Der Ukraine-Krieg und seine Risiken: Warum wir jetzt eine realistische Russland-Politik brauchen
Bedroht Putin die Nato oder riskieren wir einen Atomkrieg? Von diesen Gefahren sollte nur eine davon ernst genommen werden. Aber nicht diejenige, über die wir dauernd sprechen.
Vergleichen wir einmal die zwei Risiken, die mit dem weiteren Verlauf des Ukrainekriegs verbunden sein könnten. Zum einen könnte Putin auf den Gedanken verfallen, auch noch die Nato anzugreifen. Davon ist überall die Rede. Unterdessen wird eine Verdreifachung des "Sondervermögens" für Rüstung gefordert, denn Putin bedrohe uns alle.
Konfrontation oder Deeskalation: Was erwartet Europa?
Freilich würde das Beistandsbündnis Nato noch im selben Moment in einen europäischen Krieg eintreten, indem etwa ein Angriff auf das Baltikum stattfände. Es käme zu einer Katastrophe, wie sie die Welt seit 1945 nicht mehr gesehen hat. Anschließend wäre Europa ein Trümmerfeld. Ob sich dann jemand als "Sieger" betrachten könnte, ist unwahrscheinlich.
Vom zweiten Risiko neben einem Angriff Putins auf die Nato ist fast niemals die Rede. Jedenfalls nicht bei den führenden Politikern und Leitmedien. Es handelt sich um das Risiko eines Atomkriegs. Auch dieses Risiko deutet auf ein unvorstellbares Desaster hin.
Die globale Bedrohung durch einen Atomkrieg
Mit dem Unterschied aber, dass sich diese Katastrophe nicht auf Europa beschränken würde, sondern den ganzen Globus in Mitleidenschaft zöge. Nach einer atomaren Auseinandersetzung in Europa oder gar einem strategischen Schlagabtausch zwischen den USA und Russland würde die uns bekannte Zivilisation auf dieser Erde verschwunden sein. Und leicht könnte eintreten, was früher zur Warnung vor einem Atomkrieg gängige Rede war: "Die Lebenden werden die Toten beneiden."
Die gefährliche Illusion der politischen Führung
Immerhin denkbar wäre es, dass verantwortungsvolle Politik beide Risiken ins Auge fasst, sie vergleicht, abwägt und daraus Konsequenzen zieht. Aber nichts in dieser Richtung geschieht. Keine Anstrengung, realistisch zu sein, keine nüchterne Abwägung zwischen zwei Übeln, kein Versuch, jenen Weg zu wählen, der die Sicherheit der Bevölkerung am meisten garantiert.
Nato-Stärke vs. Russland: Ein realistischer Vergleich
Risiko eins: Putin greift die Nato an. Ermutigt durch einen Sieg oder Teilsieg über die Ukraine macht er sich über das Baltikum oder sagen wir Polen her. Wie wahrscheinlich ist das? Fragen wir zunächst nach dem Stärkeverhältnis. Zitat aus der Online-Plattform Statista:
In den Nato-Ländern gab es im Jahr 2023 ca. 3,36 Millionen aktive Soldatinnen und Soldaten. Rechnet man die Reserveeinheiten sowie die paramilitärischen Einheiten hinzu, ergibt sich für die NATO eine Summe von etwa 5,82 Millionen Personen. Russland verfügte zum gleichen Zeitpunkt über 830.900 aktive Soldatinnen und Soldaten; die Gesamtsumme des militärischen Personals liegt bei 1,33 Millionen.
Im Hinblick auf die militärische Ausrüstung besteht ein ähnliches Ungleichgewicht. Wie wahrscheinlich ist es, dass das militärisch weit unterlegene Russland einen Angriff auf die Nato startet? Rational gesehen sicherlich gleich null. Dennoch ist nun permanent davon die Rede.
Das Undenkbare: Wie nahe sind wir einem Atomkrieg?
Jetzt zum zweiten der möglichen militärischen Risiken, dem Atomkrieg. Hier sieht sich Deutschland wegen seiner "atomaren Teilhabe" unter dem Schutz der USA. Ein Vergleich der Waffenstärke zwischen Russland und den westlichen Atomwaffenbesitzern ist nicht unbedingt sinnvoll, denn auf jeden Fall sind "ausreichend" Nuklearwaffen in Ost wie auch West vorhanden.
Gehen wir einmal davon aus, dass niemand einen atomaren Angriff als Erstschlag beabsichtigt, würde das bestehende Arsenal für die Abschreckung genügen. Dennoch wird kräftig aufgerüstet.
Wie wahrscheinlich ist es, dass wir mit dem Ausbruch eines Atomkriegs rechnen müssen, dem im Hinblick auf die möglichen Folgen bei Weitem katastrophaleren Risiko? Darüber wird im Gegensatz zum ersten Risiko, dem Angriff Putins auf die Nato, öffentlich vorwiegend geschwiegen.
