Der künstliche Mensch muss auch ästhetisch schön sein

Ein Gespräch mit Nadia Thalman von Miralab

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Miralab nennt sich das Forschungslabor der Computerwissenschafterin Nadia Thalmann an der Universität Genf. Das "Miralab" tritt mit dem Motto "Where research means creativity" an und hat sich seit seiner Gründung 1989 einen Namen gemacht mit originellen Simulationen und Animationen von Bewegungen. Grosses Aufsehen erregte etwa die Installation "Virtual Marilyn": Hier konnte der Besucher buchstäblich in die Haut dieser Hollywood-Ikone schlüpfen.

Nadia Thalman

Die Medien sehen Sie manchmal als "Madame Frankenstein". Wollen Sie wirklich virtuelle Menschen schaffen?

Nadia Thalmann: Ich verstehe mich als Wissenschafterin. Wir wollen verstehen, wie der Mensch funktioniert, und deswegen simulieren wir ihn, bilden ihn nach. Eine Simulation ist notgedrungen immer ein Modell, also eine Reduktion der Komplexität. Was machte eigentlich Leonardo da Vinci anders: Auch er versucht zu verstehen, wie der Mensch gebaut ist.

Virtual Marilyn, Miralab

Sie sprechen hier nur über die physikalische Ebene.

Nadia Thalmann:: Nein, wir verbinden drei verschiedene Gebiete: Geometrie, Physik und Verhalten. Mein Traum wäre es, einen künstlichen Menschen zu schaffen, der aber nicht wie ein Roboter aussieht, sondern wie ein schönes, anmutiges menschliches Wesen. Das ist mir sehr wichtig. Ich mag keine Roboter. Der künstliche Mensch muss auch ästhetisch schön sein. Ich verstehe mich in dieser Beziehung auch als Künstlerin. Ich möchte meinen Schöpfungen Leben einhauchen.

: ...und diese künstlichen Menschen sollten bald mehr sein als nur wissenschaftliche Modelle?

Nadia Thalmann:: Oh ja, sie werden unsere Gesellschaft leiten, wir werden mit ihnen spielen können und sie werden mithelfen, unsere Einsamkeit zu überwinden. Mediziner werden mit solchen künstlichen Menschen Operationen üben, Architekten können ihre Modellhäuser damit bevölkern. Das sind alles sehr nützliche Dinge.

Virtueller Minister, Miralab

Ihrer Ideen klingen sehr provokativ. Welche Reaktionen erleben Sie?

Nadia Thalmann: Wir haben mit unseren Schöpfungen bereits am Beginn der 80er Jahre angefangen. Damals dachten die Leute schon, wir seien verrückt. Wir entwickelten erste Visionen. Das sah damals natürlich noch nicht besonders eindrücklich aus. Aber wir haben immer daran geglaubt und unsere Ideen weiterentwickelt. Damit sind wir heute auch akzeptiert. Die Technik der 90er Jahre ist auch viel weiter und ermöglicht uns Dinge, die früher undenkbar waren. Dass wir heute viel besser akzeptiert werden, hängt auch mit der Entwicklung der Unterhaltungsindustrie zusammen. Schauen Sie, Steven Spielberg hat mit seinem Film "Jurassic Parc" bewiesen, dass sich Tiere, in diesem Fall Dinosaurier, mit dem Computer simulieren lassen. Das hat uns viel geholfen.

Es ist klar, dass die Unterhaltungsindustrie ein großes Interesse an diesen Technologien hat, die Sie mithelfen zu entwickeln. Welche Einstellung haben Sie zu dieser Industrie?

Nadia Thalmann: Ich werde tatsächlich immer wieder von Vertretern dieser Branche kontaktiert. Auch die Leute von Disney waren schon bei mir. Ich habe ihnen schon vor vielen Jahren gesagt: Ich mag keine Zeichentrickfilme und forderte sie auf, stattdessen mit virtuellen Schauspielern zu experimentieren. Die Disney-Leute - übrigens waren das zum Teil ehemalige Studenten von mir - fanden das damals total unrealistisch. Heute ist das sicher anders, und die Disney-Filme haben heute einen ganz anderen Realismus als früher. Denken Sie zum Beispiel an den Film "Toy Story".

Die Einwände der Disney-Leute sind durchaus nachvollziehbar: Ihre Schöpfung, die Marilyn Monroe, bewegt sich ja noch recht ungelenk auf dem Bildschirm.

Nadia Thalmann: Sehen Sie, im Moment ist das eine reine Geldfrage. Im Film "Titanic" waren insgesamt 10 Minuten mit dem Computer gemacht. Allein für diese zehn Minuten hat der Produzent 60 Million Dollar ausgegeben. Dieser Teil des Films wurde Bild für Bild, Pixel für Pixel nachbearbeitet. Wir haben keine derart großen Ressourcen, und darum sieht es bei uns auch etwas anders aus. Aber ich bin überzeugt: eines Tages werden künstliche Schauspieler eine Realität sein.

The Xian Terra-Cotta Army, Miralab

Sie arbeiten im Moment an verschiedenen Projekten. Dazu gehört unter anderem die Animation der chinesischen Terracotta Armee, dazu gehören Projekte im Bereich künstliche Kleider usf. Welches ist für Sie das wichtigste Projekt?

Nadia Thalmann: Es gibt keine wichtigen und weniger wichtigen Projekte. Ich arbeite immer gleichzeitig an mehreren Sachen, die alle gleich wichtig sind. Wir versuchen heute immer mehr reale und künstliche Menschen zu mischen. Wir möchten, dass reale Menschen mit virtuellen Geschöpfen in Interaktion treten. Und statt akademische Papiere zu schreiben. machen wir halt Vorführungen, die oft eigentliche Shows sind. Ein solches Projekt ist "Flashback to the Future". Hier werden Leute geklont und können gleichzeitig in zwei verschiedenen Welten leben: im Jahr 1602 und in der Zukunft, aber in Echtzeit.

Also ein Art Computerspiel?

Nadia Thalmann: Persönlich mag ich Computerspiele nicht. Die heutigen Computerspiele ermöglichen uns keine wirklich neuen Erfahrungen. Aber sie haben schon recht: unsere Shows sind eine Art von Computerspiel der Zukunft. Ich würde es wunderbar finden, wenn man dank dieser Einrichtungen in Zukunft wirklich neue Erfahrungen machen könnte, zum Beispiel eine Reise in die Vergangenheit unternehmen und Welten besuchen kann, die man nicht kennt. Hier stehen wir erst am Anfang. Ich bin aber überzeugt, dass in diesem Gebiet eine gewaltige Entwicklung passieren wird.

Sie arbeiten sehr interdisziplinär - und sind das auch von Ihrem Background her, mit Studien in Psychologie, Mathematik und Biochemie. Was sind Sie für eine Person?

Nadia Thalmann: Ich bin einfach wahnsinnig neugierig. Das war immer schon so. Ich will meine Zeit kreativ verbringen. Ich mag die Visionen aus Literatur und bildender Kunst und verstehe mich selber irgendwie mehr als Künstlerin, denn als Wissenschaftlerin.

Nadia Thalman wird im Rahmen der Veranstaltung Cyborg Frictions, die vom 24. November bis 1.Dezember 1999 in Bern stattfindet, Projekt "Virtual Selves" vorführen. Weitere Angebote: Cyborgs + Roboter: Videoprogramm im Kornhaus, Cyborg World: Ausstellungen und Bar, Stelarc Exoskeleton, Cyborg Disco, Symposium "Der künstliche Mensch", Avventure in Elicottero Prodott: EXP.