"Der Sozialstaat ist nicht mehr finanzierbar!"

Über den Irrsinn des Geld-Denkens

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Seit ihrer Kindheit sind die Menschen der westlichen Zivilisation daran gewöhnt, dass Geld der Mittelpunkt des Lebens ist. Für Geld bekommt man alles; alles was man tut, tut man für Geld; ohne Geld bekommt man nichts. Die Verfügbarkeit von Geld ist, was den Unterschied ausmacht zwischen einer Teilnahme am gesellschaftlichen Leben oder eben einer Ausgegrenztheit.

Diese Mittelpunktstellung von Geld durchzieht alle Schichten: Gebildete wie Ungebildete, Politiker wie Journalisten, Arbeiter wie Arbeitslose. Und es wird durch die Gewöhnung an den Suchstoff Geld (Junkie Business) eine Schlussfolgerung gezogen, die bei objektiver Betrachtung einfach lächerlich ist: Geht das Geld aus, geht der Wohlstand flöten.

Was ist Wohlstand? Es ist kein in einer einzigen Zahl messbarer Zustand. Wohlstand allein ans Bruttoinlandsprodukt (und an das daraus folgende ominöse, angeblich endlos mögliche Wirtschaftswachstum (Wachstum, Wachstum über alles) zu koppeln, ist eindimensional und damit kurzsichtig. Daraus gezogene Schlussfolgerungen können somit ebenfalls nur eindimensional und kurzsichtig sein.

Wohlstand ist auch nicht die Menge des Geldes, die man auf seinem Konto hat. Dieses Geld ist potentieller Wohlstand, denn erst dann, wenn das Geld in reale Güter oder Dienstleistungen umgesetzt wird, wird aus dem potenziellen Wohlstand real nutzbarer.

Das Geld-Denken in unserer Gesellschaft führt dazu, dass die Wenigsten wahrnehmen, dass es nicht die Menge des Geldes ist, die uns ernährt und Wohlstand schafft, sondern die Menge der Leistungen, die wir erbringen und über die wir - wenn wir sie erbracht haben - verfügen können. Geld ist nur das Hilfsmittel, mit Hilfe dessen diese Leistungen verteilt und unters Volk gebracht werden. Aber Geld arbeitet nicht, Geld schafft nicht ein winziges Bisschen Wohlstand: Es ist immer die Arbeit der Menschen. Es sind immer deren Leistungen!

Wer meint, die Erde sei eine Scheibe, muss natürlich Angst davor haben, am Rand hinunterzufallen. Wer also meint, Geld schaffe Wohlstand, der muss bei Geldmangel meinen, der Wohlstand gehe aus. So folgen dann Schlussfolgerungen wie "Der Sozialstaat ist nicht mehr finanzierbar!". Wer allein in Finanzen denkt, der wird zu diesem Schluss kommen - und ist damit womöglich genauso schlecht informiert wie die Leute, die meinen, die Erde sei eine Scheibe.

Denkt man sich das Geld als Tausch- und Wertaufbewahrungsmittel jedoch weg, so stellt man fest, dass unsere Gesellschaft heute mit weniger als 40 Millionen arbeitenden Menschen dank enormer Produktivität (und trotz riesiger Ineffizienz, man denke nur an das deutsche Steuersystem und die daraus folgende Bürokratie) in der Lage ist, über 80 Millionen Menschen problemlos zu ernähren und viele davon sogar in unermesslichem Luxus schwelgen zu lassen. Wir leisten uns sogar den Extra-Luxus, etwa 5 Millionen Menschen mit dem Stempel "Arbeitslos!" zu versehen, großzügig auf ihre Leistungen zu verzichten und sie zugleich miternähren zu müssen - letzteres gebietet die Menschlichkeit. Bei solch einem generösen Verzicht auf wohlstandsvermehrende Leistungen braucht man sich nicht wundern, wenn dem Sozialstaat langsam die Leistungsmöglichkeiten ausgehen.

Man müsste sich allerdings erneut über den Wahnwitz der Entscheidungsträger wundern: Diese meinen tatsächlich, es liege an der Knappheit von Papierzettelchen, dass unser Wohlstand schwindet. Wenn es die Knappheit von Papierzetteln ist, die Probleme bereitet, warum druckt man dann nicht neue? Wenn tatsächlich der Sozialstaat und an ihm hängend die gesamte Gesellschaft der Dekadenz anheim fällt und vielen Menschen das Leben versaut wird, nur weil ein paar Papierzettel knapp werden, warum stellt man dann nicht neue Papierzettel her? Was ist nur so Besonderes an ein paar Papierzetteln, dass ihre Abwesenheit eine ganze Welt(wirtschaft) an den Rand zum Chaos führt? Und die andere Frage ist: Wo sind sie eigentlich hin, die Papierzettel, die vor einigen Jahren angeblich noch ausreichend vorhanden waren?

99 Prozent der Menschen sehen das Geldproblem nicht. Die Wissenschaft sieht es nicht, die Ökonomie sieht es nicht. Solange wir aber die Geldwirtschaft nicht als Problem erkennen, ist keine wirkliche ökologische Wende möglich.

Der Volkswirtschaftler Prof. H.C. Binswanger

Was würde wohl ein Außerirdischer denken, wenn er sich die Menschheit anschaut, wie sie sich von fehlendem Papier an der Nase herumführen lässt? Er würde sehen, wie immer neue Ideen ausgebrütet werden, um die Arbeitszeit derjenigen zu erhöhen, die noch Arbeit haben. Er würde sehen, dass ein Staatschef auf dem Kontinent Europa allen Ernstes den Vorschlag macht, den Kalender dahingehend anzupassen, dass Weihnachten wenn möglich auf ein Wochenende fällt. Dann könnten die faulen Erdenbürger schließlich nicht mehr Brückentage nehmen und blau machen, sondern würden weiterhin Arbeiten bis zum Umfallen). Ein kluger Außerirdischer würde sich wohl kopfschüttelnd oder hemmungslos lachend einen anderen Planeten fürs Sight-Seeing suchen...