Der alte Mann und das Netz

Ernest Hemingway auf neuen Wegen

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"Drei Bleistiftentwürfe eines miesen Gedichts" und ein Manuskript, das er in einer Schublade versenkt hatte, weil Gertrude Stein es nicht mochte - das war alles, was dem jungen Hemingway geblieben war, nachdem seiner ersten Frau am Gare de Lyon ein Koffer gestohlen wurde - ein Koffer, der sämtliche Originalmanuskripte sowie die Typoskripte und Durchschläge all seiner Arbeiten enthalten hatte.

"Il faut d'abord durer", trotz dieser Devise hat sich Hemingway nur mühsam, seine Ehe unvollständig und einige seiner Exegeten nie von diesem Verlust erholt, es geht die masochistische Legende, dass die verlorenen Texte seine besten gewesen sein sollen. Nicht nur ein Jäger, sondern auch ein großer Sammler (zumindest der eigenen Texte, wie ein Surfer nach DER Welle, suchte er stets nach dem "wahren Satz") wäre Hemingway über die Annehmlichkeit des elektronischen Speicherns sicher hocherfreut gewesen und einer der ersten, der sich mit Laptop auf die grünen Hügeln Afrikas begeben hätte.

Ab August wird laut Pressemitteilung des Verlages Simon & Schuster ein Autor erstmals komplett online gehen: "Hem's" gesamtes Werk, 23 Bücher erscheinen in elektronischer Form, ein jedes zum Preis von $9.99, bestellbar z.B. beim SimonSaysShop oder dem Yahoo eBookstore. Hemingway sei, so sagt Simon, "die einflussreichste und wichtigste literarische Stimme des zwanzigsten Jahrhunderts und obendrein "äußerst beliebt in der Online-Community". Zumindest verkauft sich sein Name wie Harry: Neben Hemingway-Sport- und -Angelausrüstungen und einem Hemingway Luxusgewehr (!) führt das Hemingway-Merchandising u.a. auch einen Hemingway-Mont-Blanc-Füller - auch wenn "Papa" mit Bleistift schrieb. Kein Wunder, dass einige Anglisten sich über den "Champ" mokieren, der, obwohl er sich 1961 erschoss, heute immer noch lebendiger scheint als so mancher der ihren. Wenn sie seine Fähigkeiten als ernsthafter Autor bezweifeln, dann vielleicht auch deshalb, weil sie seine Fähigkeiten als Boxer nie werden ermitteln oder auch nur begreifen können.

"Die Heiteren sind die Besten" glaubte der Mann, dem man neben Größenwahn, Anti-Intellektualismus, Irrsinn, Wahnsinn, Bösartigkeit, Phallusbesessenheit, Angeberei und Kleinmut noch alles mögliche andere ankreiden könnte. Klappt man jedoch aufs Geratewohl eines seiner Bücher auf, "Die Wahrheit im Morgenlicht" etwa und liest Sätze wie "Nach der Pavianjagd trinke ich immer gerne etwas.", so muss man ihn einfach lieben.

Ob "Hemingstein" jedoch wie erhofft die "neue Ära" des digitalen Verlegens befeuert, nachdem den E-Book Divisionen von Random House und AOL Time Warner bereits die Stunde geschlagen hat, bleibt abzuwarten. Nachdem Horrorautor Stephen King sein Projekt "The Plant" (Vgl. Little Shop of Horrors) nach sechs Kapiteln kippen musste (Vgl. Die Pflanze wächst nicht mehr online) hatte er den Grund schnell parat: Internetnutzer hätten die Konzentrationsspanne eines Grashüpfers - Bei der Beschaffenheit von Kings Werken wohl eher ein gutes Zeichen.