Der letzte Versuch der Europäer, den Sieg für die Ukraine zu erringen

Der französische Präsident Emmanuel Macron geht mit US-Generalmajor Michael Howard durch das Amphitheater auf dem Nationalfriedhof Arlington der USA, 24. April 2018. Bild: Elizabeth Fraser / Public Domain

Frankreichs Macron spricht von Bodentruppen. Andere wollen Raketen mit größerer Reichweite schicken. Das ist alles Unsinn. Gastbeitrag.

Die militärische Lage in der Ukraine treibt die Vereinigten Staaten und die Nato auf eine schicksalhafte Entscheidung – und zwar schneller, als die meisten Analysten noch vor einem Monat vorausgesagt haben.

Anatol Lieven ist Senior Research Fellow für Russland und Europa am Quincy Institute.

Die ukrainische Niederlage bei Awdijiwka zeigt, wie sehr sich das Kräfteverhältnis zugunsten Russlands verschoben hat. Der Zusammenbruch einer zahlenmäßig nicht konkurrenzfähigen, erschöpften und waffenmäßig unterlegenen ukrainischen Armee ist nun eine reale Möglichkeit.

Das Ausmaß der Gefahr

Als Reaktion auf diese drohende Gefahr sprechen einige Nato-Regierungen nun über die Möglichkeit, eigene Truppen in die Ukraine zu entsenden – etwas, das sie bisher alle ausgeschlossen hatten.

Nach einer Konferenz der europäischen Staats- und Regierungschefs in Paris sagte der französische Präsident Emmanuel Macron am Montag, dass eine Boden-Intervention "eine der Optionen" sei, die man diskutiert habe.

Der Kreml entgegnete, dies würde "unweigerlich" zu einem Krieg zwischen der Nato und Russland führen – was in der Tat der Fall wäre, wenn westliche Streitkräfte gegen russische Truppen vorgehen würden.

George Beebe ist Direktor für Grand Strategy beim Quincy Institute.

Um das Ausmaß der Gefahr zu erkennen, ist es wichtig, das Ausmaß der ukrainischen Niederlage bei Awdijiwka zu verstehen. Es handelte sich nicht um einen geplanten und geordneten Rückzug, wie der ukrainische Rückzug aus Bachmut im Mai 2023 oder der russische Rückzug aus Cherson im November 2022.

Chaotischer Rückzug aus Awdijiwka: Keine Chance auf Erholung

Die ukrainischen Streitkräfte mussten ihre Schwerverwundeten und einen Großteil ihrer schweren Waffen zurücklassen. Die Russen haben Hunderte von Gefangenen gemacht.

Awdijiwka, das praktisch ein Vorort der russisch besetzten Stadt Donezk ist, war ebenfalls seit 2014 von den Ukrainern befestigt worden und ist einer der stärksten Punkte in ihrer Linie gewesen.

Natürlich haben die Russen in diesem Krieg auch sehr große Niederlagen erlitten, vor allem im Osten Charkiws im September 2022. Der Unterschied besteht darin, dass Russland mit mehr als der vierfachen Bevölkerungszahl der Ukraine und der 14-fachen Wirtschaftskraft die Ressourcen hatte, sich von dieser Niederlage zu erholen.

Die Ukraine kann nicht auf solche Ressourcen zurückgreifen, und der Westen kann zwar – bis zu einem gewissen Grad – mehr Waffen bereitstellen, aber nicht die Truppen, um die stark dezimierte Armee zu verstärken. Es sei denn, sie schickt, wie Präsident Macron vorschlug, ihre eigenen Truppen in die Schlacht.

Druck auf USA und Deutschland

Auch westliche Waffenlieferungen in ausreichendem Umfang, um die Ukraine in die Lage zu versetzen, durchzuhalten, sind jetzt fraglich, da das US-Hilfspaket im Kongress immer noch blockiert ist und europäische Vertreter eingestehen, dass die EU bis zum Frühjahr nur die Hälfte ihrer Zielvorgabe von einer Million Artilleriegranaten an die Ukraine erfüllen kann.

Wie die Biden-Regierung erklärt hat, ist der Zusammenbruch der ukrainischen Armee ohne weitere US-Militärhilfe eine Gewissheit.

Die europäischen Gespräche am Montag und Macrons Erklärung dazu scheinen zum Teil darauf zu zielen, die republikanischen Kongressabgeordneten in den USA dazu zu bewegen, ein lange aufgeschobenes Hilfspaket für die Ukraine zu verabschieden und die deutsche Regierung unter Druck zu setzen, ihren Widerstand gegen die Entsendung deutscher Taurus-Langstrecken-Marschflugkörper in die Ukraine aufzugeben.

