Der Wolf hat Kreide gefressen

Friedrich Merz. Bild: Olaf Kosinsky / CC-BY-SA-3.0-DE

Friedrich Merz wird nun also doch noch CDU-Chef

Was unterscheidet in einer Partei ein "Mitglied" (Friedrich Merz) von einem "Funktionär" (Markus Söder)? Antwort: Die einen zahlen Beitrag, die anderen machen die Arbeit.

Bei der nun beendeten Abstimmung, bei der sich alle CDU-Mitglieder zwischen den drei Kandidaten Helge Braun, Friedrich Merz und Norbert Röttgen für den von ihnen favorisierten Vorsitzenden entscheiden mussten, fiel die Wahl nun mit über 60 Prozent auf Friedrich Merz (CDU-Basis wählt den Anti-Merkel). Dies gilt als Empfehlung an die Delegierten beim kommenden Bundesparteitag. Mit der Wahl von Friedrich Merz ist zu rechnen.

Zugleich hat sich nichts, aber auch gar nichts, an all den Argumenten geändert, die vor einem Jahr gegen einen CDU-Parteivorsitzenden Friedrich Merz gesprochen haben, und die dazu führten, dass die Wahl auf Armin Laschet fiel. Das Einzige, was sich geändert hat, ist der geistige Zustand der CDU.

Nach der deutlich verlorenen Bundestagswahl vom September ist die CDU von Angst und Panik durchzogen. Das Verhältnis zur bayerischen Schwesterpartei CSU ist tief gestört, der bayerische Ministerpräsident Markus Söder scharrt weiterhin mit den Hufen, um zur Führungspersönlichkeit des demokratischen Konservativismus in Deutschland zu werden.

Politische Illusionen

Es ist zwar richtig, dass es zu den politischen Illusionen der deutschen Medienlandschaft gehört, dass die Politik auf allen Ebenen und in allen Lagern "weiblicher" und "basisdemokratischer" werden soll und sich stärker am identitätspolitischen Proporz orientieren müsse.

So hat man der CDU jetzt gern vorgeworfen, dass es nur drei männliche Kandidaten für den Vorsitz gebe und keine Frau. Und kein(e) Ostdeutsche(r). Und dass zwei der drei Kandidaten aus NRW kämen, obwohl doch schon Armin Laschet... Die das schreiben, sind Kommentatoren aus dem Medienmainstream, die ziemlich oft nicht mit der Union sympathisieren. Zudem könnte man argumentieren: Gerade die CDU hat ja lange genug eine ostdeutsche Frau an der Spitze gehabt – was hat das der CDU gerade im Osten gebracht? Haushohe Niederlagen und den Aufstieg der AfD.

Davon unabhängig ist aber vor allem zu fragen: Stimmt denn die Diagnose? Zweifel sind angebracht. Zum einen müssen ja nicht alle Parteien so ticken wie die Grünen. Zum zweiten sollten wir uns daran erinnern, dass gerade die Ostdeutschen in der CDU im vergangenen Jahr massiv für Friedrich Merz und dann für Markus Söder eingetreten sind. Also für zwei Westdeutsche, einen davon aus NRW. Im Osten mag man auch Hans Georg Maaßen, einen Rechtsaußen aus Mönchengladbach - also aus NRW.

Könnte es sein, dass Regionalproporz, ja überhaupt Proporzdenken eher in der linken Seite des politischen Spektrums daheim ist? Die ostdeutsche CDU will jedenfalls keinen Ostdeutschen und keine Frau im Spitzenamt.

"Partei in Auflösung?"

Die Lage der CDU nach Ende der Ära Merkel ist womöglich weit schlechter, als es von außen den Anschein hat. Denn die überraschend verlorene Bundestagswahl ist nur ein Augenblicksproblem.

Schon schwerer wiegt der unter Merkels Regierung nur beiseite geschobene, aber nie ausgetragene Konflikt zwischen den verschiedenen Parteiflügeln – es sind derer mindestens vier: die alten Nationalkonservativen (die prinzipiell für eine Zusammenarbeit mit der AfD offen sind), die Neoliberalen (die ein schwarzgelbes Bündnis anvisieren), die Sozialkatholiken und "Herz-Jesu-Marxisten" (für die eine Große Koalition wünschenswert ist) und die neuen Modernisierer (die Schwarzgrün oder Jamaica favorisieren).

