"Der Staat verzerrt den gesamten Arbeitsmarkt"

Seite 2: "Wie im Mittelalter"

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Wie passen diese Maßnahmen mit dem Konzept der Eigenverantwortung zusammen und beißt sich dieses Prinzip mit der landesweiten Errichtung sogenannter "Tafeln" nicht in den Schwanz?

Helga Spindler: Das passt hervorragend zusammen, es kommt nur drauf an, wie man Eigenverantwortung definiert! Die Eigenverantwortung ist Teil des staatlichen Aktivierungskonzepts, "unabhängig" von der staatlichen Existenzsicherung zu werden und bedeutet nur, dass man sich sein Existenzminimum irgendwo anders in der Gesellschaft zusammensuchen soll, ob in der Familie, durch Flaschensammeln, durch Prostitution, durch prekäre Selbstständigkeit oder durch niedrigen Arbeitslohn. Das alles ist aus staatlicher Sicht - wenn es knapp wird, verbunden mit Tafelspeisungen - eigenverantwortlich.

Statt sich "passiv" durch Sozialleistungen "alimentieren" zu lassen und damit unerkannt wie jeder andere einkaufen zu gehen, muss man sich bei den Tafeln "aktiv" um seine Lebensmittel kümmern. Gleichzeitig werden Ehrenamtler und vor allem Unternehmen und Privatspender aktiviert, die das zum Imagegewinn nutzen können und denen man gern eine Spendenquittung zukommen lässt, auch wenn sie die Steuereinnahmen , aus denen die Existenzsicherung finanziert werden muss, vermindert. Und weil sich diese Sachspenden statistisch im Ausgabeverhalten niederschlagen, gewinnt man jedes Jahr eine bessere Begründung, den Regelsatzanteil für Lebensmittel niedriger zu bemessen.

Hier wird mit ganz langem Atem und tatkräftiger Unterstützung von Mc Kinsey der Gesellschaft ein Teil der eigenverantwortlichen Versorgung der Armen zurückgegeben, die sie im Mittelalter auch schon wahrgenommen hat. Hinter der Tafelbewegung mögen gute Absichten stecken, aber die Kombination mit den zu niedrigen Regelsätzen und Löhnen macht sie für mich obszön.

"Besonderer Druck auf die Kinderregelsätze"

Aber es sollen doch vor allem niedrigere Löhne ermöglicht werden?

Helga Spindler: Ja, es gibt noch einen weiteren "Aktivierungsaspekt" und das ist der Anreiz niedrigere Löhne anzunehmen. Bisher hat in Deutschland noch kein Regelsatz, ob er niedrig oder hoch war, die Etablierung eines Niedriglohnsektors verhindert. Die staatliche Aufstockung und damit die ebenfalls teure Subventionierung von Niedriglöhnen wird auch von Ökonomen durchaus begrüßt, die ansonsten die Arbeitskraft möglichst dem freien Spiel der Weltmarktpreise überlassen wollen. Aber ein höherer Regelsatz gefährdet die Akzeptanz dieser Niedriglöhne durch den Vergleich.

Deshalb sollen die Nichtarbeitenden so wenig pauschale Geldmittel wie möglich erhalten, damit "ihre Selbsthilfekräfte stimuliert" werden und sie sich beim Lohn "konzessionsbereiter" zeigen. Wie schnell man sie dahin bekommt, wird bereits durch viele Forschungsaufträge untersucht. Wenn sie dann schon aus Zeiten der Arbeitslosigkeit den Weg zur nächsten Tafel kennen, wird das Leben mit Niedriglohn auch erträglicher und alle Beteiligten sind optimal aktiviert.

Alle, die diese "Selbsthilfe" durch niedrige Regelsätze stimulieren wollen, haben ein großes Problem, wenn sich die Regelsätze bei Familien mit Kindern addieren und damit in der Summe die Niedriglöhne erreichen und übertreffen. Das erklärt den besonderen Druck auf die Kinderregelsätze. Aber so weit wie in Großbritannien, wo man bereits laut nachdenkt, ab dem dritten Kind nichts mehr zu zahlen, sind wir noch nicht.

Sanktionen: "sehr rasch und ohne größere Prüfung ausgesprochen"

Die finanzielle Degradierung der Arbeitslosen geht mit einer dramatischen Entrechtung einher. Welche Rolle spielen dabei die Verschärfungen der Zumutbarkeitsregelungen für Arbeit und die sogenannten "Sanktionen"?

Helga Spindler: Hinter der Diskussion über das Existenzminimum wird die Debatte um die Entrechtung der Arbeitslosen, den Abbau ihrer Gestaltungsspielräumen, Mitsprachemöglichkeiten und die Demütigung durch Verwaltungsprozeduren und "Helfer", denen sie völlig ausgeliefert sind, oft vergessen. - Das erscheint zunächst plausibel, denn so eine Rechtsschutzkultur wie in Deutschland und spezielle Sozialgerichte haben die wenigsten Länder. Aber auch Gerichte müssen sich an gesetzliche Regeln halten und so werden die für Arbeitslose strukturell benachteiligenden Bestimmungen in regelmäßigen Abständen verschärft.

