Der Preis der unnützen Freiheit

Shenmue zwischen Narration und Simulation

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"Movies are life with the dull bits cut out," hat Hitchcock gesagt: Film ist das Leben, aus dem man all die langweiligen Stellen rausgeschnitten hat. Shenmue, Yu Suzukis aktueller Dreamcast-Hit, ist in vielem wie ein Film, ein Thriller; es erzählt die Geschichte des jungen Ryu Hazuki, der sich auf die Suche macht nach den geheimnisvollen Mördern seines Vaters. Aber es ist auch ein Versuch, Ryus Welt - eine japanische Kleinstadt im Jahr 1986 - davon unabhängig auf dem Bildschirm lebendig werden zu lassen: Viele "dull bits" inklusive. Damit wir uns nicht falsch verstehen: Shenmue gehört zum Ambitioniertesten, was im Medium Videospiel bisher gewagt wurde, und es gelingen ihm faszinierende Dinge, die so noch nicht zu erleben waren. Aber es offenbart dabei auch grundlegend die Probleme, die das Medium hat, wenn es sich an narrativen Formen versucht - ganz unabhängig von den technischen Grenzen, an die konkrete Spiele stoßen: Mehr Speicherplatz, mehr Rechenleistung könnten im Detail die Illusionsdurchbrechung verhindern. Das prinzipielle Problem aber werden sie nicht los.

Erzählen, das heißt auswählen, das heißt beschneiden, heißt Kontrolle: Aus all den endlosen Möglichkeiten genau eine rauspicken. Gutes Erzählen überlässt kein Detail dem Zufall - siehe Reservoir Dogs und Tim Roths Commode Story: Um sie überzeugend erzählen zu können, muss er wissen, ob es auf der fiktiven Toilette Papierhandtücher oder Trockner-Gebläse gibt, Pulver- oder Flüssigseife. Speziell unsere am klassisch bürgerlichen Ideal geschulte Vorstellung von Narration, speziell das klassische Erzählkino leben von perfekter Manipulation, von genauer Steuerung der Identifikation des Publikums. In einem Hitchcock-Film gibt es kaum auch nur eine Kleinigkeit, die nicht bewusstes Teil des Ganzen ist: Jede Einstellung, jeder Schnitt, jeder Satz, jede Farbe hat da Zweck und (oft auf vielerlei Ebene) Bedeutung. Gerade im Thriller-Genre sind jene Filme, die uns keinerlei Freiheit lassen, die effektivsten. Suspense heißt: Genau dosierte Vergabe von Information. Packendes Erzählen verlangt Meisterschaft im Vorgeben des Rhythmus. Der Zweck von Simulation ist ein genau entgegengesetzter: Hier geht es darum, ein virtuelles Abbild von Welt zu schaffen, das Freiheiten eröffnet, welche die Realität nicht bietet. Simulationen sind Freiräume, in denen Möglichkeiten durchgespielt werden können, ohne echte Konsequenzen tragen zu müssen. Ihr eigentlicher Reiz ist das Ausprobieren, ist Ausloten und auch Überschreiten von Grenzen. Sie sind enge Verwandte des Spiels, unterscheiden sich vor allem insofern, als sie ganz konkretes Vorbild in der wahren Welt haben, als sie Testläufe für die Realität sind.

Shenmue möchte beides sein, Narration und Simulation, Story und virtuelle Welt. Und gerät dabei in den Konflikt, dass die Freiheiten, die das eine fordert, nur auf Kosten des anderen gewährt werden können. Das Ideal, das Shenmue-Designer Yu Suzuki vorschwebt, hat er FREE getauft, Full Reactive Eye Entertainment Hinter dem typisch japanischen Krypto-Englisch verbirgt sich die Vorstellung einer Videospielwelt, in der man überhall hingehen, alles anschauen, alles anfassen und womöglich benutzen kann; in der die Non Player Characters ein Eigenleben führen, man mit ihnen jederzeit sprechen kann. Dass so eine Vision mit derzeitiger Konsolen-Technik nur in Rudimenten umgesetzt werden kann ist klar und verzeihlich. Gravierend aber ist, dass schon die wenigen Freiheiten, die tatsächlich geboten werden (an sehr viele Plätze gehen, dort alles ansehen, manch weniges anfassen, kaum etwas benutzen und eingeschränkte, vorgefertigte Konversationen führen) eigentlich schon zu viele sind für einen flüssigen Lauf der Story.

