Deutscher Islam: "Die Muslime müssen entscheiden, ob das ein tauglicher Begriff ist"

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Interview mit dem Chefredakteur der Islamischen Zeitung Sulaiman Wilms über Muslime in Deutschland, die Islamkonferenz und das politische Projekt "deutscher Islam"

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Mit Sulaiman Wilms, dem Chefredakteur der Islamischen Zeitung, hat sich Telepolis seit vielen Jahren immer wieder darüber unterhalten, wie Kontroversen zum Thema Muslime in Deutschland aus seiner Sicht wahrgenommen werden. Grund genug für ein Hintergrundgespräch anlässlich der Wiederaufnahme der Islamkonferenz im November, die laut dem für die Organisation zuständigen Staatssekretär im Innenministerium, Markus Kerber, den "deutschen Islam" zum Thema haben soll (vgl. Islamkonferenz: Der deutsche Islam als immer neues Reizthema).

Hallo Herr Wilms. Was ist der Stand zum "Generalverdacht gegen Muslime?" Wir hatten vor etwa zehn Jahren darüber gesprochen, damals haben Sie mir gesagt, Sie werden sehen, es wird in den nächsten Jahren noch viel schlimmer. Und es ist schlimmer geworden…
Sulaiman Wilms: Die bittere Ironie an der momentanen Lage ist, dass wir Muslime uns - auf einer Ebene - "bequem zurücklehnen könnten", wären wir nicht auch Bürger und Betroffene. Wie zwischen den politischen und intellektuellen Lagern derzeit in Deutschland untereinander ausgeteilt wird, übersteigt fast das, was Muslime abbekommen haben. Hier entfaltet sich eine enorme Vehemenz und Aggression!
Dadurch wird natürlich auch das öffentliche Gespräch angeheizt. Auch dann, oder gerade dann, wenn es oft nur um Symbolik geht. Ich bin da wirklich nicht Parteigänger, da mir eine Verortung im Lagerdenken schwerfällt. Beide wirken auf mich vorrangig negativ. Es fehlt der Wille zum Kompromiss und zu konkreten Lösungen.
Was meinen Sie genau mit Lager? Meinen Sie "rechts und links"? Oder meinen Sie die AfD und deren Gegner? Oder ganz anders?
Sulaiman Wilms: Ich habe Schwierigkeiten, das auf einfache Begriffe herunterzubrechen. Natürlich manifestieren sich solche Fragen für viele Menschen derzeit an den Fragen Flucht und Migration. Es gibt zwei Extreme, die mir angesichts der Notwendigkeit, lebensfähige Lösungen zu finden, in ihrer Reinform nicht sonderlich prickelnd erscheinen.
Auf der verbalen, politisch-medialen Ebene ist eine massive Radikalisierung im Gange. Gleichzeitig bleiben materielle Bedingungen eigentlich unhinterfragt. Die Ökonomie ist natürlich bei beiden Seiten im Wesentlichen die Gleiche und muss funktionieren.