Aus den politischen Führungsetagen hört man diesbezüglich so gut wie nichts, bei den ihnen zugetanen Medien des Mainstreams sieht es ähnlich aus. Es scheint, als sei das atomare Risiko hinter einer Mauer des Schweigens und des Wegschauens verborgen. Was der Philosoph Günther Anders einmal als Apokalypse-Blindheit bezeichnete – vorwiegend dort, wo über das Schicksal der Menschen entschieden wird, scheint sie total zu sein.
Die Atomsprengköpfe lagern zwar einsatzbereit in ihren Silos, aber Öffentlichkeit und Politik kümmert es nicht. Fragt man nach, hört man formelhafte Selbstberuhigungen. Der Kalte Krieg, so heißt es, habe hinlänglich bewiesen, dass die atomare Abschreckung wirkt. Die Existenz von Nuklearwaffen in West wie Ost könne man also getrost vergessen. Atomwaffen neutralisieren einander.
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Weshalb dann aber, so könnte gefragt werden, wird der Atomkrieg in Manövern immer wieder geprobt? Weshalb wird in militärischen Planungsstäben ganz konkret der Einsatz solcher Waffen vorbereitet? Weshalb wird dieser Waffentypus technisch beständig perfektioniert?
Weshalb ist man nicht nur in Russland stolz darauf, Atommacht zu sein? Weil Atomwaffen eigentlich "Papiertiger" sind, die keinerlei militärische Bedeutung haben? Sozusagen rein "theoretische" Waffen, die natürlich niemals auf den Schlachtfeldern eine Rolle spielen werden?
Abschreckung oder gefährlicher Glaube? Nukleare Wahrheiten
Solche Fragen scheinen fast niemanden zu interessieren. Man weiß ja, da besteht kein Risiko, über das es sich nachzudenken lohnt. Leider deckt sich das, was hier öffentlich selbstverständlich ist, in keiner Weise mit dem, was Experten dazu sagen. Kein Atomstratege hat jemals behauptet, Abschreckung mit Nuklearwaffen sei risikolos.
Der bekannte US-Stratege des Kalten Kriegs, Herman Kahn, ging im Gegenteil davon aus, dass atomare Abschreckung versagen werde. Eines Tages werde der Atomkrieg mit Sicherheit stattfinden. Es gehe nicht darum, diese Tatsache zu verleugnen, sondern sich darauf vorzubereiten.1
Und ist es wirklich so klar, dass uns die atomare Abschreckung wenigstens einigermaßen schützt? Der Atomwaffenexperte der Berliner Stiftung Wissenschaft und Politik, Peter Rudolf, ist der gegenteiligen Ansicht. Er sagt es so2:
Bei der nuklearen Abschreckung handelt es sich um ein Konstrukt, ein System von nicht verifizierbaren Annahmen, das geradezu ideologischen Charakter hat. Abschreckungspolitik beruht auf Axiomen, für die es keine empirische Evidenz im wissenschaftlichen Sinne gibt, sondern allenfalls anekdotische Evidenz, deren Interpretation also glaubensgeleitet ist. Der Glaube an die nukleare Abschreckung ist ebendies – ein Glaube.
Putins Wahn oder rationale Kriegsführung? Eine Analyse
Natürlich enthalten beide der verglichenen Risiken Glaubensmomente, genauer gesagt nicht beweisbare Annahmen. Ob ein wild gewordener Putin Weltmachtträume umsetzen möchte, indem er einen weit überlegenen Gegner angreift oder ob die atomare Abschreckung versagt, beides ist letztlich ungewiss.
Aber es gibt einen Unterschied: Beide Möglichkeiten beruhen auf psychologisch konträren Voraussetzungen. Würde Putin David gegen den Goliath spielen wollen, indem er sowohl gegen Europa als auch die USA zu Felde zieht, müsste er verrückt sein. Die Verrücktheit oder Irrationalität Putins wird implizit daher von all denen unterstellt, die vor einem solchen Angriff warnen.
Die gleichen Beobachter beurteilen Putin aber vollkommen anders, wenn es um die Atomkriegsfrage geht. Da ist Putin plötzlich gar nicht mehr verwirrt oder gar wahnsinnig, sondern ein höchst vernünftig agierender Akteur.
Denn das Konzept einer den Frieden verbürgenden nuklearen Abschreckung beruht auf dem Axiom, dass sich alle Beteiligten strikt rational verhalten. Immer sind sie in der Lage, ihre langfristig wohlverstandenen Interessen klug im Auge zu behalten.
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Wäre also Putin tatsächlich verrückt, dann wäre gewiss ein Angriff auf die Nato denkbar, aber viel eher noch der Eintritt Russlands in einen Atomkrieg, eine Situation zudem, deren Zerstörungspotenzial einen konventionellen Krieg mit der Nato um ein Vielfaches übersteigt.
Auf dieses Risiko sollte sich also die Aufmerksamkeit vor allem richten. Denn kluge Zurückhaltung im Sinne der Abschreckungslogik könnte von einem irrational motivierten Putin nicht erwartet werden.