Vor diesem Hintergrund erscheint die Bereitstellung von Raketen als ein besseres Mittel, um der Ukraine zu helfen, als die Entsendung von Nato-Truppen. Bundeskanzler Olaf Scholz schloss die Entsendung von Soldaten in die Ukraine ohnehin umgehend aus, ebenso wie Offizielle aus anderen europäischen Nato-Staaten, darunter die stärksten Unterstützer der Ukraine, Polen und Großbritannien.

Mit Taurus gegen russische Städte und Moskau

Besser ist jedoch nicht gleichbedeutend mit gut. Wenn die Russen tatsächlich durchbrechen und schnell vorrücken, werden sie durch Langstreckenraketen nicht aufgehalten, und die Nato wird sich weiterhin gezwungen sehen, eigene Truppen zu entsenden.

Gelingt es den Ukrainern hingegen, noch monatelang auszuharren, dann scheint es – ausgehend von ihrem bisherigen Verhalten – sicher, dass sie diese Waffen (und die von der Nato zur Verfügung gestellten F-16-Kampfflugzeuge) einsetzen würden, um tief in das russische Hoheitsgebiet einzudringen, wahrscheinlich auch nach Moskau selbst.

Natürlich haben die Ukrainer angesichts der seit zwei Jahren andauernden russischen Raketenangriffe auf ukrainische Städte rechtlich und moralisch gesehen das uneingeschränkte Recht dazu. Sowohl in der Ukraine als auch in einigen westlichen Institutionen herrscht dabei die Meinung vor, dass das russische Volk seine eigene Medizin zu spüren bekommen sollte.

In der Tat haben Nato-Generalsekretär Jens Stoltenberg und andere westliche Beamte die Ukrainer öffentlich dazu ermutigt, das zu tun. Legal und moralisch ist jedoch nicht dasselbe wie vernünftig und weise.

Die Effekte

Was die praktischen wirtschaftlichen Auswirkungen betrifft, so wären solche ukrainischen Schläge angesichts der enormen Größe und der Ressourcen Russlands nur Nadelstiche.

Was die moralische und politische Wirkung anbelangt, so wissen wir aus Russlands Offensiven gegen ukrainische Städte – und wissen es seit der deutschen Bombenoffensive gegen Großbritannien 1940/41 und den US-Angriffen gegen Nordvietnam –, dass schwerere Bombardierungen die Bevölkerung auf der anderen Seite wütend machen und ihren Kampfeswillen stärken.

In der Zwischenzeit würde die Zerstörung der russischen Wirtschaft Bombardierungen in der Größenordnung der Feldzüge gegen Deutschland und Japan in den Jahren 1943 bis 1945 erfordern, was die Möglichkeiten der Nato völlig übersteigt, es sei denn, wir zerstören uns gleichzeitig selbst, indem wir einen Atomkrieg anzetteln.

Die Gefahr besteht jedoch darin, dass sich die russische Regierung zu einer radikalen Eskalation veranlasst sehen könnte, wenn es den Ukrainern gelänge, ein sehr wichtiges Ziel (wie den Kreml) zu treffen oder eine große Zahl russischer Zivilisten bei einem einzigen Angriff zu töten.

Die Nato gegen Russland

Schon jetzt stellen viele russische Hardliner öffentlich die Frage, wie lange Putin die massive Aufrüstung der Ukraine durch die Nato tolerieren wird, ohne direkte Vergeltungsmaßnahmen gegen Nato-Länder zu ergreifen.

Der Westen könnte sich dann mit der schlimmsten aller Welten konfrontiert sehen: direkte Zusammenstöße mit Russland (und eine wahrscheinliche Weltwirtschaftskrise), die die Ukraine nicht vor einer Niederlage bewahren würden.

Unter diesen Umständen würde der Druck, Nato-Bodentruppen zu entsenden, wieder zunehmen.

Es sei jedoch darauf hingewiesen, dass die Entsendung von Nato-Truppen in die Ukraine nicht zwangsläufig bedeutet, dass sie in eine Schlacht mit Russland geschickt werden.

Schutz von Rumpf-Ukraine?

Sollten die Russen durchbrechen, wäre es denkbar, dass Nato-Truppen entsandt werden, um eine Rumpf-Ukraine zu erhalten, wobei sie Kiew und eine Linie weiter östlich des russischen Vormarsches verteidigen, um auf dieser Grundlage einen Waffenstillstand und Friedensverhandlungen ohne Vorbedingungen vorschlagen zu können.

