Der alte Todesdrang der Neuen Rechten

Seite 3: Das Unbehagen am Kapitalismus

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Freud ahnte somit, dass der Kapitalismus von einer unkontrollbaren Eigendynamik angetrieben wird, er konnte sich im Rahmen seiner kulturtheoretischen Betrachtungen aber nicht anders helfen, als diesen gesellschaftlichen Fetischismus und die daraus resultierenden Widersprüche durch die Einführung eines neuen Triebes, des "Todestriebes", zu erklären.

Die Widersprüche der Triebregungen im Menschen werden so zur Quelle der Widersprüche der kapitalistischen Vergesellschaftung erklärt. Die Kulturentwicklung erscheint so als ein Kampf zwischen zwei mächtigen Triebenergien des Menschen, wie Freud fälschlich behauptete:

Und nun, meine ich, ist uns der Sinn der Kulturentwicklung nicht mehr dunkel. Sie muß(!) uns den Kampf zwischen Eros und Tod, Lebenstrieb und Destruktionstrieb zeigen, wie er sich an der Menschenart vollzieht. Dieser Kampf ist der wesentliche Inhalt des Lebens überhaupt, und darum ist die Kulturentwicklung kurzweg zu bezeichnen als der Lebenskampf der Menschenart.

Sigmund Freud, Das Unbehagen an der Kultur

Die Aggressionsneigung als eine "ursprüngliche, selbstständige Triebanlage des Menschen" sei laut Freud das größte Hindernis der Kulturentwicklung. Der Zivilisationsprozess als das Werk des Lebenstriebs, der die Menschen zur "einer großen Einheit, der Menschheit, zusammenfassen" wolle, sei permanent bedroht durch den Todestrieb, der in Auflösung, ins Partikulare, Anorganische strebe.

Und scheinbar gibt ja die Neue Rechte dem Psychoanalytiker auch hier recht, deren Akteure sprechen es inzwischen ja offen aus, dass sie nicht Teil der Menschheit sein wollen. Der Wahn tritt inzwischen offen zutage, der Psychoanalytiker muss nicht mal mehr groß analysieren. Alexander Gauland hat das in einem realsatirischen Anfall von Ehrlichkeit im September 2018 ausgesprochen: "Wir haben kein Interesse daran, Menschheit zu werden. Wir wollen Deutsche bleiben."

Die Rechte als Verkörperung, als Exekutor des dem Menschen innewohnenden Todestriebes? Das Problem an dieser Sichtweise, die Freud vor allem in Abgrenzung zu der damals aufkommenden marxistischen Psychoanalyse wählte, besteht darin, dass er das reale Verhältnis zwischen gesellschaftlicher Entwicklung und Aggressionsneigung auf den Kopf stellte. Der Todeswunsch der Neuen Rechten ist nicht Ausdruck eines ewigen Todestriebes, der die Welt verehrt, sondern Folge der gesellschaftlichen Widersprüche im Kapitalismus, die in dem Menschen die Aggressionslust steigern, ihm das Leben zur Hölle machen.

Es ist der Triebverzicht, breiter formuliert: die Versagungen oder die Existenzbedrohung in Gefolge gesellschaftlicher Verwerfungen, die die Aggression aufkommen lassen. Dies ist auch Freud an vielen Stellen seiner Schrift klar, in denen er sich selbst widerspricht - etwa, wenn er auf ein "erhebliches Maß von Aggressionsneigung" bei Kindern verweist, das sich gegen Autoritäten wende, die Befriedigungen unterbinden.

Triebversagung, bedingt durch gesellschaftliche Widersprüche oder Machtverhältnisse, ist somit die Quelle der Aggressionsneigung und des von Freud konstatierten Todesdrangs, und nicht umgekehrt. Problematisch an Freuds sozialpsychologischen Vorstellungen ist sein Bestreben, die vorgefundenen gesellschaftlichen Konflikte im späten 19. und frühen 20. Jahrhundert zum psychologischen Wesensmerkmal der "Menschenart" zu deklarieren.

Auch das Ausmaß und die Art der durch den Zivilisationsprozess dem Menschen auferlegten Versagungen wandelt sich mit der Zeit. Evident wird dies an den Beispielen, die Freud selber für die kulturbedingten Triebversagungen wählte, die den Kulturpessimismus der Neuen Rechten antreiben; etwa die "Einschränkung der Kindersterblichkeit", die den Bürger doch nur zur äußersten "Zurückhaltung in der Kinderzeugung" nötige und sein "Sexualleben in der Ehe unter schwierige Bedingungen" stelle. Diese kulturelle Einschränkung ist doch offensichtlich dem Mangel an effizienten Verhütungsmitteln im frühen 20. Jahrhundert geschuldet.

