Der Westen muss Indien etwas anbieten

Giftige Schaumkronen auf dem Yamuna-Fluss in Delhi, Ende November. Bild: Gilbert Kolonko

In unseren Medien wird es oft so dargestellt, als gebe es Umweltproteste nur in den westlichen Demokratien. Das Gegenteil ist der Fall. Indien braucht endlich Taten statt Worte – auch von Deutschland.

Im Mai 2018 demonstrierten im südindischen Thoothukudi 30.000 Menschen für die Schließung eines Kupferschmelzwerks der Vedanta-Gruppe. Es war der hundertste Protesttag in Folge, an dem die Demonstrierenden den Werkbetreibern lautstark vorwarfen, die Luft und das Grundwasser zu verschmutzen. Am Ende des Tages waren 13 Demonstranten tot.

Scharfschützen schießen auf Demonstranten

Fernsehbilder zeigten, wie Scharfschützen der Polizei unbedroht und ohne jede Warnung von den Dächern der Polizeiwagen in die Menge schossen.

Die Proteste gingen weiter. Und obwohl das Werk Sterlite 40 Prozent des indischen Kupferbedarfs deckte und 5.000 Menschen beschäftigte, war der Druck der Bevölkerung so groß, dass die Regierung des Bundestaates Tamil Nadu die Fabrik schließen ließ und alles dafür tat, damit das Werk bis heute geschlossen blieb.

Bemerkenswert: Regierung und Opposition von Tamil Nadu hielten gegen den Druck der Zentralregierung von Premierminister Narendra Modi zusammen, die die Kupferschmelze wieder öffnen wollte. Seit diesem Sommer bietet die Vedanta-Gruppe das Kupferwerk zum Kauf an.

Auch im Südwesten Indiens – von Goa , über den Osten des Landes bis in den hohen Norden – wehren sich Menschen gegen Umweltzerstörungen.

Auch die bürgerliche Mitte geht in Indien wegen der Umwelt auf die Barrikaden. Bild: Gilbert Kolonko

Dabei wird ebenfalls auf Demonstranten geschossen und der Tod Einzelner in Kauf genommen. "Es ist immer das gleiche Prinzip", sagt Dr. Gopal Krishna von ToxicWatch. "Im Namen des Fortschritts wird der Lebensraum der lokalen Bevölkerung zerstört, damit wenige hohe Profite einfahren können."

Engagierte indische Journalisten, die in Sachen Umweltverbrechen recherchiert hatten, wurden ermordet aufgefunden. Das hat mit dazu geführt, dass Indien im Index der Pressefreiheit auf Platz 142 abgestürzt ist.

Die Repressalien begannen nicht erst, seit die hindu-nationalistische Regierung von Narendra Modi regiert. Schon vor dem Jahr 2014 unter den Regierungen der liberalen Kongress-Partei galt das Motto: Wirtschaftswachstum um jeden Preis.

Umwelt- und Sozialaktivisten werden kriminalisiert

Umwelt- und Sozialaktivisten wurden und werden kriminalisiert, weil sie aufzeigen, dass Soziales und Umweltschutz zusammengehören. Und beides stört laut den Regierenden die Entwicklung Indiens. "Mit dieser Begründung fror die Regierung 2013 unsere Konten ein," sagt Willy de Costa, Vorsitzender des NGO-Dachverbandes Indian Social Action Forum (INSAF). "Wir gingen vor den High Court und gewannen. Kurz darauf wurden unsere Konten wieder eingefroren."

2015 gewann INSAF erneut vor dem High Court. Doch kurz darauf das gleiche Spiel: Wieder wurden die Konten von INSAF eingefroren. Im Jahr 2020 gewann INSAF sogar vor dem Supreme Court, dem obersten Gericht Indiens. Wieder sperrte die Regierung die Konten. "Also haben wir wieder Klage eingereicht", sagt De Costa achselzuckend und mit stoischer Miene in seinem Büro in Delhi.