Der Wendepunkt 2015

Darf ich fragen, ob Sie sich von der Islamkonferenz etwas versprechen? Welche Hoffnungen hat jemand, der Muslime nach außen vertritt? Verbinden Sie Hoffnungen mit der Islamkonferenz? Ich glaube, das große Problem ist das gestörte öffentliche Verhältnis, das Misstrauen, das durch Pegida verschärft wurde? Und da könnte eigentlich eine Islamkonferenz vielleicht was tun?
Sulaiman Wilms: Zur Klarstellung: Ich beanspruche nicht, "den Islam" nach außen zu vertreten. Was schon rein konzeptionell gar nicht geht. Noch übe ich irgendwie ein repräsentatives Amt aus.
Eigentlich würde ich sagen, dass diese Bewegung im weiteren Sinne - und Pegida war ja auch einer der Faktoren, aus der eurokritischen AfD eine Partei zur Mobilisierung des Ressentiments zu machen - dank der Flüchtlingsfrage und des antimuslimischen Ressentiments ihr Thema gefunden hat.
Was 2015 passiert ist, hat das bundesweite Gespräch über Islam und die deutschen Muslime nachhaltig verändert. Pegida und die AfD in Folge haben sich "das System" und damit die politische Mitte zum Feind erkoren; symbolisiert durch Merkel-Pranger, die "Jagen"-Rhetorik und so weiter.
Bekanntermaßen zählen auch die Muslime von Anfang an zum Kernbestand der Feindbestimmung. Das hat zu einer - scheinbaren - Annäherung beider Seiten geführt. Einen Ausdruck fand das Phänomen in der stellenweise geänderten Berichterstattung einiger Massenmedien.
Diese Entwicklung hat das Projekt "Islamkonferenz" überlagert, und stellenweise deren Grundkonstellation und anfänglichen Widersprüche aus der Wahrnehmung verdrängt. Dazu gehört beispielsweise das politische Projekt zur Einhegung der Muslime und deren Neuformierung entsprechend der politischen Großwetterlage. Diese Grundfragen sind nicht verschwunden.
Was ist da eigentlich unter Muslimen in Deutschland passiert? Gab es da Überlegungen, wie man sich jetzt schärfer gewordenen Angriffen stellt? Radikalisierungen?
Sulaiman Wilms: Vorab sei vorausgeschickt, dass es derzeit nur sehr begrenzt ein politisches Subjekt der Muslime in Deutschland gibt. Sicherlich bestanden und bestehen solche Überlegungen, aber nicht im Sinne eines einheitlichen Korpus. Es gibt derzeit auf Bundesebene keine funktionierende muslimische Entität, die so was nach außen tragen könnte.
Was nach meiner Beobachtung im Wesentlichen passierte: Muslime wurden im politischen Diskurs bis 2015 tendenziell eher im geringeren Maße gehört. Und sie wurden in der öffentlichen Wahrnehmung als oppositionell zur Mehrheitspolitik dargestellt. Aber ab 2015 gerieten nicht mehr nur Minderheiten wie Muslime, sondern "das System" - in der Rhetorik des identität-populistischen Lagers - in den Fokus der Ablehnung.
Das hat im Kreis der Mitte - und wohl auch Teilen der Elite - zu einer strategischen Veränderung geführt. Man hat angefangen, Muslime anders darzustellen. Muslime haben mehrheitlich auch entsprechend reagiert.
Es gab zum Beispiel von 2015-2018 eine relativ hohe Mittelausschüttung allein aus dem Bundesinnenministerium für Projekte zur Flüchtlingsbetreuung, Extremismusprävention, Demokratieförderung etc. So war 2015 für die Republik als Ganzes eine Art Wendepunkt. Das gilt natürlich auch für das Verhältnis zwischen Politik/Öffentlichkeit einerseits und Muslimen andererseits.
Das könnte man so verstehen, dass es jetzt auch eine andere Konstellation gibt; Muslime, die anders als zuvor zum "System" oder zur "Mitte" gehörend wahrgenommen werden? Läge darin eine Chance?
Sulaiman Wilms: Hier kamen natürlich verschiedene Dinge zum Tragen, nicht nur die oben erwähnten. So verliefen außenpolitische Aspekte, hier das deutsche Verhältnis zur Türkei, kontraintuitiv der innenpolitischen Entwicklung zuwider. Und da in Deutschland ein erheblicher Teil der Muslime einen türkischstämmigen Hintergrund hat und bisher institutionelle Verbindungen bestehen, wurde erheblich Porzellan zerschlagen.

