Moral überlegen seien und die Doppelstrategie aus Sanktionen gegen Moskau und Militärhilfe an Kiew zur raschen "strategischen Niederlage" Russlands führen würde.
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Doch hatte die Lieferung einzelner Waffensysteme keineswegs die Schlüsselrolle (Gamechanger) für den weiteren Kriegsverlauf, die Politiker und Experten vorwiegend in den deutschen Medien wiederholt vorhergesagt haben.
Zur Einordnung ihrer Wirkung im Gefecht verbundener Waffen fehlte oft der Sachverstand. Die Führungsüberlegenheit der ukrainischen Armee wurde ebenfalls überschätzt, auch wenn es an der Tapferkeit der ukrainischen Soldaten keine Zweifel gibt.
Hinzu kommt die Fehleinschätzung der Resilienz der russischen Rüstungsindustrie, die auf Kriegsproduktion umgeschaltet und ihre Auslieferungsraten an Raketen, Munition und schweren Waffen vervielfacht hat.
Die Wirksamkeit westlicher Wirtschaftssanktionen wurde überschätzt; dass der Globale Süden sich nicht vorbehaltlos an die Seite der früheren Kolonialmächte stellen würde, schien zu überraschen. Nicht einkalkuliert waren vordergründig die Risiken, die mit der Präsidentschaftswahl in den USA im Herbst 2024 verbunden sind.
Anders als im Kalten Krieg fehlen heute im öffentlichen Diskurs Kräftevergleiche und Analysen der verfügbaren Ressourcen, aber auch der Eskalationsgefahren, aus denen realistische Lagebilder erstellt werden können.
Zudem haben einseitige Darstellungen des Geschehens, maßlose Propaganda und Eskalationsdrohungen zur gegenseitigen Dämonisierung geführt und die Lage weiter destabilisiert. In dieser vergifteten Atmosphäre werden Verhandlungen häufig als Mission Impossible ausgeschlossen.
Wenn selektive Moral, Heroisierung der einen und Diffamierung der anderen Seite den Wunsch zur "strategischen Niederlage" des Feindes beflügeln, leidet die Fähigkeit zur nüchternen Beurteilung des operativen Geschehens und der Folgen des eigenen Handelns.
So war der russische Rückzug aus der Region Kiew Ende März 2022 trotz empfindlicher russischer Verluste nicht militärisch erzwungen worden; Moskau hatte den Rückzug angeordnet, als die parallel geführten Waffenstillstandsverhandlungen erste Erfolge aufwiesen.
Das Istanbuler Kommuniqué vom 29. März 2022 eröffnete die Möglichkeit eines Kompromissfriedens. Die Verhandlungsdelegationen Kiews und Moskaus hatten sich auf einen gemeinsamen Vorschlag geeinigt:
- Verzicht der Ukraine auf den Nato-Beitritt und die Stationierung fremder Truppen;
- Moskaus de facto-Kontrolle der Krim und endgültige Statuslösung innerhalb von 15 Jahren;
- Sonderstatus des Donbass, dessen Details durch die Präsidenten festgelegt würden.
Sicherheitsgarantien durch die Mitgliedstaaten des Sicherheitsrates sowie Deutschlands, Polens, der Türkei u. a. Der EU-Beitritt Kiews sollte sogar unterstützt werden.
Ob der Verhandlungsprozess tatsächlich zu einer Kriegsbeendigung geführt hätte, bleibt offen. Erfolg hätte er aber nur haben können, wenn er auch von denjenigen westlichen Verbündeten unterstützt worden wäre, die den Kompromiss mit Sicherheitsgarantien flankieren sollten. Dies haben sie nicht getan. Stattdessen ermutigten sie Kiew mit dem Versprechen umfangreicher Waffenhilfe, den Krieg fortzusetzen.
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In dem folgenden verlustreichen Stellungskrieg trat der Kräftemangel der russischen Bodentruppen offen zutage. Die russische Führung reagierte politisch mit der Annexion der Gebiete Donezk, Luhansk, Saporischschja und Cherson, und militärisch mit der Intensivierung des strategischen Luftkriegs sowie mit einer Teilmobilisierung.
Damit rückte nicht nur eine Verhandlungslösung in weite Ferne; Moskau konnte nun schrittweise den akuten Personalmangel ausgleichen. Der kalkulierte Rückzug aus der Stadt Cherson verlief geordnet, stellte aber einen politischen Rückschlag dar.
Einzelerfolge im Osten, vor allem die verlustreiche Eroberung von Bachmut im Frühjahr 2023, erbrachten nicht den erwarteten operativen Durchbruch. Doch erreichten die Invasionskräfte im Sommer 2023 mit mehr als 400.000 Bodentruppen etwa die Stärke der regulären ukrainischen Landstreitkräfte.
Kiew begann, Luftverteidigungssysteme, Stützpunkte, Führungszentren, Depots und Schiffe der Schwarzmeerflotte sowie Verkehrswege einschließlich der kritischen Brückenübergänge zur Krim anzugreifen, aber auch Ziele in Russland selbst.