Was denn nun? Wovon sollen wir ausgehen? Unsere politische Führungsebene verfügt über keine Antwort. Ihr Verständnis der Sachlage ist gänzlich inkonsistent. Sie beantworten die Frage, ob Putin verrückt oder rational sei und mit welchem Verhalten damit am ehesten zu rechnen sei, wie Grundschüler, die die Prinzipien der Logik bisher nicht kennen.
Im Grunde wird ihre Wahrnehmung durch ihre Wünsche gesteuert. Man möchte die gewünschte Aufrüstung vorantreiben, die noch zulegt, wo ohnehin genug vorhanden ist. Gleichzeitig muss die weit größere Gefahr heruntergespielt werden, indem man sie schlicht ignoriert. Mit sachlicher Risikoabwägung hat das nichts zu tun.
Die Selbstmordoption: Kriegsfortführung nach Russland
Nehmen wir etwa den CDU-Außenpolitikexperten Roderich Kiesewetter. Nicht als einer der Ersten forderte er, endlich den Ukrainekrieg auf russisches Gebiet auszuweiten.
"Russische Militäreinrichtungen und Hauptquartiere müssten zerstört werden. Wir müssen alles tun, dass die Ukraine in die Lage versetzt wird, nicht nur Ölraffinerien in Russland zu zerstören, sondern Ministerien, Kommandoposten, Gefechtsstände", so berichtet die Deutsche Welle Kieswetters Einlassungen. Offenbar macht sich Kiesewetter keine Sorgen darüber oder es ist ihm nicht klar, dass genau dieses Vorgehen den Atomkrieg auslösen könnte.
Denn die russische Nukleardoktrin fordert den Einsatz von Atomwaffen, wenn die nuklearen Führungs- und Kontrollsysteme angegriffen werden oder eine existenzielle Bedrohung Russlands vorliegt.
Auch ohne ausdrückliche Doktrin wäre das naheliegend. Die USA würden es für sich nicht anders sehen. Hauptquartiere, Ministerien, Kommandoposten – ein Machthaber (verrückt oder nicht verrückt), was würde er tun, wenn ihm das Hauptquartier in Schutt und Asche gelegt wird? Nur krankhafte Optimisten würden garantieren, dass er dann keine Nuklearwaffen einsetzt.
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Kommt noch ein weiteres hinzu. In Hinblick auf den Atomkrieg entscheiden längst nicht mehr nur Menschen allein. Frühwarnsysteme auf Computerbasis unter Beteiligung von Künstlicher Intelligenz verhalten sich nach eigenen Regeln, die nicht unbedingt unseren Moralvorstellungen entsprechen. In Russland muss, wie die New York Times berichtete, damit gerechnet werden, dass eine Vorrichtung der sogenannten dead hand existiert.
Sie wurde zur Sowjetzeit eingerichtet und garantiert den automatischen nuklearen Gegenschlag für den Fall, dass das Personal des Hauptquartiers bzw. des Regierungssitzes ausgelöscht wurde.
Überhaupt befinden wir uns in einer extremen Gefährdung durch die zunehmende Delegierung atomarer Einsatzentscheidungen an Maschinen. Die mehrfachen Warnungen von Informatikern vor einem "Atomkrieg aus Versehen" insbesondere in kriegerisch brenzligen Situationen interessieren unsere Spitzenpolitiker ebenfalls nicht.
Wie auch immer: Mit Recht haben Kritiker des westlichen Vorgehens in der Ukraine immer wieder darauf hingewiesen, dass Putin erst dann wirklich gefährlich werden könnte, wenn er in eine Position der Schwäche gedrängt wird.
Dann ist mit irrationalen Übersprungshandlungen zu rechnen. Kaum würde er sich mit einem Winseln geschlagen geben. Soll Russland besiegt und niedergeworfen werden, wie es militaristische Falken wie Kiesewetter, Hofreiter oder Strack-Zimmermann fordern, dürfte man sich auf unangenehme Überraschungen gefasst machen.
In Putins Kopf: Verstehen wir den Gegner richtig?
Risikovergleiche setzen voraus, dass man die Perspektive der anderen Seite kennt. Solange ein solcher Blickwechsel als Feindpropaganda gilt, wird die Realität zugunsten von Verteidigungsbereitschaft und der Aufrechterhaltung von Feindbildern ausgeblendet.
Dabei kann man fast schon von Glück reden, dass Russland dabei ist, den Ukrainekrieg zu entscheiden und damit einen Endpunkt zu setzen. Weitere Nadelstiche gegenüber diesem Angreifer, eventuell die ernsthafte Zerstörung seiner Führungsstrukturen, die Opferung auch von weiteren Zehntausend ukrainischer (und auch russischer) Soldaten sind nicht nur sinnlos, sie erhöhen das Risiko einer atomaren Eskalation gerade in der Endphase des Kriegs.
Welchen Sinn hätte es, aus lauter Furcht vor einem Angriff Putins auf die Nato den Ukrainekrieg bis zum Inferno voranzutreiben?
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