Gift und Geld

In der Luft der indischen Hauptstadt werden aktuell Feinstaubwerte von bis zu 900 mg (PH10) gemeldet. Sie übertreffen damit den Grenzwert der WHO um das 60-Fache. Ein paar Kilometer weiter treiben giftige Schaumkronen auf dem Yamuna-Fluss, an dessen Ufern Delhi liegt. Seit Langem gilt er als einer der giftigsten Flüsse weltweit.

In Old Delhi herrschen Chaos, Verkehrskollaps, Dichte und Lärm. Die meisten Bewohner leben praktisch von der Hand in den Mund. Ihr spärliches Auskommen finden 90 Prozent der arbeitenden indischen Bevölkerung im informellen Sektor.

Verbesserungen der prekären Arbeitsverhältnisse verspricht sich die Regierung von mehr Wirtschaftswachstum. Antibiotika, Leder oder Textilien werden vom Westen in Indien allerdings nur gekauft, solange sie billig sind. Andere Länder wie beispielsweise Bangladesch produzieren jedoch noch billiger – weil noch dreckiger.

Dass Indien mittlerweile im IT-Sektor weit vorne liegt, macht Hoffnung. Aber von diesem Boom profitiert nur eine vergleichsweise kleine Schicht – für die Masse bietet der IT-Sektor kaum Arbeit. Nicht nur Vietnam hat Indien wirtschaftlich inzwischen abgehängt, auch die Philippinen und Indonesien.

Mittlerweile hat sogar Bangladesch, das einstige "Armenhaus" Südostasiens, mit 2.500 US-Dollar ein größeres Pro-Kopf-Jahreseinkommen als Indien, das aktuell bei 2300 US-Dollar liegt.

Um weiter wachsen zu können, muss Indien – nach den derzeitigen Regeln des Marktes – seinen Energieverbrauch massiv steigern. Auch wenn der Subkontinent in Sachen erneuerbarer Energien große Fortschritte gemacht hat und die günstigsten Solarstrompreise der Erde anbietet: Die meiste Energie wird weiterhin aus Kohle gewonnen – aktuell sind es 70 Prozent bei der Stromgewinnung.

Die Frauen stehen bei den Protesten in Indien ganz vorne. Bild: Gilbert Kolonko

Schon vor mehreren Jahren wurde öffentlich, dass die indische Regierung plant, den Verbrauch von Kohle zur Stromherstellung bis 2037 zu verdoppeln. Eine Studie des staatlichen Instituts NITI Aayog, die unbeabsichtigt publiziert worden war, belegt dies.

Allein in diesem Jahr hat die indische Regierung 141 neue Gebiete zur Ausbeutung von Kohle ausgeschrieben.

Angepeilt wurde im laufenden Wirtschaftsjahr, 900 Millionen Tonnen (Stein) Kohle zu fördern. Zum Vergleich: In Deutschland wurden 2021 nur 126 Millionen Tonnen (Braun) Kohle gefördert – weltweit wurden 7,7 Milliarden Tonnen abgebaut.

Wenn man überdies berücksichtigt, dass Indien bis 2037 die Förderung und den Verbrauch noch steigern möchte, dürfte klar sein, dass selbst das Ziel, die Erderwärmung auf zwei Grad zu begrenzen, ein frommer Wunsch bleiben wird. Indien würde 2037 alleine zur Stromproduktion 1,6 Milliarden Tonnen Kohle verbrennen.

Selbstverständlich hat auch Indien ein Recht auf wirtschaftliche Entwicklung. Zurzeit liegt der indische Pro-Kopf-Austoß an CO2 laut Statistica bei 1,69 Tonnen im Jahr. In China beträgt er knapp 7 Tonnen. Deutschland kommt auf 7,75 und die USA liegen bei 14,4 Tonnen.

Geschäfte

Um zu verstehen, wie heillos verflochten Welthandel und Politik sind, ist ein Blick aus der Vogelperspektive aufschlussreich. Wenn es Deutschland passt, wird Indien als "Anker der Demokratie" gelobt.