Deutsch-türkisches Verhältnis: Viel falsch gemacht

Wo würden Sie sich da positionieren können? Wurde in den Medien zu grobschlächtig Richtung Türkei gestichelt?
Sulaiman Wilms: Ich tue mich schwer mit einseitigen Schuldzuweisungen. Da wurde von beiden Seiten sehr viel falsch gemacht. Wenn man bedenkt, dass wir hier tatsächlich eine große deutsch-türkische Freundschaft hatten, die bis vor den Ersten Weltkrieg zurückreicht, dann hätte beide Seiten viel besser und klüger agieren müssen. Auch in den Medien.
Zu den Dummheiten gehört beispielsweise, den türkischen Präsidenten als "Sultan" zu bezeichnen. Das ist dumm, weil das in Unkenntnis der historischen Realität der Osmanen geschieht. Die gegenwärtige Politik und ihre Machtmechanismen haben - entgegen der eigenen Vorstellung und der äußeren Kritik - sehr wenig mit dem historischen Vorbild, dafür aber mehrheitlich mit der türkischen Republik zu tun.
Man muss aber fair genug sein und nicht gebetsmühlenartige von der Türkei fordern - was China, Ägypten und andere auch nicht tun -, dass sie Menschenrechte "liefert". Und gleichzeitig soll sie den Flüchtlingspakt erfüllen und ihren Teil der Außengrenze abschirmen. Auch die Türkei hat eigenständige legitime Interessen.
Unsere Schwierigkeit in Deutschland ist nicht nur, dass vieles auf der zwischenstaatlichen Ebene beschädigt wurde. Es ist auch bedenklich, dass die beiderseitigen, über die Medien vermittelten Narrative sehr schnell binär und undifferenziert wurden. Für mich haben beide Seiten massive Fehler gemacht, die ihrerseits zu einer Eskalationsspirale im Verhältnis geführt haben.
Wir vergessen allzu leicht, dass in der Türkei, deren Menschenrechtslage unter den Militärherrschern und alten Eliten kaum interessierte, seit 2002 massive Veränderungen stattfanden. Das alte Etablissement hatte abgewirtschaftet, offenkundig. Die frühere Elite war einfach zu korrupt und die Landeswährung auch im Keller.
Es gab und gibt es natürlich auch eine türkische Einflussnahme in Deutschland. Die hat nicht nur Tradition, sie war von der deutschen Politik früher gewollt. Unter anderem deshalb, weil die türkischstämmigen Menschen und später deutschen Bürger mit türkischem Hintergrund bei uns lange als temporäres Phänomen gesehen wurden.
Ganz abgesehen davon ist nicht jede Einflussnahme per se skandalös. Ansonsten müssten wir uns fragen, was wir mit respektablen Einrichtungen wie dem Goethe-Institut, der Deutschen Welle oder den Auslandsbüros der Parteistiftungen eigentlich erreichen wollen.
Platte Dialektik haben wir zweifelslos auch auf Seiten der Türkei und ihrer Vertreter gehabt - mit teilweise horrenden Vergleichen, aggressiver Rhetorik und ganz realen, negativen Folgen für Teile der muslimischen Gemeinschaften in Deutschland.