Auch wenn Freud somit immer wieder in schlechter bürgerlicher Tradition dazu tendierte, historisch bedingte Widersprüche, die auch ihren Niederschlag im Seelenleben der kapitalistischen Menschen finden, zu biologischen Konstanten des Menschen schlechthin zu ideologisieren, so ist der psychoanalytische Erklärungsansatz doch entscheidend: nicht zur Klärung des menschlichen Wesens schlechthin, sondern zur Aufklärung über den Zustand des Menschen unterm Kapital.

Identifikation mit Herrschaft

Freud erhellt nämlich auch den zentralen psychologischen Mechanismus, der die irrationale Genese der Neuen Rechten als einen politischen Exekutor der systemischen Selbstzerstörungstendenzen des Spätkapitalismus erklärt. Zentral hierbei ist der frühkindliche Mechanismus, mit dem Triebversagungen infolge elterlicher Verbote zur Aufrichtung des Gewissens, des Über-Ichs, beitragen. Dies geschieht durch das "Verinnerlichen" der äußeren Autorität, wie Freud erkannte:

Welcher Mittel bedient sich die Kultur, um die ihr entgegenstehende Aggression zu hemmen, unschädlich zu machen, vielleicht auszuschalten? ... Wir können sie an der Entwicklungsgeschichte des Einzelnen studieren. Was geht mit ihm vor, um seine Aggressionslust unschädlich zu machen? Etwas sehr Merkwürdiges, das wir nicht erraten hätten und das doch so naheliegt. Die Aggression wird introjiziert, verinnerlicht, eigentlich aber dorthin zurückgeschickt, woher sie gekommen ist, also gegen das eigene Ich gewendet. Dort wird sie von einem Anteil des Ichs übernommen, das sich als Über-Ich dem übrigen entgegenstellt und nun als "Gewissen" gegen das Ich dieselbe strenge Aggressionsbereitschaft ausübt, die das Ich gerne an anderen, fremden Individuen befriedigt hätte. Die Spannung zwischen dem gestrengen Über-Ich und dem ihm unterworfenen Ich heißen wir Schuldbewußtsein(!); sie äußert sich als Strafbedürfnis.

Sigmund Freud, Das Unbehagen an der Kultur

Hier wird ja nicht nur der Prozess der Aufrichtung des Über-Ich, des unbewussten psychischen Mechanismus der Identifikation mit Autorität, mit dem äußeren Zwang dargelegt, der inneres Leiden verursacht. Jedes Herrschaftssystem nutzt dies - auch das subjektlose Machtsystem des Kapitalismus. Der Faschismus kann in seiner Eigenschaft als Extremismus der Mitte in Krisenzeiten nicht nur die ideologischen Kontinuitätslinien zum Kapitalismus fortführen, etwa durch Sozialdarwinismus und Konkurrenzzwang, auch die Verinnerlichung gesellschaftlicher Zwänge durch die Identifikation mit Herrschaft wird von der Neuen wie Alten Rechten ins Extrem getrieben.

Es ist ein Irrtum der linken Aufklärung zu glauben, dass die Entlarvung mächtiger Akteure, die den Faschismus fördern, diesen auch schwächen würde. Die AfD als Mövenpick-Partei, die von reaktionären Schweizer Milliardären finanziert wird, übt gerade eine starke Anziehungskraft für autoritäre Charaktere in ihrer konformistischen Pseudorevolte aus: Sie spüren, dass bei ihrer Hetze die Macht letztendlich auf ihrer Seite steht. Dasselbe gilt für die Unterstützer und Förderer der Neuen Rechten im Staatsapparat.

Diese Erkenntnis der in der Erziehung eingeübten Verinnerlichung gesellschaftlicher Herrschaft, mit der Freud in seiner Spätschrift noch rang, wurde von der Kritischen Theorie aufgegriffen. In den berühmten Studien zum autoritären Charakter, die sich vor allem mit den psychologischen Aspekten des Faschismus befassten, wurde hierfür der Begriff der autoritären Aggression geprägt. Die "Zeichen sozialer Unterdrückung" seien auch in der "Psyche des Einzelnen" zurückgeblieben, hieß es in der Schrift.

Das Individuum, das zum "Verzicht auf fundamentale Wünsche" genötigt werde und in einem "System strenger Selbstbeherrschung" leben müsse, entwickle "feindliche Gefühle gegen die Autoritären der Bezugsgruppe". Diese werden aber beim autoritären Charakter verinnerlicht, was zur Aufrichtung der untertanenhaften Identifikation mit dem bestehenden Herrschaftssystem, zur Verinnerlichung gesellschaftlichen Zwanges führt. Folglich fühle sich der Untertan stets "betrogen", wobei er nach Objekten sucht, an denen er "sich schadlos halten" könne, da sie "besser wegkommen".

