Der flammende Penis der Weisheit

Briefmarkenblock. Bild: Bhutanpost

Warum auf Briefmarken von Bhutan ein Penis zu sehen ist und was das mit dem Buddhismus zu tun hat

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Häufig wird es als Ärgernis wahrgenommen, wenn juvenile Geister Hauswände und Verteilerkästen mit offenkundigen Obszönitäten versehen. Ein schlecht gesprayter Penis etwa, der vielleicht auch ein wenig mitleidig stimmt, zeugt er doch neben der absoluten Identifikation des "Künstlers" mit seinem Geschlechtsteil auch von dessen Hilflosigkeit und Verzweiflung im Umgang mit diesem Spielzeug. Oder sind Penisse auf Hauswänden etwa Kunst? Das ist nicht allein Ansichtssache, sondern auch eine Frage der Religion.

Den ach so dekadenten Römern trauen der Volksmund und manche Politiker bekanntlich einiges zu. Ein Gang durchs Gabinetto Segreto, das geheime Kabinett des Archäologischen Nationalmuseums in Neapel, erfüllt durchaus alle Erwartungen. Angesichts der besessen verspielten Beschäftigung der antiken Kunsthandwerker mit männlichen Geschlechtsteilen stellt sich die Frage nach der Spiritualität dieser Arbeiten eher nachrangig – wenn überhaupt. Penisförmige Türklopfer und Türklingeln, die den Besucher eines Bordells vor peinlicher Schwäche beschützen sollten, sind natürlich Aberglaube.

Multiphallische Figur aus Pompeji. Bild: J. Sperhake

Was aber, wenn Penisse auf den Wänden von Klöstern und öffentlichen Gebäuden prangen und ihre jeweiligen Ausfertigungen auf jahrhundertealte Überlieferungen zurückgreifen? Eine Pressemitteilung der Postverwaltung von Bhutan klärt auf und verleiht der Thematik eine unerwartete kulturelle und religiöse Ebene. Vier Sondermarken aus dem kleinen Himalaya-Staat zeigen nämlich – so der Begleittext der verantwortlichen Postmitarbeiter – den "flammenden Blitz der Weisheit".

Diesen Namen gab der heilige Drugpa Künleg (1455-1529) angeblich seinem besten Freund, und in fast allen überlieferten Geschichten über diesen spirituellen Führer spielt sein Geschlechtsteil eine prominente Rolle. Buddhismus? Hat das nicht etwas mit der Entsagung weltlicher Genüsse zu tun? Durchaus, aber dennoch findet sich in der Drugpa-Schule des tibetischen Buddhismus ein Platz für den "heiligen Narren", wie Künleg auch bezeichnet wird.

In den Überlieferungen scheint er seinem Namen gerecht zu werden, allerdings oft in dem Sinne, dass sein absurdes Verhalten seinem Gegenüber den Spiegel vorhält. Nur den Narren war er ein Narr. Für den westlichen Betrachter war er vielleicht darüber hinaus auch ein veritables Ferkel. Die ungebrochene Popularität der alten Geschichten beweist jedoch, dass sie eine wichtige gesellschaftliche Funktion erfüllen. Der europäischen Tabuisierung von Sexualität wird in Bhutan eine humorvolle Auseinandersetzung entgegengehalten. Während die Gebrüder Grimm sexuelle Konnotationen kindgerecht verschlüsselten, prustete Drugpa Künleg sie auf dem Markplatz oder während eines Gebets lautstark heraus. Dabei erschöpft sich sein Wirken jedoch nicht in Obszönität um ihrer selbst willen.

Vielmehr war es das Ziel des Heiligen, festgefahrene Denkmuster und Dogmen aufzubrechen. Schockieren und Aufrütteln im Dienste einer höheren Weisheit kann für den Betroffenen natürlich sehr peinlich und demütigend sein. So zeigt eine Briefmarke einen Penis mit einem Khata. Dieser traditionelle Begrüßungsschal, so die Geschichte, wurde Künleg einst von einem Mönch überreicht. Statt ihn sich jedoch um den Hals zu legen, wand er ihn um sein Geschlecht und urinierte auf die Schriftrolle des Klosters. Martin Luther war sicherlich akademischer in seiner Ausdrucksweise. Auch der Anspruch Künlegs, mithilfe seines erigierten Penis junge Frauen auf den Weg der Erleuchtung zu führen, ist für uns kaum aus dem zotenhaften Kontext zu lösen. Leichteren Zugang findet der Europäer vielleicht zu den letzten beiden Sondermarken.

Bild: Bhutanpost

Ein nach unten weisender Phallus soll an die schlimmen Folgen übler Nachrede erinnern. Der Legende nach kannte Drugpa Künleg dieses Laster aus seiner eigenen Familie nur zu gut. Es heißt, seine Mutter habe im Dorf durch ihre Geschwätzigkeit zweifelhafte Berühmtheit erlangt. Als es mit ihr zu Ende ging, habe er versucht, sie zu Meditation und innerer Einsicht zu bewegen – doch ohne Erfolg. Immer wieder setzte sie Gerüchte in die Welt und scherte sich nicht um ihre eigene Seele. Also habe Künleg schließlich zu einem drastischen Mittel gegriffen, sei durchs Dorf gerannt und habe überall behauptet, er habe soeben mit seiner Mutter geschlafen. Diese Lüge sei ihr schließlich so peinlich gewesen, dass sie sich komplett aus der Gemeinschaft zurückgezogen habe und nach einer abschließenden Zeit der Meditation in einem befreiten Bewusstseinszustand verstorben sei. Das ist Sohnesliebe, die Siegmund Freud sicherlich das Fürchten gelehrt hätte.

Ein senkrechtes Glied mit aufgemalten Augen, so die letzte Marke, bewahre den Haushalt vor dem bösen Blick. Dies beruht auf der Überlieferung, dass ein von Dämonen heimgesuchter Ort durch solche Zeichnungen Frieden gefunden habe. Die bösen Geister seien so verwirrt gewesen, dass sie schlichtweg vergaßen, die Menschen weiter zu peinigen.

Bild: J. Sperhake

So viel taktisches Gespür mag man den jugendlichen Schmierfinken hierzulande wohl eher nicht unterstellen. Aber vielleicht hilft die Erinnerung an Drugpa Künleg dabei, diese aus sexuellem Notstand und imaginierter Präpotenz erwachsenen Werke mit etwas mehr Humor zu nehmen. Wer weiß, vielleicht wurde dieser Verteilerkasten vor Gefahren geschützt, von denen wir hier im Westen keine Ahnung haben?