Der hyperreale Mord

Mehrwert Authentizität: "True Crime"

Der folgende Beitrag ist vor 2021 erschienen. Unsere Redaktion hat seither ein neues Leitbild und redaktionelle Standards. Weitere Informationen finden Sie hier.

Zeitgleich mit der Zunahme fantastischer Sujets in der Literatur und dem Kino findet in den letzten Jahren eine formale wie inhaltliche Hinwendung zum Authentischen im Kriminalgenre statt - also scheinbar in die genau entgegengesetzte Richtung. Die Verfahren, mit denen Morderzählungen als "wahr" inszeniert werden, gleichen sich dabei medienübergreifend und sind nicht immer allein auf den Effekt aus.

"Die folgende Geschichte beruht auf einer wahren Begebenheit." Ein Versprechen, das es gibt, seit erzählt wird: Der Autor des Werks verbürgt sich für die Authentizität des Erzählten und das aus ganz verschiedenen Motivationen: Zum einen steckt dahinter der Versuch einer Entgrenzung von Fiktionalität und Wahrheit. Wenn das, was man sieht oder liest auf etwas beruht, das "wirklich passiert" ist, dann wird - zumindest bei Kriminalerzählungen - damit ein Mehrwert produziert, der sich allein durch stilistische Verfahren nicht erreichen ließe.

Das Leben wird zum Koautor. Zum anderen mag sich hinter der Authentisierung auch der Anspruch verbergen, die außerfiktionale Realität greifbarer und verstehbarer zu machen. Die Kunst imitiert dann die Wirklichkeit, um dem Rezipienten modellhaft oder aus der jeweiligen Perspektive des Autors eine Erklärung dafür zu bieten.

Authentische Konstruktionen

Der eine wie der andere Grund für die Authentisierung des Fiktionalen birgt Schwierigkeiten. Woher weiß ich als Leser oder Zuschauer, dass das Versprechen der Wahrheit kein Trick ist? Und woher weiß ich, dass der Versuch des Autors, uns "seine" Sicht der Welt zu präsentieren, aufrichtig ist?

Das Eine wie das Andere lässt sich nicht ohne Weiteres belegen. Immer ist Erzähltes konstruiert, selbst wenn es Versatzstücke der Wirklichkeit montiert, gerät eine artifizielle Leistung (die Auswahl und Montage des Materials) mit hinein. Nie kann man sich über die so genannte Intention des Autors sicher sein, weil der Versuch sie zu ergründen notwendigerweise über den Weg der Interpretation geht, die selbst eine Wahrheit produziert, nämlich die des Lesers, die nicht weniger wiegt als die des Autors. Letztlich steht der Rezipient vor jeder "wahren Geschichte" wie vor jeder "unwahren".

Von dieser Warte aus betrachtet wäre es daher sinnvoll, Authentizität weniger als ein ontologisches denn als ein ästhetisches Phänomen zu behandeln - eine Meinung, wie sie sich in den letzten Jahren in den Geisteswissenschaften durchgesetzt hat. Authentizität wäre demnach ein Effekt, der im Rezipienten den Eindruck von "Wirklichkeit" evozieren soll. Zu den Authentizitätssignalen gehören solche Prätexte wie jener zu Beginn dieses Artikels, Angaben, die explizit auf die Wahrheit des Gezeigten insistieren, auf Ort und Zeit des Geschehens verweisen usw. Daneben gibt es Authentizitätsstrategien, das sind all jene Verfahren, die implizit Authentizität suggerieren.

Die subtilsten Authentizitätsstrategien nutzen die Mediensozialisation des Rezipienten und produzieren Wirklichkeitseffekte dadurch, dass sie bestimmte Genreeigenschaften, die mit dem Anspruch "authentisch" zu sein auftreten, kopieren. Hierzu zählen im Film etwa der Einsatz von Schwarzweiß (das durch seinen stilistischen Kontrast zum mimetischen Farbeinsatz häufig für distanzierte Berichterstattung genutzt wird), verwackelte Kamera und fehlerhafte Bilder (die vom Inhalt ablenken und auf das Medium aufmerksam machen), Mise-en-abyme -Techniken, die die Welt des Zuschauers/Lesers (etwa durch direkte Ansprache) scheinbar in die Erzählungen integrieren, und Verfahren der Intertextualität - beides recht gut an den postmodernen Krimiromanen von William J. Reynolds nachzuvollziehen.

Gerade letzteres Verfahren ist besonders subtil, weil die zitierende Erzählung dadurch, dass sie andere Erzählungen zitiert, sich selbst ontologisch über diese begibt und dem Leser/Zuschauer dadurch suggeriert, er befände sich auf Augenhöhe mit dem Erzähler und blicke mit diesem Zusammen auf den Fundus der Zitatquellen hinab.

