Deutscher Islam: "Die Muslime müssen entscheiden, ob das ein tauglicher Begriff ist"

Seite 3: Der deutsche Islam: Als Gegenentwurf zum "politischen Islam" weiterhin enorm politisch

Der folgende Beitrag ist vor 2021 erschienen. Unsere Redaktion hat seither ein neues Leitbild und redaktionelle Standards. Weitere Informationen finden Sie hier.

Die große Schlagzeile zur Islamkonferenz lautete, ihr Organisator, Staatssekretär Kerber wolle einen "deutschen Islam". Jetzt weiß ich nicht so recht, was ich mir darunter vorstellen kann? Sie?

Sulaiman Wilms: (überlegt…) Offen gestanden habe ich bisher auch erhebliche Schwierigkeiten, den Begriff in einfachen Sätzen zu erklären, beziehungsweise mir etwas vorzustellen. Zumal ich hier vor Gewissheiten und reinen Wahrheiten zurückschrecke.

Um es positiv zu wenden, ich denke, es ist eine der wichtigsten Aufgaben der Muslime in Deutschland heute, zu entscheiden, ob das ein tauglicher Begriff ist. Und wenn ja, diesen mit Leben zu füllen. Es können aber nur wir sein, die das tun. Das kann uns niemand abnehmen.

Ich hatte vorher angemerkt, dass ich momentan kein wirkliches politische Subjekt der Muslime in Deutschland sehen kann. Analog zur allgemeinen gesellschaftlichen Lagerbildung treiben innermuslimisch die Segmente auseinander, was die Mitte und ihren Konsens schwächt. Es sind also sehr deutsche Zustände…

Um es (zu) einfach zu halten. Es gibt bei dieser Frage innermuslimisch mindestens zwei Seiten. Bei beiden sehe ich richtige Ansätze, aber auch Irrtümer. Im Rahmen der historischen muslimischen Lebenspraxis sowie des juristischen Denkens des Islam ist eine lokale Verortung und "Heimischwerdung" weder neu, noch unerwünscht.

Wenn mit "deutscher Islam" die Akzeptanz hiesiger Erfahrungshorizonte und Traditionen verstanden wird, die nicht im Widerspruch zu Grundsätzen der individuellen Religionsausübung stehen, ist der Begriff weitaus weniger problematisch.

Ich bin mir aber nicht sicher, ob es das ist, worüber hier diskutiert wird. Einerseits befinden wir uns in der Entwicklung eines, zahlenmäßig nicht relevanten Projekts, das oft als "liberaler Islam" etikettiert wird. Es verfügt dank seines medialen, institutionellen und materiellen Zuspruchs aber über enormes symbolisches Kapital.

Dieses Projekt gibt sich als Gegenentwurf zum "politischen Islam", ist dabei aber weiterhin enorm politisch. Denn seine Betrachtungsweise auf die religiöse Lebenspraxis der Muslime und der Glaubensgrundlagen wird durch einen politischen Bedeutungsrahmen bestimmt.

Andererseits hat sich zur Aussage von Herrn Kerber aber in Teilen der innermuslimischen Debatte eine Abwehrhaltung entwickelt. Das ist weniger ein Argument von politisch vs. apolitisch oder konservativ vs. liberal. Hier spielen Ängste eine Rolle; nämlich die Angst von Angehörigen einer Minderheit, die derzeit unter offenkundigem Druck steht, noch weiter in die Defensive zu geraten.

Gegensatz zwischen "deutsch" und "muslimisch"?

Denn die Idee eines "deutschen Islam" gehört ja zu den "Grundnahrungsmitteln" der politisch ausagierten Islamdebatte. Und es geht um Identitätsfragen. Leider Gottes wurde nicht nur auf Seiten der kulturalisierten Islamkritik der Rechten ein Gegensatz zwischen "deutsch" und "muslimisch" konstruiert.

Diese Vorstellung des wesensmäßigen Unterschieds beider Aspekte - oder gar die Möglichkeit einer harmonischen Gleichzeitigkeit - findet nach Jahren der Erfahrung mit Islamfeindlichkeit auch auf muslimischer Seite Anhänger.

Eigentlich sollte es für Muslime selbstverständlich sein, dass das reale Umfeld eine lokale Identität schafft. Das war in der Geschichte der Muslime in Vergangenheit nicht anders. Es ist dann eigentlich normal, dass man eine lokale Ausprägung hat. Das betrifft nicht die wesentliche, verbindliche religiöse Praxis; wir beten gleich, wir fasten gleich und so weiter.

Da kann man also auch nicht viel steuern oder doch?

Sulaiman Wilms: Irgendwann sprechen die Kinder alle Deutsch. Irgendwann heiraten viele querbeet und nicht nur in der eigenen Herkunftsgruppe. Das ist normal. Aber hier geht es wie erwähnt um ein politisches Projekt. Es wird ein wie auch immer gestalteter "Islam" gefordert, der de facto ein verlängerter Arm des politischen Denkens sein soll. Sprich, eine Ausprägung der muslimischen Lebensweise, die politisch kommod sein soll.

Und, das dürfen wir nicht vergessen, all dies spielt sich in einem europäischen Zusammenhang ab, in dem hasserfüllte Bewegungen Einfluss gewinnen und die etablierten Eliten vor sich hertreiben. Mittlerweile werden - dank dieser Trends - komplett banale Dinge wie Essen oder das Fasten von Muslimen, die vor 10 Jahren wirklich niemanden interessiert hätten, bis in den Mainstream hinein problematisiert und attackiert.

Dass dabei wesentliche Grundrechte hinterfragt oder angegriffen werden, interessiert nicht viele. Wenn eine CDU-Politikerin Muslimen nicht die Mitgliedschaft in ihrer Partei zugestehen will oder das öffentliche Tragen des Kopftuchs, das durch das GG gedeckt ist, vom digitalen Stammtisch als Ausschlusskriterium aus der Schicksalsgemeinschaft verstanden wird, sollte sich die Gesellschaft ernsthafte Fragen stellen.

Viele Muslime nehmen diese Entwicklungen zur Kenntnis und sind verständlicherweise verstimmt. Hinzukommt die meiner Meinung nach gescheiterte Aufarbeitung des NSU. Das wäre in den letzten Jahren schon wichtig gewesen. Zumal es seit geraumer Zeit eine erhebliche Zunahme antimuslimischer Übergriffe gab, die ebenfalls nicht ausreichend zur Kenntnis genommen werden.

Was wäre zu machen?

Sulaiman Wilms: "Deutsch" ist für mich - trotz aller endlos überladender "Debatten" - erst einmal ein wertfreier Begriff, von dem wir Deutschen oft selbst nicht wissen, was wir eigentlich damit meinen.

Konkret ist er hier aber von verschiedener Seite besetzt und damit definiert worden. Markus Kerber erklärte zwar zur Islamkonferenz, die Muslime müssten selbst definieren, was sie unter diesem Begriff verstünden. Gleichzeitig werden aber seit Jahren "Wünsche" formuliert, wie das Ganze denn auszusehen habe. Der Schwachpunkt bei Prozessen wie diesen besteht darin, dass es an vermittelnden Elementen fehlt.

Das wären solche, die hin zu einer positiven Begriffsdefinition arbeiten, von der alle Seiten profitieren können. Beispielsweise wären das intelligente Köpfe unter den sogenannten deutschen Konvertiten, die hier Brücken bauen können.