Die relative Taubheit gegenüber hiesigen Zuhörern

Von dem Vorwurf kann man die Entscheider in Ankara und ihre hiesigen Vertreter in den türkisch geprägten, muslimischen Strukturen nicht freisprechen. Ohne bei diesem Punkt in die Tiefe gehen zu können, aber ein - kleiner - Aspekt ist beispielsweise die relative Taubheit dem gegenüber, wie die, auf die Adressaten in Ankara zugeschnittene Sprache eigentlich auf hiesige Zuhörer wirkt.
Hinzukommt, dass sich diese Beziehungen und Spannungen leider nicht nur auf einer abstrakten politischen Ebene ereignen. Sie werden bedauerlicherweise eben auch auf dem Rücken einer nicht unerheblichen Bevölkerungsgruppe in Deutschland ausgetragen.
Und die Befindlichkeit dieser Menschen, die schon seit mehreren Generationen in diesem Land leben, spielt leider in der Wahrnehmung keine Rolle. Was haben die Menschen der ersten, zweiten und dritten Generation eigentlich prägend erlebt? Was ist ihre reale Diskriminierungserfahrung? Ohne diesen "menschlichen Faktor" scheint mir echtes Verstehen unmöglich.
Das Verhältnis zur Türkei wird auf jeden Fall bei der Islamkonferenz als Thema mit reinspielen. Zum Beispiel, wenn es um die Imame aus der Türkei geht …
Sulaiman Wilms: Markus Kerber (Staatssekretär im Inneren, federführend für die Organisation der Islamkonferenz, Einf. d.Red.) hat gesagt, dass für ihn die Fortführung des bisherigen Modells keine Option ist. Auch hier, inmitten eskalierender Bedrohungsszenarien, wird vergessen, dass das Ditib-Modell sehr lange Zeit der Favorit der deutschen Islampolitik war, wenn es denn eine solche im bewussten Rahmen gab.
Was alle Seiten brauchen, sind praktikable Konzepte und Handlungsmodelle. Und vielleicht auch die Erinnerung, dass es der türkisch geprägten Religiösität in Deutschland bisher im großen Maße erfolgreich gelang, eine Radikalisierung von Jugendlichen in ihrem Einflussbereich zu unterbinden.
Das bisherige Modell war sehr lange Zeit das favorisierte Modell beider Seiten. Und ich kann mich noch erinnern, wie die deutsche Politik seit Mitte der 1990er Jahre und weit über den Beginn der ersten Islamkonferenz hinaus die Ditib gegenüber anderen Strukturen der muslimischen Selbstorganisation bevorzugte.

Ditib und staatliche Einflussnahme: "Eine gewisse Unehrlichkeit"

Aber wenn dann, wie im Zusammenhang mit Ditib vorgeworfen wird, dass die türkischen Imame nach dem Putsch in der Türkei in Deutschland angewiesen wurden, in ihren Gemeinden nachzuschauen, wer auf Regierungslinie ist und wer nicht?
Sulaiman Wilms: Klar. Für die Überwachung unliebsamer Moscheemitglieder - oder auch nur einfacher Betender - gibt es keine Rechtfertigung. Und ich kann die Verantwortlichen auch nicht verstehen, dass sie so sonnambul handeln konnten. Es hätte jedem bewusst sein müssen, dass ein solches Verhalten einem Teil der hiesigen Muslimen und ihren Gemeinschaften massiv schaden wird.
Aber auch hier gibt es - von beiden Seiten - eine gewisse Unehrlichkeit. Alle positionieren sich gegen staatliche Einflussnahme - entweder seitens Deutschlands oder der Türkei - und betonen den Wert der religionsverfassungsrechtlichen Autonomie. Aber beide wollen ihrerseits gleichzeitig die eigenen Interessen berücksichtigt sehen.
In der innerdeutschen Debatte werden stellenweise abstruse Bedrohungsszenarien aufgebaut. Das wird in erster Linie bei der Finanzierung von Moscheeneubauten getan. Ganz abgesehen davon, dass die allermeisten Moscheegemeinden als Vereine dem Vereins- und Steuerrecht unterliegen und kontrolliert werden, operiert die Kritik in der Regel ohne nennenswerte Empirie.
Die Realität ist, dass in den meisten Fällen Immobilienkäufe, Neu- und Umbauten von den Mitgliedern und Spendern in jahrelanger, mühevoller Kleinarbeit und mit erheblichen Eigenmitteln finanziert werden und wurden.
Problematisch ist da meiner Meinung eher, dass etablierte Gemeinden, damit sie einen bezahlten Imam bekommen, sich in bestehende Strukturen einbinden müssen. In einem Teil der Fälle müssen sie den Besitz am Gebäude ganz oder teilweise Immobilienstiftungen überschreiben.
Warum mussten sie das? Aus steuerlichen, rechtlichen Gründen?
Sulaiman Wilms: Ja, damit sie einen Imam finanziert bekommen. Da gibt es Konstrukte, die die Moschee-Immobilie halten.
Beide Seiten beklagen staatliche Einflussnahme, aber in ihrem Verhalten nehmen sie selbst Einfluss. Das passiert nicht immer direkt. So sind Bund und Länder beispielsweise über Stiftungen oder Projektförderungen natürlich Akteure in der Entwicklung der muslimischen Selbstorganisation. Sie fördern gezielt muslimische Eliten, entwickeln Alternativmodelle zum tradierten Gemeinschaftsleben und bestimmen so den innermuslimischen Diskurs. Also für mich sieht das durchaus nach einem "politischen Islam" aus.