Krimi goes True Crime

In gewisser Weise ist jede fiktive Geschichte immer auch von der Realität, in der sich der Autor befindet, beeinflusst. Vor allem Kriminalerzählungen aber pflegen von jeher ein besonders inniges Verhältnis zur kriminalhistorischen Realität.

Ob Schiller in seiner Erzählung "Der Verbrecher aus verlorener Ehre - Eine wahre Geschichte" (1785/92) auf den verbrieften Fall des "Sonnenwirts" Friedrich Schwan rekurriert, ob Marie Beloc Lowndes den ihrerzeit nahe liegenden Jack-the-Ripper-Fall für eine findige Gesellschaftsbeschreibung in "The Lodger" (1913) nutzt, ob Truman Capote seine "Tatsachenromane" (etwa "In cold Blood", 1966) auf Zeugenaussagen und Interviews stützt oder ob Joyce Carol Oates in "Zombie" (1997) den Jeffrey-Dahmer-Fall adaptiert: Stets ist es die außerfiktionale Wirklichkeit, die die Stoffe hierfür geliefert hat, und mal mehr, mal weniger detailliert verarbeitet wird.

Allein schon bei der Betrachtung dieser wenigen Beispiele zeigt sich eine Bewegung, die sich vielleicht als "fortschreitende Hyperrealisierung" beschreiben ließe: Der fiktionale Anteil der Erzählungen nimmt gegenüber den faktenbasierten Aufarbeitungen immer geringeren Raum ein.

Am Ende dieser Entwicklung steht ein Kriminalsubgenre, das sich gerade in den letzten Jahren immer größerer Beliebtheit zu erfreuen scheint: True Crime. Etliche kleine Verlage haben sich in immer weiter auswuchernden Reihen kriminalhistorischer Fälle angenommen, die nun in einem Reportage-Pitaval-Roman-Hybrid aufbereitet in die Krimiabteilungen der Buchläden geraten. Überproportional ist dabei die Beschäftigung mit Serienmördern, die aus verschiedenen Gründen ( vgl. Killer-Kulturen im Vergleich) die größte Medien-Affinität zu haben scheinen.

So führt etwa der Leipziger Militzke-Verlag eine Reihe "Authentische Kriminalfälle", die im Herbst um zwei weitere Bände erweitert wird. In der jüngeren Vergangenheit wurde dort von Kathrin Kompisch und Frank Otto ebenfalls eine zweibändige Zusammenstellung von Fällen der deutschen Serienmord-Kriminalgeschichte publiziert ("Bestien des Boulevard" & "Monster für die Massen"), die etliche Fälle von der Weimarer Republik bis in die Gegenwart zusammenträgt, Gemeinsamkeiten darstellt, den Umgang der Presse mit den Fällen nachzeichnet und durch ihr Leitthema einer "kritischen Aufbereitung" den übergreifenden Zusammenhang stiftet, der aus einer lexikonartigen Fallsammlung erst "Prosa" zu generieren im Stande ist.

True Crime goes the Movies

Der Düsseldorfer Droste-Verlag pflegt eine ganz ähnliche Reihe, in der unter anderem der Kriminalist und Kriminologe Stephan Harbort über Serienmörder publiziert. Harbort rückt neben übergreifenden Darstellungen wie in "Das Hannibal-Syndrom" (2003) auch immer wieder einzelne Täter ins Zentrum seines Schreibens.

So behandelt "Ich musste sie kaputtmachen" (2004) den Serienmordfall Joachim Kroll und verfolgt die Ermittlungen zu seiner Mordserie, die zwischen 1955 und 1976 die ganze Bundesrepublik in Atem gehalten hat. In diesem Buch geht der Autor besonders trickreich vor, um seine Falldarstellungen in Prosa zu überführen: Er nutzt Montagetechniken, Beschreibungsverfahren und eine schon fast "filmische Schreibweise". Damit zeigt Harbort, dass ein gewisses Maß an De-Authentisierung eminent für jedwede mediale Darstellung von Realität wie Fiktion ist. Erst wenn Stoffe plotartig aufbereitet, Informationen zielgenau platziert werden und eine Rahmenerzählung klammerartig um die Einzelfälle herumgreift, lässt sich Realität überhaupt "erzählen".

Mit dieser Ästhetik bedienen die Autoren nicht nur den Wunsch nach authentisierten Stoffen, sondern holen ihre Leser auch dort ab, wo Krimikost heute zumeist goutiert wird: im Kino. Der Trend hin zur "Verfilmung" kriminalhistorischer Fälle ist auch dort spürbar. Wie in der Literatur hat es im Film von Beginn an kinematografische Aufbereitungen von wahren Verbrechen gegeben (man denke an frühe Beispiele wie die "Jack the Ripper"-Episode in Paul Lenis "Das Wachsfiguren-Kabinett" von 1924 oder nur sieben Jahre später Fritz Langs "M - Eine Stadt sucht einen Mörder", in den zahlreiche Fakten aus dem Peter-Kürten-Fall einflossen).