Shenmue als Story spielt sich dann am fesselndsten, wenn man möglichst wenige dieser Freiheiten nutzt, sich selbst Grenzen auferlegt: Der Weg, der durch den Plot führt, ist klar vorgezeichnet, und je weniger man von ihm abschweift, um so filmischer wird das Spiel-Erlebnis. Man muss zu einem dieser lästigen Wahrscheinlichkeitskrämer mutieren, die Filmen immer vorwerfen "nicht realistisch" zu sein, wenn die Reaktionen der Charaktere nicht Normen der Alltagswelt entsprechen: Wenn Ryu eine wichtige Information erhält, so ist es "realistisch", wenn er ihr möglichst schnell nachgeht und nicht eine Sightseeing-Tour oder Pläuschchen mit Ladenbesitzern einschiebt. Wenn er mit einer Person eben über ein Thema gesprochen hat, so ist es "realistisch", die selbe Person nicht zwei Minuten später erneut zum selben Gegenstand anzusprechen (was fast zwangsläufig zu Dialogen führt, die ihre Programmiertheit schnöde offenbaren).

Genau das aber reizt bei Shenmue immer wieder: Völlig "unrealistische" Dinge zu tun, auszuprobieren, was in dieser künstlichen Welt alles möglich ist. Denn es gibt kaum einen Zwang, sich gemäß vernünftiger und gewohnter sozialer Konventionen zu benehmen - das Spiel verzeiht fast alles, es ist kaum möglich, nicht letztendlich doch ans Ziel zu kommen. Genau dafür sind Simulationen von Welt ja eben gut. SHENMUE präsentiert sehr überzeugend eine Welt, nicht jedoch eine Gesellschaft: All die Normen, die in der Realität unser Verhalten regeln, deren Übertretung mit Sanktionen wie Einweisung in eine Nervenheilanstalt belegt sind, sind hier (soweit sie nicht in der grundsätzlichen Beschränkung auf wenige Freiheitsgrade verankert sind) außer Kraft gesetzt. Erst als Shenmue auf der dritten und letzten Disk über lange Strecken zu einer Gabelstapler-Simulation mutiert, verflüchtigt sich das Problem weitgehend: Zwar kann man Ryu auch hier nicht dazu bringen, seinen Job als Lagerarbeiter hinzuschmeißen, mit seinem Gefährt eine Spritztour zu unternehmen. Aber wir sind es - vom Leben und vom Videospielen - so sehr gewohnt, brav die uns gestellten Aufgaben zu erfüllen und nach der Gehaltserhöhung zu streben, dass sich da plötzlich die experimentierfreudige Neugier einstweilen verabschiedet.

Es ließe sich einwenden, dass auch Erzählen bedeutet, eine virtuelle Welt zu schaffen - Dieter Wellershoff beispielsweise hat Literatur als Simulationstechnik beschrieben. Der entscheidende Unterschied aber ist, dass Narration (postmoderne Erzähltechniken ausgenommen) immer nur das Verfolgen eines einzelnen Pfades ist, dass sie nur einen Weg durch den Dschungel der Möglichkeiten bahnen kann. Erzählen heißt nicht nur, eine Welt zu erschaffen - es heißt auch, in dieser Welt einen konkreten Ablauf von Ereignissen stattfinden zu lassen. Ein Film, ein Roman mag im Kopf eine Welt entstehen lassen, welche die Gedanken in vielerlei Richtung erkunden können - die Geschichte, der Plot aber bringen notwendig die Zeit mit ins Spiel. Und legen ihrem Verlauf strenge Zügel an. Dass die Zeit in Shenmue (weitgehend) unabhängig von der Story verstreicht, dass das Vergehen der Wochen, der Wechsel der Tageszeiten und des Wetters unbarmherzig von selbst stattfindet und es an den Spielern liegt, diese Zeit zu füllen und Ryu Hazukis Geschichte in ihr voranzutreiben - das ist der Aspekt, in dem das Spiel am stärksten seinen Anspruch als Simulation zeigt.

Es ist zugleich auch jener, in dem es am stärksten in Gefahr gerät, als Story zu versagen: Plötzlich sind sie da, alle die "dull bits" von denen Hitchcock sprach. All jene tote Zeit, die in Filmen und Büchern ausgespart, übersprungen, gerafft wird. Shenmue weiß das und bietet zahlreiche Mini-Games und Beschäftigungstherapien an, sie totzuschlagen - inklusive dem vielleicht eklatantesten Fall von mise en abîme der Videospielgeschichte: Shenmue enthält als Zeitvertreib Yu Suzukis frühe Werke Hang On und Space Harrier. Und ist somit das wohl erste Videospiel, in dessen Welt man Videospiele spielt, um Zeit rumzubringen, mit der man nichts besseres anzufangen weiß.