Der deutsche Islam: Als Gegenentwurf zum "politischen Islam" weiterhin enorm politisch

Die große Schlagzeile zur Islamkonferenz lautete, ihr Organisator, Staatssekretär Kerber wolle einen "deutschen Islam". Jetzt weiß ich nicht so recht, was ich mir darunter vorstellen kann? Sie?
Sulaiman Wilms: (überlegt…) Offen gestanden habe ich bisher auch erhebliche Schwierigkeiten, den Begriff in einfachen Sätzen zu erklären, beziehungsweise mir etwas vorzustellen. Zumal ich hier vor Gewissheiten und reinen Wahrheiten zurückschrecke.
Um es positiv zu wenden, ich denke, es ist eine der wichtigsten Aufgaben der Muslime in Deutschland heute, zu entscheiden, ob das ein tauglicher Begriff ist. Und wenn ja, diesen mit Leben zu füllen. Es können aber nur wir sein, die das tun. Das kann uns niemand abnehmen.
Ich hatte vorher angemerkt, dass ich momentan kein wirkliches politische Subjekt der Muslime in Deutschland sehen kann. Analog zur allgemeinen gesellschaftlichen Lagerbildung treiben innermuslimisch die Segmente auseinander, was die Mitte und ihren Konsens schwächt. Es sind also sehr deutsche Zustände…
Um es (zu) einfach zu halten. Es gibt bei dieser Frage innermuslimisch mindestens zwei Seiten. Bei beiden sehe ich richtige Ansätze, aber auch Irrtümer. Im Rahmen der historischen muslimischen Lebenspraxis sowie des juristischen Denkens des Islam ist eine lokale Verortung und "Heimischwerdung" weder neu, noch unerwünscht.
Wenn mit "deutscher Islam" die Akzeptanz hiesiger Erfahrungshorizonte und Traditionen verstanden wird, die nicht im Widerspruch zu Grundsätzen der individuellen Religionsausübung stehen, ist der Begriff weitaus weniger problematisch.
Ich bin mir aber nicht sicher, ob es das ist, worüber hier diskutiert wird. Einerseits befinden wir uns in der Entwicklung eines, zahlenmäßig nicht relevanten Projekts, das oft als "liberaler Islam" etikettiert wird. Es verfügt dank seines medialen, institutionellen und materiellen Zuspruchs aber über enormes symbolisches Kapital.
Dieses Projekt gibt sich als Gegenentwurf zum "politischen Islam", ist dabei aber weiterhin enorm politisch. Denn seine Betrachtungsweise auf die religiöse Lebenspraxis der Muslime und der Glaubensgrundlagen wird durch einen politischen Bedeutungsrahmen bestimmt.
Andererseits hat sich zur Aussage von Herrn Kerber aber in Teilen der innermuslimischen Debatte eine Abwehrhaltung entwickelt. Das ist weniger ein Argument von politisch vs. apolitisch oder konservativ vs. liberal. Hier spielen Ängste eine Rolle; nämlich die Angst von Angehörigen einer Minderheit, die derzeit unter offenkundigem Druck steht, noch weiter in die Defensive zu geraten.

Gegensatz zwischen "deutsch" und "muslimisch"?

