Der Taxi fahrende Akademiker

Ein vom Aussterben bedrohter Exot?

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Mit einer überraschenden Erkenntnis wartete jetzt Spiegel Online auf: Es gibt sie doch, die taxifahrenden Akademiker. Überraschend mag diese Feststellung tatsächlich demjenigen erscheinen, der die Rubrik "KarriereSpiegel" regelmäßig studiert und die dort von so genannten Berufsberatern, Arbeitsmarktforschern und gelegentlich auch Journalisten veröffentlichten Gute-Laune-Artikel für bare Münze nimmt.

Mit der heiklen Aufgabe, drei Taxifahrer mit Hochschulabschluss zu porträtieren, sah sich nun Jungjournalistin Marie-Charlotte Maas konfrontiert. Ihre Aufgabe erledigte sie bravourös. Zumindest wird ihr niemand vorwerfen können, das anzeigenfreundliche Umfeld des KarriereSpiegel beschädigt zu haben. Dafür sorgt schon die Auswahl der Porträtierten: Motzkoffer und Miesepeter sind nicht darunter. Und schon im Vorspann erfährt der Leser, dass die drei diplomierten Taxifahrer "gerne hinter dem Steuer sitzen" und "nicht mehr tauschen" wollen.

Nur fantasielose Menschen, lässt uns die Autorin wissen, hielten Taxifahren für eine "Notlösung". Auch intellektuell ist diese Tätigkeit durchaus eine Herausforderung, die sich vor akademischen Berufen nicht verstecken muss, erfahren wir weiter. So sei etwa "eine fundierte Ortskenntnis von Straßen, Hotels und Abkürzungen in einer deutschen Großstadt nicht zu unterschätzen", meint Maas.

Da erscheint es schon fast erstaunlich, dass so wenige Intellektuelle diesen geistig anregenden und herausfordernden Beruf wählen. Denn merke: "Das Klischee, dass ein Großteil der Geisteswissenschaftler später einmal Taxi fährt, (hat) "noch nie gestimmt". In dem zur Untermauerung dieser These verlinkten Artikel räumt Joachim Möller, Leiter des Instituts für Arbeitsmarkt- und Berufsforschung (IAB) - einem Forschungsinstitut der Bundesagentur für Arbeit - gründlich mit dem Klischee auf, Soziologiestudenten müssten später Taxi fahren oder im Callcenter knechten. Die fett gedruckte Quintessenz lautet: "Die Mehrzahl ist zufrieden mit ihrer Lage" und das Fazit: "Akademiker stehen eindeutig auf der Gewinnerseite des Arbeitsmarkts. Studieren lohnt sich. Das gilt auch für die Soziologie und die anderen geistes- und sozialwissenschaftlichen Fächer." Wer angesichts solch paradiesischer Arbeitsmarktbedingungen trotzdem Taxi fährt, der ist sicher seiner Eigenverantwortung nicht gerecht geworden, so darf und soll der Leser wohl ergänzen.

Oder er macht es freiwillig und hat Spaß dran, so wie der Diplom-Psychologe Uwe Fromm (52), der seinen Beruf zum Hobby gemacht hat. Auch einige seiner Kollegen hätten ein abgeschlossenes Studium, verrät Fromm.

Taxifahrer Nummer 2, Seyed Hossein Jalali (59), kam mit 24 nach Deutschland, lernte Deutsch und integrierte sich. Mit 36 machte er seinen Abschluss in Bauingenieurwesen an einer Fachhochschule. Doch äußert er Verständnis dafür, dass sich - trotz des sicher auch seinerzeit schon grassierenden "Fachkräftemangels" - niemand fand, der ihn "in diesem hohen Alter" noch "einarbeiten" wollte. Als Straßenbahnfahrer habe man ihn auch nicht gewollt, da "überqualifiziert", und so sei er eben Taxifahrer geworden. Auch Jalali kennt andere Taxi fahrende Akademiker: "Unter meinen Kollegen gibt es viele Akademiker. Einen Zahnarzt, einen EDV-Fachmann, mein Chef ist Maschinenbauer. Ich kenne auch viele Iraner, die als Taxifahrer arbeiten und studiert haben."

Ähnliches weiß der Theologe Thomas-Dietrich Lehmann (57) zu berichten, der für eine Taxigenossenschaft in Kreuzberg fährt: "Wir sind zehn Personen mit zwei Autos, nicht wenige von uns haben studiert, sind zum Beispiel Filmemacher oder Archäologen." Und wie Fromm und Jalali wird auch Lehmann häufig von Fahrgästen darauf angesprochen, dass er doch bestimmt "nicht in der Taxe geboren" sei.

Da reibt sich der Leser verwundert die Augen. Ist der Taxi fahrende Akademiker also womöglich doch keine Rarität? Und wenn ja, wie konnte dies dem KarriereSpiegel und renommierten Arbeitsmarktforschern so lange verborgen bleiben? Schließlich scheint doch auch Marie-Charlotte Maas davon auszugehen, dass es nur Zufall sein kann, dass ausgerechnet ihre drei Muster-Diplom-Taxifahrer "viele", "nicht wenige" oder zumindest "einige" studierte Kollegen kennen. Oder etwa doch nicht?

Wenn "der Großteil der Geisteswissenschaftler" nicht Taxifahrer wird, dann kann das ja auch heißen, dass 40 Prozent es doch werden. Doch das kann Maas kaum gemeint haben. Stützt sich doch IAB-Chef Möller, dessen Artikel sie als Beweis für diese These heranzieht, auf Studien, die ein weitaus rosigeres Bild malen. So entdeckte der Erlanger Soziologie-Professor Werner Meinefeld unter den Absolventen seiner Universität nicht einen Taxifahrer.

Was Möller, im Gegensatz zu Meinefeld, jedoch nicht erwähnt: Die Ergebnisse seiner Studie könnten durchaus verzerrt sein, falls die im Prekariat gelandeten Absolventen überproportional häufig die Fragebögen nicht zurückschickten. Vielleicht weil sie, wie die drei Muster-Taxifahrer, nicht so gerne daran erinnert werden möchten, dass sie sich ihr Studium im Grunde auch hätten sparen können. Oder um es im Soziologen-Jargon auszudrücken: Weil sie kognitive Dissonanz vermeiden möchten. Um das wiederum zu bewerkstelligen, bleibt ihnen, wenn sie ihre Situation schon nicht ändern können, nur die Einstellung dazu. Kurz gesagt: Der Prekarier redet sich sein Dasein schön. Was dann doch wieder recht hübsch in den KarriereSpiegel passt.