Die russische Führung intensivierte den strategischen Luft- und Raketenkrieg. Die Raketen- und Drohnenangriffe führten zu schweren Zerstörungen und brachten die regionale Energieversorgung zeitweilig zum Erliegen.
Die ukrainische Sommeroffensive 2023 scheiterte an den tief gestaffelten Verteidigungsstellungen der Russen. Seither ist Kiew in der strategischen Defensive. Aus dem Gesamtumfang der russischen Streitkräfte von mittlerweile 1,3 Millionen dürften nun über 650.000 Soldaten – teils auch von außerhalb – auf die Operationen vor Ort einwirken.
Seit der Einnahme von Awdijiwka im Februar 2024 ist die russische Armee im langsamen Vormarsch und erzielt taktische Raumgewinne. Am 9. Mai eröffnete sie einen neuen Frontabschnitt im Gebiet Charkiw.
Damit dehnt es die Front insgesamt auf eine Länge von 1.200 Kilometer aus und zwingt Kiew, seine personell unterlegenen Kampftruppen weiter auszudünnen und operative Reserven von anderen bedrohten Frontabschnitten im Donbass abzuziehen.
Ob es Moskau nach den jüngsten militärischen Erfolgen gelingen wird, 2024 wieder in einen Bewegungskrieg überzugehen, ist derzeit noch ungewiss. Die mit sehr hohen Verlusten erkauften Geländegewinne lassen eher den Schluss zu, dass sich der Abnutzungskrieg fortsetzt. Während die militärische Lage sich zuungunsten Kiews verschlechtert und die Personalverluste weiter zunehmen, setzen sowohl Moskau als auch Kiew und der Westen weiterhin auf eine militärische Lösung.
Doch ist auch 30 Monate nach Kriegsbeginn ein umfassender "Siegfrieden" der einen oder anderen Seite wenig wahrscheinlich. Weder eine "strategische Niederlage" der Atommacht Russland noch eine völlige Unterwerfung der Ukraine durch Moskau sind realistische Zielvorstellungen. Doch begünstigen die 2024 verfügbaren Ressourcen nicht die ukrainische Seite.
Hoffnungen auf überraschende politische oder militärische Wendungen zugunsten Kiews bleiben Spekulation und sind mit hohen Eskalationsrisiken behaftet.
Ob die westliche Materialunterstützung für einen langen Abnutzungskrieg aufrechterhalten werden kann, hängt von den politischen Entwicklungen in Europa und vor allem in den USA ab. Zwar bemühen sich die Biden-Administration sowie die Regierungen Deutschlands, Großbritanniens und anderer Nato-Länder, den Waffenstrom aufrechtzuerhalten, doch ist der Ausgang der amerikanischen Präsidentschaftswahlen im Herbst ungewiss.
Die Lagerbestände sind weitgehend aufgebraucht und die europäische Rüstungsindustrie wird viele Monate benötigen, um die Produktionsraten gravierend zu erhöhen. Aber auch wenn es dem Westen gelingen sollte, die Materialverluste der Ukraine langfristig zu ersetzen, so sind doch ihre Personalreserven begrenzt.
Weitere Eskalation oder Verhandlungen
Vollkommen verantwortungslos wäre es, Schritte zu unternehmen, die eine weitere Eskalation auslösen und Europa in den Krieg oder gar eine nukleare Katastrophe führen könnten. Zwar wirkt die Abschreckung weiterhin, doch könnten sich die Risikokalküle der russischen Führung verändern, sollte sie eine existenzielle Bedrohung ihres politischen Überlebens und des strategischen Gleichgewichts mit den USA wahrnehmen.
Eine leichtfertige Sieges- und Regime-Change-Rhetorik könnte solche Perzeptionen fördern. Sie muss ebenso unterlassen werden wie das Austesten weiterer Schritte, die das Eskalationsrisiko erhöhen.
Dies gilt für Vorschläge zur Errichtung eines Luftverteidigungsschirms über der Westukraine, zum Einsatz westlicher Langstreckensysteme gegen strategische Ziele in Russland oder zur Entsendung westlicher Truppen in die Ukraine.
Eine unmittelbare Konfrontation mit russischen Truppen könnte sich zu einem europäischen Krieg ausweiten. Die Einrichtung einer "Flugverbotszone" bedeutete einen Luftkrieg, der auch Angriffe auf russische Luftstützpunkte und die Luftverteidigung erfordern würde. Eine Eskalation wäre unausweichlich.
Für eine realistische und verantwortliche Politik können weder die Eskalation noch das Ausbluten der ukrainischen Bevölkerung akzeptable Optionen sein. Eine Strategie der Kriegsverlängerung, die weder eine realistische Aussicht auf einen nachhaltigen militärischen Sieg ohne das Risiko der Eskalation bieten kann noch ein Kriegsende durch konkrete Verhandlungsansätze anstrebt, läuft daher ins Leere.
Sie kann sich nur auf die vage Hoffnung auf eine politische oder militärische Wende stützen, deren Annahmen nicht faktisch unterlegt sind. Die damit verbundene Absicht, die eigenen Risiken zu begrenzen, geht ausschließlich zulasten der Ukrainer.