Filmausschnit: Ted Bundy

Über die Jahrzehnte hin betrachtet hat es auch hier eine deutliche Zunahme solcher Filme gegeben, die vor allem in den letzten 15 Jahren signifikant wurde. Markant ist hier nicht allein die Quantität der True-Crime-Filme, sondern auch die Qualität, also mit welchen Mitteln sie die Fakten der Kriminalgeschichte ästhetisieren. Angefangen bei den Titeln, die mittlerweile mit den zu Markenzeichen gewordenen Namen der in ihnen behandelten Serienmörder werben ("Ted Bundy", 2002, "Dahmer", 2002, "Gacy", 2003, ...) über sämtliche (und mehr) der hier beschriebenen Authentizitätssignale und -strategien bis hin einem nahezu überbordenden Naturalismus, wenn es um die Darstellung der Verbrecher (vgl. Charlizes Therons Verwandlung in "Monster") und Verbrechen geht.

Distanzverlust

Gerade die Gewaltdarstellungen dieser Filme (und auch der Bücher, denken wir an Bret Easton Ellis' "American Psycho" oder Oates "Zombie") bedingen eine weitere Form der Authentisierung, die sowohl durch optische Verfahren der Annäherung des Blicks an die Wunde als auch durch die Verursachung von Affekten wie Ekel und Schock die Distanz des Rezipienten zum Kunstwerk zusehends schwinden lässt.

Produktionen, wie etwa der 1996 erschienene Film "Funny Games" von Michael Haneke oder der erst kürzlich in Deutschland reüssierte "Last Horror Movie" (GB 2003) von Julian Richards versuchen den Betrachter moralisch in das Geschehen zu involvieren, ihn "verantwortlich" für die Schrecken auf der Leinwand zu machen und ihn letztlich sogar selbst zu bedrohen, wie das Finale von "The Last Horror Movie" eindrücklich vorführt. Diese Einverleibung des Zuschauers in den Erzählprozess dient jedoch nicht allein der "Publikumsbeschimpfung" wie bei Haneke oder dem bloßen Experiment wie bei Richards, sondern verfolgt darüber hinaus oft auch eine sehr interessante diskursive Strategie.

Gerade nämlich, wenn ein heiß diskutiertes Thema (wie Medienwirkung) oder kriminalhistorisch berüchtigte Fälle (wie sie spektakuläre Serienmorde darstellen) in den Medien dargestellt werden - sei es in Romanen, Spielfilmen, Reportagen aber auch in den Bericht erstattenden Formaten -, unterliegt deren mediale Transformation auch immer dem Filterungsprozess des Autors, der damit seine je eigene Haltung zum Geschehen wiedergibt.

Dies kann eher zurückhaltend, wie bei Harbort oder Belloc Lowndes, aber auch mit eindringlicher Intention, wie in Langs "M" oder Matthew Brights "Ted Bundy" geschehen. In letzterem Film etwa entwickelt sich zu seinem Ende hin von einer Rape-and-Revenge-Erzählung in einem dialektischen Umschlag zu einem Fanal gegen die Todesstrafe, indem er klarmacht, dass es keine "ausgleichende Gerechtigkeit" zwischen Tätern und Opfern (bzw. Hinterbliebenen) geben kann. Er konfrontiert den Zuschauer im Finale mit dessen eigenen über den Handlungsverlauf angehäuften Rachegedanken und stellt diese schließlich als ebenso blutrünstig wie die Verbrechen Bundys dar. Und auch hier nutzt der Film authentisierende Ästhetiken zu Verdeutlichung seiner Brisanz.

Während vor dem Hinrichtungsgefängnis in körnigen und verwackelten TV-Bildern Demonstranten gezeigt werden, die "Burn him!"- und ähnliche Transparente in die Luft strecken, nähert sich die Kamera im Hinrichtungsraum bis auf wenige Zentimeter dem vollständig verschnürten und geknebelten Gesicht des Delinquenten und zeigt dessen Tod auf dem elektrischen Stuhl aus nächster Nähe und im grausigen Detail. Schock und Ekel nicht nur vor der Prozedur, sondern auch vor der eigenen Distanz zum Geschehen/Gesehenen übertragen sich auf den Zuschauer.

Im Epilog, der die Exfreundin des Hingerichteten vor dem Fernseher sitzend zeigt, wie sie die Nachrichten über die Hinrichtung gleich einen TV-Krimi verfolgt, bringt der Film seine Agenda auf den Punkt: "Ich kann es einfach nicht glauben. [...] Wer war Ted Bundy?" In der Verdopplung unserer eigenen Zuschauerposition stellt sie sich - konfrontiert mit den authentischen Bildern - dieselbe Frage, die wir uns stellen und die der Film zu beantworten versucht hat.

Zur Übersichtsseite