"Der Staat verzerrt den gesamten Arbeitsmarkt"

Seite 3: "Ständige Ohnmachts- und Abwertungserfahrung"

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Wie haben sich im Zuge dieser Entwicklung die Funktionen der Sachbearbeiter verändert?

Helga Spindler: Untersuchungen zeigen, dass Behördenmitarbeiter offenbar nicht mehr darauf ausgerichtet werden zu beraten und zu betreuen (was zwar durchaus noch praktiziert, aber als veraltete Fürsorge- oder Sozialarbeitermentalität abgetan wird), oder gar Arbeit zu vermitteln - was nun der "Kunde" selber oder ein von Prämien abhängiger Dienstleister machen soll -, sondern dass sie sich auf die Kontrolle und Veränderung der Haltung ihrer "Kunden" konzentrieren sollen, nach dem Motto: "Arbeit ist genug da. Wenn Sie noch keine gefunden haben liegt es daran, dass Sie sich nicht flexibel und mobil genug auf die Anforderungen der Arbeitgeber eingestellt haben."

Oder, wie in einem Fall in NRW, wo sich ein "Ü-50er" über das 3. Bewerbungstraining in einem Interview beschwert hat und der Leiter des Jobcenters kühl reagiert hat, er haben ja immer noch keine Arbeit gefunden, das zeige doch wie wichtig die Wiederholung der Maßnahme sei.

Das alles führt zusammen mit Ignoranz und häufig stur weiterlaufenden Verstößen gegen bereits anderslautende Rechtsprechung zu einer ständigen Ohnmachts- und Abwertungserfahrung und nimmt selbst qualifizierten, motivierten und kreativen Arbeitslosen jede Gestaltungsmöglichkeit.

"Akzeptierendere Grundhaltung ist gefragt"

Am 26.9. wurde eine junge Sachbearbeiterin in einem Job-Center bei Neuss umgebracht. Welchen Hintergrund hatte Ihrer Einschätzung nach diese Tat und wie kann in Zukunft dergleichen verhindert werden?

Helga Spindler: Der Vorfall ist erschreckend und tragisch, wie im übrigen viele andere körperliche Angriffe und Bedrohungen gegenüber Jobcentermitarbeitern, durch die gerade die Engagierten zermürbt werden. Über den Hintergrund kann ich nur spekulieren und leider werden solche Vorfälle meist nicht zufriedenstellend aufgeklärt, weil dabei auch die Vorgeschichte des Umgangs mit dem Betroffenen offengelegt werden müsste.

Aber an den Aktivitäten, wie man dergleichen in Zukunft verhindern will, kann man erkennen, von was diese spektakulären Fälle ablenken sollen. Statt Großraumbüros, Hausverboten und mehr Sicherheitskräften benötigen die Mitarbeiter seit Anfang der Reform mehr Zeit und es ist vor allem eine andere, eine akzeptierendere Grundhaltung in Jobcentern gefragt, die unter der gegenwärtigen Herrschaft der Controller und Leistungsvereinbarungen nicht möglich ist.

Sinnvoll erscheint mir der Vorschlag eines ehemaligen Mitarbeiters, im Jobcenter unabhängigen Beratungsstellen Räume zur Verfügung zu stellen, Anlaufstellen, bei denen Frust und Resignation genauso ernst genommen werden wie fachliches Wissen und mehr Begleitung bei den Terminen zuzulassen. Das wäre ein guter Anfang, so lange man bei den Mitarbeitern keine andere Arbeitshaltung gegenüber den "Kunden" fördert.

Häufig eskaliert die Situation einfach durch die Existenzangst. Das liegt daran, dass man die Leistungsabteilungen sehr schlecht besetzt hat (von der Gesetzesidee her bewusst, weil die Geldleistung als zweitrangig gilt), die mit ständigen Softwareproblemen ohnehin dauernd lahm liegt. Die oft juristisch und kommunikativ nicht erfahrenen Mitarbeiter werden in unzugänglichen "back- offices" versteckt, wo sie sogar ihre Telephonnummern unterdrücken müssen. Wenn dann die Überweisung ausbleibt oder Unterlagen verschwinden und keine Empfangsbescheinigungen erteilt werden, bricht eben Panik aus.

Statt meist inhaltsleerer Deeskalationstechniken für den einzelnen Mitarbeiter zu schulen, ist eine Deeskalation durch den Gesetzgeber angebracht: Sanktionen reduzieren (und zur Vorbereitung dazu ein Sanktionsmoratorium voranbringen), Zumutbarkeitskriterien ändern, den Datenschutz garantieren (gerade sehr persönliche Daten aus Untersuchungen und Beratung sind nicht verlässlich geschützt), Freiwilligkeit bei Fördermaßnahmen einführen, verlässliche Geldüberweisungen und Auszahlungen in Notfällen. Verhindern kann man einen Angriff nie, aber es sollte zu denken geben, dass solche Vorfälle weder aus der Arbeitslosenhilfe noch aus der Sozialhilfe - wo die Verwaltung auch viel kritisiert wurde - bekannt sind.

In Teil 2 des Interviews äußert sich Helga Spindler unter anderem über die rechtliche Situation der Hartz IV-Empfänger und die Initiierung der Reform durch die Bertelsmann-Stiftung.