Die strategische Leistung, die Diplomatie in dieser Lage erbringen müsste, liegt darin, Kompromisswege zu eruieren, die einerseits die Eskalationsgefahren einhegen und andererseits die Unabhängigkeit und Souveränität der Ukraine wahren.
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Dabei kommt es nicht darauf an, ob westliche Hauptstädte bereit wären, politische Prinzipien einer Friedenslösung zu opfern. Prinzipien haben sie selbst mehrfach gebrochen, wenn es ihnen im Interesse von Sicherheit und Stabilität geboten schien.
Vielmehr stellt sich die Frage, was sie dazu beitragen können, um einen mehrdimensionalen Konflikt zu entschärfen, dessen Trennlinien innerhalb der Ukraine, zwischen Moskau und Kiew und zwischen Russland und dem Westen verlaufen.
Zweifellos haben die russischen Gebietsannexionen vom September 2022 künftige Friedensgespräche gravierend erschwert. Gleichwohl muss Kiew die Frage beantworten, ob und inwieweit es gewillt ist, politische und territoriale Kompromisse einzugehen, um den Krieg zu beenden und ukrainische Leben zu retten.
Dies kann Kiew nur dann positiv beantworten, wenn Moskau bereit ist, Abstriche von maximalen Kriegszielen zu machen und die Unabhängigkeit und Souveränität der Ukraine zu garantieren. Moskau muss erkennen, dass es nur so die eigenen Sicherheitsinteressen gegenüber Nato-Europa wahren kann.
Denn die Lage der russischen Führung ist keineswegs so komfortabel, dass sie nicht ebenfalls einen Ausweg aus dem Krieg anstreben muss. Sie hat militärische, ökonomische und innenpolitische Risiken sowie den Verhandlungsdruck des Globalen Südens zu berücksichtigen, will sie international nicht weiter ins Abseits geraten und die innere Stabilität aufs Spiel setzen. Zudem ist es ein Kernziel, die strategische Stabilität mit den USA aufrechtzuerhalten.
Ein Kompromisspaket muss daher auch Elemente der Rüstungskontrolle und der europäischen Sicherheitsordnung enthalten, die auf die Wahrung der strategischen Stabilität ausgerichtet sind.
Diese Leistung kann weder Kiew allein noch eine Friedenskonferenz ohne Russland erbringen. Dazu müssen die westlichen Führungsmächte Angebote machen, sofern sich Moskau verpflichtet, künftig die Unabhängigkeit und Souveränität der Ukraine zu respektieren und dafür internationale Sicherheitsgaranten zu akzeptieren.
Wirksame und inklusive Sicherheitsgarantien für die Ukraine sind ein Schlüsselelement einer künftigen Friedenslösung. Der Vorschlag, die Nato solle Kiew zunächst territorial begrenzte Garantien ohne Vereinbarungen mit Russland geben und sie später in Abhängigkeit vom Kriegsverlauf oder der politischen Entwicklung in Moskau schrittweise ausweiten, ist unrealistisch.
Die Konstruktion wäre höchst fragil und mit einem hohen Eskalationsrisiko verbunden. Jede Lageänderung könnte den Kriegseintritt der Nato erfordern. Sicherheitsgarantien werden außerhalb von Artikel 5 des Washingtoner Vertrags gefunden werden müssen, wenn sie weder eskalierend wirken noch die weitere territoriale Spaltung der Ukraine befördern sollen.
Vor allem dürfte es Russland um Stationierungsbegrenzungen für Militärbasen der Verbündeten in der Ukraine gehen. Auch dies lässt Raum für Kompromisse.
Lösungen für den Ukrainekonflikt sind untrennbar mit einem breiteren europäischen Sicherheitsansatz verbunden. Sie können nur gefunden werden, wenn Verhandlungsinitiativen begonnen werden, statt sie auszuschließen.
Verhandlungen bedeuten nicht Kapitulation, sondern die Suche nach einem Ausweg aus einem Krieg, der vor allem von den Ukrainern hohe und auf Dauer untragbare Opfer fordert. Weitere Waffenlieferungen können daher nicht nur mit einer vagen "Sieghoffnung" ohne Exitstrategie begründet werden.
Notwendig ist vielmehr ein glaubwürdiges Verhandlungsangebot, das die Sicherheitsinteressen Russlands ebenso in den Blick nimmt wie die Unabhängigkeit und Souveränität der ukrainischen Nation.
Oberst a.D. Wolfgang Richter, geb. 1949, war Leitender Militärberater in den deutschen UN- und OSZE-Vertretungen, Senior Associate der Stiftung Wissenschaft und Politik (SWP), jetzt Associate Fellow beim Genfer Zentrum für Sicherheitspolitik (GSCP).
Der Artikel erschien zuerst in der neuesten Ausgabe von WeltTrends – Nr. 201: Revolte des Globalen Südens
Eine Langfassung des Artikels inklusive umfassender Quellenangaben ist im WeltTrends-Blog veröffentlicht.