Denn die Idee eines "deutschen Islam" gehört ja zu den "Grundnahrungsmitteln" der politisch ausagierten Islamdebatte. Und es geht um Identitätsfragen. Leider Gottes wurde nicht nur auf Seiten der kulturalisierten Islamkritik der Rechten ein Gegensatz zwischen "deutsch" und "muslimisch" konstruiert.
Diese Vorstellung des wesensmäßigen Unterschieds beider Aspekte - oder gar die Möglichkeit einer harmonischen Gleichzeitigkeit - findet nach Jahren der Erfahrung mit Islamfeindlichkeit auch auf muslimischer Seite Anhänger.
Eigentlich sollte es für Muslime selbstverständlich sein, dass das reale Umfeld eine lokale Identität schafft. Das war in der Geschichte der Muslime in Vergangenheit nicht anders. Es ist dann eigentlich normal, dass man eine lokale Ausprägung hat. Das betrifft nicht die wesentliche, verbindliche religiöse Praxis; wir beten gleich, wir fasten gleich und so weiter.
Da kann man also auch nicht viel steuern oder doch?
Sulaiman Wilms: Irgendwann sprechen die Kinder alle Deutsch. Irgendwann heiraten viele querbeet und nicht nur in der eigenen Herkunftsgruppe. Das ist normal. Aber hier geht es wie erwähnt um ein politisches Projekt. Es wird ein wie auch immer gestalteter "Islam" gefordert, der de facto ein verlängerter Arm des politischen Denkens sein soll. Sprich, eine Ausprägung der muslimischen Lebensweise, die politisch kommod sein soll.
Und, das dürfen wir nicht vergessen, all dies spielt sich in einem europäischen Zusammenhang ab, in dem hasserfüllte Bewegungen Einfluss gewinnen und die etablierten Eliten vor sich hertreiben. Mittlerweile werden - dank dieser Trends - komplett banale Dinge wie Essen oder das Fasten von Muslimen, die vor 10 Jahren wirklich niemanden interessiert hätten, bis in den Mainstream hinein problematisiert und attackiert.
Dass dabei wesentliche Grundrechte hinterfragt oder angegriffen werden, interessiert nicht viele. Wenn eine CDU-Politikerin Muslimen nicht die Mitgliedschaft in ihrer Partei zugestehen will oder das öffentliche Tragen des Kopftuchs, das durch das GG gedeckt ist, vom digitalen Stammtisch als Ausschlusskriterium aus der Schicksalsgemeinschaft verstanden wird, sollte sich die Gesellschaft ernsthafte Fragen stellen.
Viele Muslime nehmen diese Entwicklungen zur Kenntnis und sind verständlicherweise verstimmt. Hinzukommt die meiner Meinung nach gescheiterte Aufarbeitung des NSU. Das wäre in den letzten Jahren schon wichtig gewesen. Zumal es seit geraumer Zeit eine erhebliche Zunahme antimuslimischer Übergriffe gab, die ebenfalls nicht ausreichend zur Kenntnis genommen werden.
Was wäre zu machen?
Sulaiman Wilms: "Deutsch" ist für mich - trotz aller endlos überladender "Debatten" - erst einmal ein wertfreier Begriff, von dem wir Deutschen oft selbst nicht wissen, was wir eigentlich damit meinen.
Konkret ist er hier aber von verschiedener Seite besetzt und damit definiert worden. Markus Kerber erklärte zwar zur Islamkonferenz, die Muslime müssten selbst definieren, was sie unter diesem Begriff verstünden. Gleichzeitig werden aber seit Jahren "Wünsche" formuliert, wie das Ganze denn auszusehen habe. Der Schwachpunkt bei Prozessen wie diesen besteht darin, dass es an vermittelnden Elementen fehlt.
Das wären solche, die hin zu einer positiven Begriffsdefinition arbeiten, von der alle Seiten profitieren können. Beispielsweise wären das intelligente Köpfe unter den sogenannten deutschen Konvertiten, die hier Brücken bauen können.