Dies würde jedoch den Verlust von viel größeren ukrainischen Gebieten bedeuten. Um ein nicht beabsichtigtes Gefecht mit russischen Streitkräften zu vermeiden, wären äußerst sorgfältige und transparente Gespräche mit Moskau erforderlich.

Westliche Generäle würden zudem nur widerwillig ihre Truppen ohne Luftschutz einsetzen. Aber da sowohl die Nato als auch die russischen Luftstreitkräfte über der Ukraine operieren, wäre die Wahrscheinlichkeit eines Luftkampfes sehr hoch.

Um zu verhindern, dass die Nato in einen Krieg mit Russland hineingezogen wird, müssten die westlichen Regierungen die Ukraine nicht nur zwingen, einen Waffenstillstand zu akzeptieren, sondern höchstwahrscheinlich auch die ukrainische Armee anweisen, sich auf die Nato-Linien zurückzuziehen (was viele ukrainische Soldaten wahrscheinlich ohnehin tun würden).

Armageddon

Zwischen beiden Seiten müsste dann eine breite entmilitarisierte Zone eingerichtet werden, die von Truppen der Vereinten Nationen patrouilliert würde.

Sollte eine begrenzte Nato-Präsenz tatsächlich zu einem vollen Krieg mit Russland und einem Eingreifen der US-Streitkräfte führen, würde die Gefahr einer Eskalation bis hin zum Einsatz von (zunächst begrenzten und taktischen) Atomwaffen immens wachsen und die Welt an den Rand des Armageddons bringen.

Ein mögliches Szenario wäre, dass Russland nach einer demonstrativen Atomexplosion (z.B. über dem Schwarzen Meer) damit droht, zwar keine amerikanischen oder europäische Städte anzugreifen, aber US-Militärbasen in Westeuropa. Wie lange würden die Nerven der europäischen Öffentlichkeit und der Regierungen durchhalten, bevor sie um Frieden bitten?

Angesichts der Möglichkeit einer ukrainischen Niederlage und dieser im wahrsten Sinne des Wortes existenziellen Risiken ist es von entscheidender Bedeutung – wie wir in einem kürzlich erschienenen Papier für das Quincy Institute dargelegt haben –, dass der Druck für eine Fortsetzung der Hilfe für die Ukraine und Erklärungen wie die von Macron von einem ernsthaften und glaubwürdigen Vorstoß für einen Kompromissfrieden mit Russland begleitet werden, solange wir noch ein Druckmittel für Gespräche haben.

Ein vollständiger Sieg der Ukraine ist jetzt offensichtlich unmöglich. Jegliches Ende der Kämpfe wird daher in einer Form von Kompromiss enden, und je länger wir warten, desto schlechter werden die Bedingungen dieses Kompromisses für die Ukraine sein. Und desto größer werden die Gefahren für unsere Länder und die Welt sein.

Das Interview erscheint in Kooperation mit Responsible Statecraft. Das englische Original finden Sie hier. Übersetzung: David Goeßmann.

George Beebe ist Direktor für Grand Strategy beim Quincy Institute. Er verbrachte mehr als zwei Jahrzehnte in der US-Regierung als Geheimdienstanalyst, Diplomat und politischer Berater, unter anderem als Direktor der Russland-Analyse der CIA, als Direktor des Open Source Center der CIA und als Berater von Vizepräsident Cheney in Russlandfragen. Sein Buch "The Russia Trap: How Our Shadow War with Russia Could Spiral into Nuclear Catastrophe" warnt davor, wie die Vereinigten Staaten und Russland in eine gefährliche militärische Konfrontation stolpern könnten. Beebe war zudem Vizepräsident und Studiendirektor am Center for the National Interest.

Anatol Lieven ist Senior Research Fellow für Russland und Europa am Quincy Institute for Responsible Statecraft. Zuvor war er Professor an der Georgetown University in Katar und an der Abteilung für Kriegsstudien des King's College London. Er ist Mitglied des beratenden Ausschusses der Südasienabteilung des britischen Außen- und Commonwealth-Büros. Lieven ist Autor mehrerer Bücher über Russland und seine Nachbarländer, darunter "Baltic Revolution: Estonia, Latvia, Lithuania and the Path to Independence" und "Ukraine and Russia: A Fraternal Rivalry" (Eine brüderliche Rivalität).