Spätestens 2015 explodierten diese schwelenden Konflikte anhand des Umgangs mit der Flüchtlingskrise. Die Erfolge der AfD sind maßgeblich darauf zurückzuführen, dass unter Merkel die Nationalkonservativen nicht mehr eingebunden werden konnten.

Hinzu kommt das ungeklärte und spätestens in diesem Jahr in den Grundfesten erschütterte "Schwesterpartei"-Verhältnis mit der CSU. Noch nie war so laut über eine gegenseitige gesamtdeutsche Ausdehnung der beiden Parteien nachgedacht worden. Aber wer würde in diesem Konzert welche Rolle spielen, wo doch eigentlich in der Machterhaltspartei Union vier bis fünf Parteien vereint sind? Die zentrifugalen Kräfte haben jedenfalls massiv zugenommen.

Als eine "Partei in Auflösung?" beschrieb – immerhin noch mit Fragezeichen – die Unions-Expertin Mariam Lau bereits im Oktober in der Zeit den Zustand der Partei.

Charakterfragen und BlackRock

Zur größten Belastung im kommenden Jahr wird einerseits die Kurzatmigkeit des politischen Betriebs – mehrere Landtagswahlen stehen bevor, nicht zuletzt welche, bei denen die CDU-Ministerpräsidenten-Ämter zu verteidigen hat. Friedrich Merz bleibt also keine Zeit, die Partei zu konsolidieren oder programmatisch neu aufzustellen.

Stärker ins Gewicht fallen dürfte anderseits die Person und die Persönlichkeit des neuen Parteivorsitzenden. Es wird nicht lange dauern, bis zum ersten Mal das Wort "BlackRock" fällt - bis sich auch Parteimitglieder daran erinnern, dass Friedrich Merz zwar für die Steuererklärung auf dem Bierdeckel steht, aber nicht für die Gleichberechtigung der Frauen.

Eine offene Frage ist vor diesem Hintergrund: Wie attraktiv bleibt der Vorsitzende Friedrich Merz in Zukunft bleiben, wenn ihm die bisherigen Alternativen namens Armin Laschet, Norbert Röttgen, Jens Spahn, oder gar Angela Merkel zur persönlichen Profilierung fehlen.

Was bleibt, wenn der profillose Friedrich Merz plötzlich Profil aus sich selbst generieren soll?

Bisher war Friedrich Merz ein politischer Charakter, der inhaltlich für einen gesellschaftlich vergleichsweise liberalen Kurs stand, ökonomisch zugleich für Neoliberalismus pur und damit für die politische Deregulierungs-Agenda der 1980er und 1990er Jahre, in denen er politisch sozialisiert wurde. In seinem Politikverständnis ist März ebenfalls Oldschool: von oben herab, hierarchisch und autoritär.

Noch mehr Konservativismus braucht aber eine Partei nicht, deren Wähler zu den Grünen und SPD abgewandert sind, analysiert Gustav Seibt in der SZ.

Für den Charakter des Kandidaten ist die Diagnose einfach: Der Wolf hat Kreide gefressen. Aber er ist so machthungrig wie eh und je. Er ist nicht bescheidener geworden, er tut nur bescheidener. Und in dem Augenblick, in dem er Oberwasser spürt, wird er alle Hemmungen fahren lassen.

Der politische Insolvenzverwalter

Übersehen wir nicht: Ob gewollt oder nicht, Friedrich Merz ist im Herbst 2021 jetzt als politischer Insolvenzverwalter ins Amt gewählt worden. Mit ihm könnte die CDU zur Splitterpartei werden, schreibt der Freitag. Er soll eine tief erschütterte und in sich orientierungslose Partei neu aufstellen; und er soll mit 66 Jahren vor allem die Zukunft der Partei in die Wege leiten.

Sollte ihm das nicht gelingen, könnte es sein, dass die CDU zwischen einer radikalisierten AfD, einer zunehmend eigene Wege gehenden CSU und einer regierenden Ampel, in der die FDP einige der alten neoliberalen Merz-Anhänger bedient, und die Grünen ehemalige Merkel Wähler der Union abschöpfen, marginalisiert wird.

Zwei Jahrzehnte lang war Friedrich Merz der Maulheld der CDU. Er verkörperte alles, das die CDU gerne sein wollte, aber sich nicht traut zu sein. Zwei Jahrzehnte lang war dieses Gerede folgenlos. Jetzt muss er liefern.