Die Menschen werden beispielsweise durch die Zumutbarkeitsregel strukturell benachteiligt. Sie ist zwar im Wortlaut der in der Sozialhilfe sehr ähnlich, über die sich 40 Jahre lang niemand besonders beschwert hat. (Man hat nur die Berücksichtung von Pflichten der Haushaltsführung gestrichen, damit auch traditionelle Hausfrauen durch volle Arbeitsverpflichtung endlich "emanzipiert" werden können). Aber mit der Sozialhilfe wurden weniger und eher arbeitsmarktferne Bezieher versorgt, während mit den ehemaligen Arbeitslosenhilfebeziehern Menschen mit Arbeitserfahrung und Ausbildung in das neue System kamen, deren Fähigkeiten durch den Zwang, jede Arbeit annehmen zu müssen, völlig entwertet werden.

Auch Sanktionen bei Verweigerung zumutbarer Arbeit gab es damals bereits sowohl in Form von Sperrzeiten im SGB III (in der Arbeitslosenversicherung und damit auch bei der Arbeitslosenhilfe fiel auch früher schon bei sogenannten versicherungswidrigem Verhalten der Anspruch bis zu zwölf Wochen weg), als auch als Wegfall des Rechtsanspruchs in der Sozialhilfe.

Aber Letzteres wurden nur sehr vorsichtig und erst nach Konsultationen eingesetzt und vor allem nicht, wenn weitere Familienmitglieder von dieser Maßnahme betroffen waren, weil man sich der Brisanz der Streichung des Existenzminimums bewusst war. Damals konnte man auch während einer Sperrzeit, die ja schon immer eine befristete hundertprozentige Sanktion war, einen verminderten Sozialhilfesatz bekommen, um zu überleben. Das ist jetzt alles abgeschafft.

Heutzutage werden Sanktionen sehr rasch und ohne größere Prüfung ausgesprochen und die häufigeren Behördenkontakte werden offenbar nicht vornehmlich zur Beratung und Unterstützung genutzt, sondern bewirken als sichtbarstes Ergebnis nur deutlich mehr Sanktionen. Zusätzlich hat man auch Familienmitglieder, die für sich selbst genug verdienen, aber nicht alle in der Bedarfsgemeinschaft ernähren können, gesetzestechnisch mit hilfebedürftigen Langzeitarbeitslosen gleich gestellt, um auch sie mit Pflichten und Sanktionen konfrontieren zu können.

Durch alle diese Änderungen hat sich die Anwendung und Auswirkung der Regel verschärft, was noch dadurch verstärkt wird, dass heute Firmen, die sich wegen ihrer unattraktiven Arbeitsangebote früher bei einem Jobcenter nicht gemeldet hätten, übereifrig "beliefert" werden, da diese Vermittlungserfolge produzieren.

"Widersprüche haben keine aufschiebende Wirkung mehr"

Welche Folgen hat diese Praxis für den Arbeitsmarkt?

Helga Spindler: Es kann nicht beruhigen, dass nur wenige Sanktionen wegen Verweigerung zumutbarer Arbeit ausgesprochen werden, wobei sogar schon Versuche einen höheren Lohn zu fordern als sanktionswürdig eingestuft werden. Denn schlimmer sind die Auswirkungen da, wo Stellen nur wegen dieses Sanktionsdrucks angenommen werden. Dort unterbindet der Staat einseitig das Aushandeln der Arbeitsbedingungen und verzerrt damit den gesamten Arbeitsmarkt.

Wenn wir heute das Anwachsen von Hungerlöhnen, Befristungen, tarifloser Beschäftigung beklagen, dann ist das nicht der Globalisierung geschuldet ist, sondern dem staatlichen Druck, der dazu geführt hat, dass solche Stellen auch mit qualifizierten Kräften besetzt werden konnten.

Die in Deutschland traditionell unbeliebte Leiharbeit ist so nicht nur ausgebaut, sondern auch von staatlicher Seite davor geschützt worden, attraktivere Arbeitsbedingungen auch nur andenken zu müssen. Gestaltungsfreiheit und Mitsprachemöglichkeiten werden den Menschen allerdings auch auf anderen Ebenen genommen. Denn alle Fördermaßnahmen, mit denen doch eigentlich geholfen werden soll, stehen unter Sanktionsdrohung.

So werden Maßnahmen, wie die immer gleichen Ein-Euro-Jobs, wiederholte Bewerbungstrainings und von bestimmten Firmen systematisch ausgenutzte unbezahlte Praktika, die viele nicht freiwillig wählen würden, den Hartz-IV-Beziehern in vorgedruckten sogenannten "Eingliederungsvereinbarungen" vom Jobcenter aufgenötigt. Weiterbildung und regulär bezahlte geförderte Arbeit sind praktisch aus dem Förderkatalog verschwunden. Statt Zugang zu seriöser Berufsberatung zu erhalten wird man fragwürdigen Profiling-Techniken unterworfen, die nach beruflichen und persönlichen Defiziten fahnden.

Beschäftigungsträger dürfen sich anmaßen, das Existenzminimum zu kürzen und beliebig Arbeit zuzuweisen oder auch weiterzuverleihen. Vorher klar umschriebene Leistungen zur Unterstützung der Bewerbung sind in einem Vermittlungsbudget verschwunden, das - gesetzlich nach Ermessen, praktisch unter Sparvorgaben und nach Gutdünken - vom Sachbearbeiter verteilt wird. Anders als im übrigen Rechtsverkehr haben Widersprüche keine aufschiebende Wirkung und den Arbeitslosen sind empfindliche Beweislasten aufgebürdet worden.