"Der ganze Koran ist im Grunde genommen ein Preislied auf das Wissen"

Angelika Neuwirth, Professorin für Arabistik, über den Koran als poetischen Text der Spätantike, das Bild der Frau, die Schätzung des Wissens und den Grund, warum dem Islam die Aufklärung nicht fehlt

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Prof. Dr. Angelika Neuwirth studierte Arabistik, Semitistik und Klassische Philologie an der Freien Universität Berlin sowie in Teheran, Göttingen, Jerusalem und München. Nach ihrer Habilitation arbeitete sie von 1977 bis 1983 als Gastprofessorin an der Universität von Jordanien in Amman. Von 1994 bis 1999 war sie Direktorin am Orient-Institut der Deutschen Morgenländischen Gesellschaft Beirut und Istanbul. Derzeit ist sie an der Freien Universität in Berlin als Professorin tätig. Ihre Forschungsschwerpunkte liegen im Bereich des Korans und der Koranexegese, in der modernen arabischen Literatur der Levante, der palästinensischen Dichtung und der Literatur des israelisch-palästinensischen Konflikts. Für ihre Koranforschung erhielt sie im Juni 2013 den Sigmund-Freud-Preis für wissenschaftliche Prosa.

Koran vom 9. Jahrhundert aus dem Reza Abbasi Museum. Bild: CC-BY-SA-3.0

Guten Tag Frau Prof. Neuwirth! Auf mehr als achthundert Seiten versuchen Sie in ihrem Werk über den "Koran als Text der Spätantike" einen europäischen Zugang zum heiligen Buch der Muslime zu finden. Was genau meinen Sie mit dem "europäischen" Blick auf den Koran?

Angelika Neuwirth: Das Buch selber legt das dar. Ich versuche zu zeigen, dass wenn man den Koran historisch liest, man auf dieselben Traditionen stößt, die von Europäern als für ihre Kultur grundlegend in Anspruch genommen werden. Das ist einfach eine historische Lektüre des Korans, jetzt nicht wie üblich als Gründungsurkunde des Islam, sondern gewissermaßen dahinter zurück. Der Koran wird als eine Verkündigung, das heißt als Botschaft an Leute, die noch gar nicht Muslime waren, gelesen. Denn Muslime wurden sie ja erst durch die Verkündigung.

Dieser Blick zeigt, dass damals dieselben Probleme auf der arabischen Halbinsel diskutiert wurden, wie in der umliegenden spätantiken Welt, die später dann gewissermaßen als Grundlage Europas wahrgenommen wurde. Das heißt, wir entstammen alle einem gemeinsamen Entstehungsszenario, ein Sachverhalt, der nur durch spätere historische Entwicklungen verunklärt worden ist.

Also, geht es ja eigentlich nicht um einen "europäischen" Zugang, sondern um die verbindenden Elemente der Spätantike bzw. die Einflüsse der Antike. Und weder der sogenannte 'Orient' noch der 'Okzident' können diese Elemente als Eigenheit für sich beanspruchen, oder?

Angelika Neuwirth: Das tun sie allerdings faktisch. Sowohl im Orient, als auch in der konventionellen islamischen Selbstwahrnehmung, wird davon ausgegangen, dass der Islam sich bereits von seinen Anfängen her essentiell von der umgebenden Kultur unterscheidet, dass mit ihm etwas ganz Neues in die Welt gekommen ist. Davor gab es das Zeitalter der 'Jahiliya' (Zeit der Unwissenheit), eine gering geschätzte Epoche, die man nicht unbedingt zur Kenntnis nehmen muss. Und im Westen glaubt man, dass der Islam das ganz Andere ist, also etwas, was nicht zu der eigenen Kultur gehört. Es sind uralte Festschreibungen von Andersheit, die historisch nicht zu halten sind, die sich aber aufgrund von früheren Machtverlagerungen oder Machtverhältnissen eben so festgeschrieben haben.

Würden Sie dann auch die Auffassung verneinen, dass der Islam noch eine Aufklärung nötig hat bzw. das Vernunft und Wissenschaft im Koran in einem Spannungsverhältnis zum Glauben stehen?

Angelika Neuwirth: Die Behauptung, dem Islam fehle die Aufklärung ist auch ein uraltes Klischee. Der Stolz auf die Aufklärung, wenn er sich inzwischen allerdings auch etwas gelegt hat, verleitet immer wieder dazu, der westlichen Kultur gegenüber dem Islam einen erheblichen Vorsprung zuzumessen. In der islamischen Geschichte hat es zwar keine flächendeckende Säkularisierungsbewegung gegeben, dies aber deshalb nicht, weil Sakrales und Säkulares im Islam bereits nebeneinander existierten.

Auch war das Kräfteungleichgewicht keineswegs immer so wie wir es heute haben. Die islamische Wissenskultur war sehr lange Zeit der westlichen oder überhaupt der außerislamischen weit überlegen. Das hat nicht zuletzt zu tun mit den medialen Vorsprüngen, die man hatte. Es gab in der islamischen Welt beispielsweise schon seit dem achten Jahrhundert die Herstellung von Papier. Diese ermöglichte wiederum, immense Massen von Texten zu verbreiten, wovon im gleichzeitigen Westen keine Rede sein konnte. Es ist sicher mehr als das Hundertfache der im Westen vorhandenen Schriften, was da an arabischen Texten in Umlauf gebracht worden ist. Bis zum 15. Jahrhundert war man im Westen noch auf Pergament angewiesen, was sehr kostspielig und schwer zu bekommen war.