Deutscher Islam: "Die Muslime müssen entscheiden, ob das ein tauglicher Begriff ist"

Seite 2: Deutsch-türkisches Verhältnis: Viel falsch gemacht

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Wo würden Sie sich da positionieren können? Wurde in den Medien zu grobschlächtig Richtung Türkei gestichelt?

Sulaiman Wilms: Ich tue mich schwer mit einseitigen Schuldzuweisungen. Da wurde von beiden Seiten sehr viel falsch gemacht. Wenn man bedenkt, dass wir hier tatsächlich eine große deutsch-türkische Freundschaft hatten, die bis vor den Ersten Weltkrieg zurückreicht, dann hätte beide Seiten viel besser und klüger agieren müssen. Auch in den Medien.

Zu den Dummheiten gehört beispielsweise, den türkischen Präsidenten als "Sultan" zu bezeichnen. Das ist dumm, weil das in Unkenntnis der historischen Realität der Osmanen geschieht. Die gegenwärtige Politik und ihre Machtmechanismen haben - entgegen der eigenen Vorstellung und der äußeren Kritik - sehr wenig mit dem historischen Vorbild, dafür aber mehrheitlich mit der türkischen Republik zu tun.

Man muss aber fair genug sein und nicht gebetsmühlenartige von der Türkei fordern - was China, Ägypten und andere auch nicht tun -, dass sie Menschenrechte "liefert". Und gleichzeitig soll sie den Flüchtlingspakt erfüllen und ihren Teil der Außengrenze abschirmen. Auch die Türkei hat eigenständige legitime Interessen.

Unsere Schwierigkeit in Deutschland ist nicht nur, dass vieles auf der zwischenstaatlichen Ebene beschädigt wurde. Es ist auch bedenklich, dass die beiderseitigen, über die Medien vermittelten Narrative sehr schnell binär und undifferenziert wurden. Für mich haben beide Seiten massive Fehler gemacht, die ihrerseits zu einer Eskalationsspirale im Verhältnis geführt haben.

Wir vergessen allzu leicht, dass in der Türkei, deren Menschenrechtslage unter den Militärherrschern und alten Eliten kaum interessierte, seit 2002 massive Veränderungen stattfanden. Das alte Etablissement hatte abgewirtschaftet, offenkundig. Die frühere Elite war einfach zu korrupt und die Landeswährung auch im Keller.

Es gab und gibt es natürlich auch eine türkische Einflussnahme in Deutschland. Die hat nicht nur Tradition, sie war von der deutschen Politik früher gewollt. Unter anderem deshalb, weil die türkischstämmigen Menschen und später deutschen Bürger mit türkischem Hintergrund bei uns lange als temporäres Phänomen gesehen wurden.

Ganz abgesehen davon ist nicht jede Einflussnahme per se skandalös. Ansonsten müssten wir uns fragen, was wir mit respektablen Einrichtungen wie dem Goethe-Institut, der Deutschen Welle oder den Auslandsbüros der Parteistiftungen eigentlich erreichen wollen.

Platte Dialektik haben wir zweifelslos auch auf Seiten der Türkei und ihrer Vertreter gehabt - mit teilweise horrenden Vergleichen, aggressiver Rhetorik und ganz realen, negativen Folgen für Teile der muslimischen Gemeinschaften in Deutschland.

Die relative Taubheit gegenüber hiesigen Zuhörern

Von dem Vorwurf kann man die Entscheider in Ankara und ihre hiesigen Vertreter in den türkisch geprägten, muslimischen Strukturen nicht freisprechen. Ohne bei diesem Punkt in die Tiefe gehen zu können, aber ein - kleiner - Aspekt ist beispielsweise die relative Taubheit dem gegenüber, wie die, auf die Adressaten in Ankara zugeschnittene Sprache eigentlich auf hiesige Zuhörer wirkt.

Hinzukommt, dass sich diese Beziehungen und Spannungen leider nicht nur auf einer abstrakten politischen Ebene ereignen. Sie werden bedauerlicherweise eben auch auf dem Rücken einer nicht unerheblichen Bevölkerungsgruppe in Deutschland ausgetragen.

Und die Befindlichkeit dieser Menschen, die schon seit mehreren Generationen in diesem Land leben, spielt leider in der Wahrnehmung keine Rolle. Was haben die Menschen der ersten, zweiten und dritten Generation eigentlich prägend erlebt? Was ist ihre reale Diskriminierungserfahrung? Ohne diesen "menschlichen Faktor" scheint mir echtes Verstehen unmöglich.