Dennoch ist das Voranschreiten der Story letztlich genauso unaufhaltsam: Die Spieler können es zwar fast beliebig hinauszögern, sie können die Geschichte aber nicht aus ihren eisernen Schienen hebeln. Man kann Ryu nicht dazu bringen, seine Trauerarbeit anders zu leisten als durch Verfolgen der Killer. Man kann ihn nicht mit seiner Freundin nach Kanada fliegen lassen. Man kann ihm nicht die Erkenntnis aufnötigen, dass er plötzlich Videospiel-Designer werden will oder eine Clownschule besuchen. Das führt dazu, dass die Momente wahrer Interaktivität sich weitgehend auf Dinge beschränken, die mit der erzählten Geschichte nichts zu tun haben: Katzen füttern, Martial-Arts Training, Einkaufen, Mini-Games spielen. Oder sie (als Kämpfe oder Motorradfahrten z.B.) in kleinen Freiräumen des Plots stattfinden, deren Anfang und Ende unveränderbar feststehen. Ryu, der Protagonist selbst, ist der Nexus von Narration und Simulation. Hazukik ist Charakter in einer Story und Avatar für die SpielerInnen zugleich, aber selten gleichzeitig. Was zu dem seltsamen Effekt führt, dass die emotionale Identifikation mit ihm gerade dann am stärksten ist, wenn einem die Kontrolle über ihn entzogen ist - in den reinen Filmsequenzen. Da füllt sich die Figur mit Motivation, mit Geschichte. Wenn wir ihn aber steuern, dann wird er quasi transparent und verschwindet als Charakter um so mehr, je mehr wir ihn nur benutzen, um die Welt um ihn zu erkunden.

Das alles, ist wie gesagt, kein spezifisches Problem von Shenmue -darunter muss zwangsläufig jedes Videospiel leiden, das versucht, eine Art gespielter Film zu sein. Shenmue offenbart aber mehr über das Verhältnis von Videospielen zu anderen narrativen Medien. Denn Shenmues Welt ist eben keine der üblichen Fantasy- und Science Fiction-Welten, sondern das alltägliche, zeitgenössische Japan (für uns Westler freilich auch eine Art SF-Reich...). Kein Problem für einen Film: Kamera draufhalten und losdrehen. Kaum ein Problem für ein Buch: Der Text liefert ausgewählte Eckdaten, den Rest fantasieren die LeserInnen aus ihrem Erfahrungsschatz hinzu. Ein Videospiel kann sich solche lacunae, Leerstellen aber nicht leisten - und die virtuelle Kamera kann nur zeigen, was in mühsamster Kleinarbeit zuvor künstlich nachgebildet wurde.

Film und Buch müssen gewöhnlich nur selektiv gestalten, können sich auf die für die Geschichte und den Subtext wesentlichen Dinge beschränken. In einem Videospiel will jedes Detail neu geschaffen sein - auch wenn es nur insofern Bedeutung hat, als sein Fehlen bemerkt würde, die Illusion in sich zusammenfallen ließe. Jeder Strauch, jede Wolke, jede Mülltonne, jede Treppenstufe in Shenmue ist Ergebnis langwieriger Handarbeit. Kein Wunder, dass der Abspann des Spiels locker mit dem von Titanic konkurrieren kann, dass hier mehrere hundert Leute mitgewerkelt haben. Kein Wunder, dass das Budget angeblich $70 Mio. betragen hat. Ein stolzer Preis dafür, dass da dann liebevoll gestaltete Häuser herumstehen, die Ryu nie betritt, dass zahllose Dinge in der Welt vorhanden sind, die im Verlauf der Story keinerlei Zweck haben - und die zu betrachten oder zu benutzen eben nur die Geschichte schwächt. Ein stolzer Preis für unnütze Freiheit.

Der einzige naheliegende Ausweg aus dem Dilemma des interaktiven Erzählens wäre bei entsprechend fortgeschrittenem Stand der Technik das Schaffen wirklich autonomer virtueller Welten: Einen Handlungsraum mit gewissen physikalischen Grundgesetzen zu bauen und ihn mit künstlichen Intelligenzen zu bevölkern. Die Kunst des "Erzählers" bestünde dann wohl darin, spannende Grundkonstellationen auszutüfteln, die freien Agenten geschickt mit Motivationen, Fähigkeiten, Biographien auszustatten. Der Plot würde nicht mehr vorgegeben, aufoktroyiert, sondern würde sich (zweifelsohne von Spiel zu Spiel anders) von selbst aus der Anfangssituation entwickeln. Ob er allerdings dabei jedesmal unsere Erwartungen an Spannung und Suspense erfüllen würde, ob ihm jedes Mal die "dull bits" fehlen würden, bleibt zweifelhaft.

Vielleicht weist uns doch Shenmue eines Tages noch den wahren Weg zum filmgleichen Videospiel: Gelegenheit dafür könnte es reichlich geben - das derzeit erhältliche Spiel ist in Ryus Saga nur das erste von 16 geplanten Kapiteln.