Doch die Zahlen sagen etwas anderes: Im Vor-Corona-Jahr 2019 betrug das deutsche Handelsvolumen mit Indien 21 Milliarden Euro. Mit der Diktatur China dagegen wurden Geschäfte in Höhe von 206 Milliarden gemacht. Im Jahr 2020 sank der Handel mit Indien auf 19,5 Milliarden. Dass er mittlerweile wieder steigt, verwundert nicht: Indiens wichtigste Exporte nach Deutschland sind Erdölerzeugnisse und verwandte Waren.

Und natürlich ist es nicht der indische Staat der in Massen russisches Öl kauft, sondern in erster Linie die indischen Konzerne Nayara and Reliance Industries, die dann das verarbeitetes Rohöl zum Beispiel als Dieselkraftstoff nach Deutschland verkaufen.

Doch selbst diese Geschäfte sind in der Business-Sprache "Peanuts": Im Jahr 2021 stieg das Handelsvolumen zwischen Deutschland und China auf 246 Milliarden Euro.

Jede geförderte und verbrannte Tonne Steinkohle setzt 2,68 Tonnen CO2-Emissionen frei. Indien würde 2037 alleine zur Stromproduktion 1,6 Milliarden Tonnen Kohle verbrennen und damit 4,3 Milliarden Tonnen CO2 freisetzen. Bild: Gilbert Kolonko

Wenn der Westen Indien im globalen Gefüge wirklich auf seine Seite ziehen will und dem Land helfen möchte, wirtschaftlich voranzukommen und seine Emissionen zu senken, wäre eines unabdingbar: nämlich dass die USA und die EU gegenüber Indien anerkennen, dass sie bis jetzt 10 mal mehr CO2-Emissionen in die Luft geblasen haben, als das bevölkerungsreichere Indien.

Gleichzeitig müssen die westlichen Industrieländer Indien Angebote unterbreiten, die den indischen Wirtschaftsinteressen praktisch entgegenkommen. Ein Blick in den Stadtteil Ghazipur von Dehli zeigt, dass es sich dabei nicht unbedingt um direkte Geldzahlungen handeln muss.

Mitten im Kiez von Ghazipur erhebt sich ein 65 Meter hoher Müllberg, der sich über eine Fläche von 24 Hektar erstreckt. Die 2.300 Tonnen Abfall, die täglich neu dazukommen, sollen mit Hilfe thermischer Müllverwertung in Strom umgewandelt werden.

Doch die Anlage (mit belgischer Technik ausgestattet) kann täglich nur 1.300 Tonnen verarbeiten, zudem war sie bis Mai 2022 sechs Monate außer Betrieb. Direkt neben dem Müllberg befindet sich eine Molkerei, Wohnviertel grenzen an die gigantische Halde. Ähnlich stinkende und giftige Müllberge gibt es auch in anderen Großstädten Indiens wie etwa jene in Kolkata, von der in einer Reportage auf Telepolis berichtet wurde.

Um die Gefahren für Umwelt und Bevölkerung einzudämmen, könnte die EU Indien 100 Müllverbrennungsanlagen der neusten Generation spenden. Das würde auch der deutschen Wirtschaft Aufträge verschaffen.

Dazu gibt es in Indien das Kerala-Model, an das weitere Hilfen anknöpfen könnten: Obwohl der südindische Bundestaat Kerala nicht das höchste Pro-Kopf-Einkommen aller indischer Bundestaaten hat, liegt es in den sozialen Indexen wie Bildung oder Gesundheit immer mit an der Spitze.

Unwahrscheinlich, dass etwas in dieser Art passiert. Die Weltwirtschaft folgt kapitalistischen Prinzipien und lebt davon, dass jedes Land mit dem anderen wirtschaftlich in Konkurrenz steht und Konzerne die Länder gegeneinander ausspielen können.