Feindseligkeit gegen "Hassfiguren"

Die Autoren der Studie schlussfolgerten, dass "in der autoritären Aggression die ursprünglich gegen Autoritäten der Eigengruppe erweckte und gegen sie gerichtete Feindseligkeit auf die Fremdgruppe verdrängt" werde. Dies sei aber mehr als eine bloße Sündenbocksuche, die sich ja aus Unkenntnis der Ursachen gesellschaftlichen Leidens speise, da der autoritäre Charakter seine Aggression aus einer "inneren Notwendigkeit gegen die Fremdgruppe richten" müsse: "Er muss es, weniger aus Unwissenheit in Bezug auf die Ursache seiner Frustration, als vielmehr seiner psychischen Unfähigkeit zufolge, Autoritäten der Eigengruppe anzugreifen."

In hündischer Ergebenheit gegen Machstrukturen verfangen, muss der autoritäre Untertan Wege finden, den von oben kommenden Druck nach unten weiterzuleiten. Der Sadomasochismus der Alten wie Neuen Rechten tritt hier klar zutage, die masochistische Unterwerfung unter das falsche Bestehende, sie geht mit einem sadistischen Strafbedürfnis einher. Diese sadistische Untertanenwut richte sich "vor allem gegen die, welche man als gesellschaftlich schwach und zugleich - mit Recht oder Unrecht - als glücklich empfindet", so Adorno in seiner Schrift Erziehung nach Auschwitz. Alle sollen so unglücklich sein, wie es der angehende Faschist ist.

Der Flüchtling mit dem Smartphone während der Flüchtlingskrise, der faule und glückliche Südeuropäer während der Eurokrise, der arbeitsscheue Arbeitslose bei der Durchsetzung von Hartz IV - dies sind die aus dem Mainstream der deutschen Gesellschaft hervorgegangenen Hassfiguren, die den Aufstieg der Neuen deutschen Rechten im 21. Jahrhundert begleiteten.

Im Land der Arbeitshetze und des Burnouts

Nirgends lässt sich die Stichhaltigkeit der Psychopathologie der Neuen Rechten so gut nachvollziehen wie in der Hartz-IV-Republik Deutschland, im Land der Arbeitshetze und des Burnouts, dessen Lohnabhängige Sparsadisten wie Wolfgang Schäuble gerade deswegen zu beliebtesten Politikern erkoren, weil sie den Südeuropäern genau dieselben Schmerzen bereiteten, die sie untertänig in Gestalt der Agenda 2010 hinnahmen. Sein Masochismus verschafft dem Untertanen seinen Anspruch, anderen Schmerzen zuzufügen.

Die charakterliche Verkommenheit vieler Akteure der Neuen Rechten tritt hier krass zutage: Der krisenbedingt zunehmende Druck der widersprüchlichen kapitalistischen Vergesellschaftung, er wird auf die schwächsten, marginalisierten Gesellschaftsmitglieder projiziert, die als Feindbilder dienen. Dies geschieht mitunter bewusst - die Hetzer wissen in hellen Momenten durchaus, dass ihre Hetze keine Basis in der Realität hat.

Eine Ahnung dessen blitzte etwa während der pogromartigen Ausschreitungen in Chemnitz auf, als Spiegel-Reporter sich bemühten, die Bürgerinnen, die mit den Nazis marschierten und dabei beteuerten, keine Nazis zu sein, nach ihrer Motivation zu fragen.

Eine am braunen Treiben beteiligte Kleinbürgerin machte gegenüber Spiegel-Online in entwaffnender Offenheit klar, was die Anziehungskraft faschistischer Bewegungen ausmacht. Auf die Nachfrage des Reporters, wieso ihre Klage über die soziale Spaltung des Landes nicht zu einem Engagement für "Umverteilung" führe, sondern sich im Hass auf Ausländer und Flüchtlinge entlade, antwortete die Teilnehmerin des Naziaufmarsches wörtlich: "Weil man ja gegen irgendwen sein muss, und mit denen ist es einfach."

Es ist einfach, Faschist zu sein, man riskiert nichts. Wieso sollte man sich mit der deutschen Oligarchie anlegen, die kaum noch Steuern zahlt, wenn es Flüchtlinge gibt? Dabei gibt es einen relativ zuverlässigen Indikator für den krisenbedingt zunehmenden Druck auf die Lohnabhängigen im Spätkapitalmus: Es ist die Zunahme der psychischen Erkrankungen, die insbesondere mit der Lohnarbeit in Zusammenhang stehen.

Der Kapitalismus ist in seiner letalen Krise dermaßen "unnatürlich", er lässt immer mehr Menschen psychisch zusammenbrechen. In Deutschland, wo das sadistische Strafbedürfnis gegenüber "faulen" Südeuropäern in der Eurokrise besonders groß war, hat sich die Zahl der Fehltage wegen psychischer Erkrankungen seit 2007 verdoppelt.