Das Verhältnis zur Türkei wird auf jeden Fall bei der Islamkonferenz als Thema mit reinspielen. Zum Beispiel, wenn es um die Imame aus der Türkei geht …

Sulaiman Wilms: Markus Kerber (Staatssekretär im Inneren, federführend für die Organisation der Islamkonferenz, Einf. d.Red.) hat gesagt, dass für ihn die Fortführung des bisherigen Modells keine Option ist. Auch hier, inmitten eskalierender Bedrohungsszenarien, wird vergessen, dass das Ditib-Modell sehr lange Zeit der Favorit der deutschen Islampolitik war, wenn es denn eine solche im bewussten Rahmen gab.

Was alle Seiten brauchen, sind praktikable Konzepte und Handlungsmodelle. Und vielleicht auch die Erinnerung, dass es der türkisch geprägten Religiösität in Deutschland bisher im großen Maße erfolgreich gelang, eine Radikalisierung von Jugendlichen in ihrem Einflussbereich zu unterbinden.

Das bisherige Modell war sehr lange Zeit das favorisierte Modell beider Seiten. Und ich kann mich noch erinnern, wie die deutsche Politik seit Mitte der 1990er Jahre und weit über den Beginn der ersten Islamkonferenz hinaus die Ditib gegenüber anderen Strukturen der muslimischen Selbstorganisation bevorzugte.

Ditib und staatliche Einflussnahme: "Eine gewisse Unehrlichkeit"

Aber wenn dann, wie im Zusammenhang mit Ditib vorgeworfen wird, dass die türkischen Imame nach dem Putsch in der Türkei in Deutschland angewiesen wurden, in ihren Gemeinden nachzuschauen, wer auf Regierungslinie ist und wer nicht?

Sulaiman Wilms: Klar. Für die Überwachung unliebsamer Moscheemitglieder - oder auch nur einfacher Betender - gibt es keine Rechtfertigung. Und ich kann die Verantwortlichen auch nicht verstehen, dass sie so sonnambul handeln konnten. Es hätte jedem bewusst sein müssen, dass ein solches Verhalten einem Teil der hiesigen Muslimen und ihren Gemeinschaften massiv schaden wird.

Aber auch hier gibt es - von beiden Seiten - eine gewisse Unehrlichkeit. Alle positionieren sich gegen staatliche Einflussnahme - entweder seitens Deutschlands oder der Türkei - und betonen den Wert der religionsverfassungsrechtlichen Autonomie. Aber beide wollen ihrerseits gleichzeitig die eigenen Interessen berücksichtigt sehen.

In der innerdeutschen Debatte werden stellenweise abstruse Bedrohungsszenarien aufgebaut. Das wird in erster Linie bei der Finanzierung von Moscheeneubauten getan. Ganz abgesehen davon, dass die allermeisten Moscheegemeinden als Vereine dem Vereins- und Steuerrecht unterliegen und kontrolliert werden, operiert die Kritik in der Regel ohne nennenswerte Empirie.

Die Realität ist, dass in den meisten Fällen Immobilienkäufe, Neu- und Umbauten von den Mitgliedern und Spendern in jahrelanger, mühevoller Kleinarbeit und mit erheblichen Eigenmitteln finanziert werden und wurden.

Problematisch ist da meiner Meinung eher, dass etablierte Gemeinden, damit sie einen bezahlten Imam bekommen, sich in bestehende Strukturen einbinden müssen. In einem Teil der Fälle müssen sie den Besitz am Gebäude ganz oder teilweise Immobilienstiftungen überschreiben.

Warum mussten sie das? Aus steuerlichen, rechtlichen Gründen?

Sulaiman Wilms: Ja, damit sie einen Imam finanziert bekommen. Da gibt es Konstrukte, die die Moschee-Immobilie halten.

Beide Seiten beklagen staatliche Einflussnahme, aber in ihrem Verhalten nehmen sie selbst Einfluss. Das passiert nicht immer direkt. So sind Bund und Länder beispielsweise über Stiftungen oder Projektförderungen natürlich Akteure in der Entwicklung der muslimischen Selbstorganisation. Sie fördern gezielt muslimische Eliten, entwickeln Alternativmodelle zum tradierten Gemeinschaftsleben und bestimmen so den innermuslimischen Diskurs. Also für mich sieht das durchaus nach einem "politischen Islam" aus.