Deutschlands politisches System wird sich verändern

Die Wahlen in Brandenburg und Sachsen zeigen, dass die "großen Volksparteien" ausgewirtschaftet haben und Bewegung ins System kommt

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Die Wähler protestieren und entscheiden sich für die extremen oder die Randparteien. Das ist der Tenor der ehemaligen Volksparteien, die nicht nur in Brandenburg und Sachsen an Einfluss verlieren. Beruhigend wird nachgeschoben, dass die rechtsextremen Parteien NPD und DVU nur einen vorübergehenden Erfolg dank der Stimmung in Ostdeutschland und Hartz IV erzielt haben. Mit solchen Beruhigungstaktiken sollte man sich allerdings nicht mehr betäuben, zumal immer mehr Menschen gar nicht mehr an den Wahlen teilnehmen.

Die Menschen sind zweifellos in aller Regel konservativ eingestellt. Sie lieben Stabilität, und je mehr Gesellschaften vergreisen, so sollte man meinen, desto stärker sollte dieser Trend ausgeprägt sein. Daher gibt es auch oft, wenn sich nicht die Bedingungen grundlegend verändern, eine Konkurrenz zwischen den etablierten Parteien, die einmal nach dieser, einmal nach der anderen Seite bei Wahlen ausschlägt. Minderheiten schlagen sich in kleineren, ein wenig extremeren oder ideologisch einseitigeren Parteien als die "großen Volksparteien" nieder, die aber relativ klein bleiben, obwohl die das Zünglein an der Waage bilden können.

So haben sich die politischen Landschaften in Westdeutschland bislang nach dem Krieg mit wenigen Ausnahmen konstant gehalten. Für wirkliche Umbrüche war kein Platz, die Wirtschaft sorgte auch mitsamt dem Sozialstaat dafür, dass der Wohlstand sich verbreitete und die Armut abgefedert wurde. Dass jetzt aber nicht nur die lange hinausgeschobenen Reformen des Sozialstaats endlich bei einer schwächelnden Wirtschaft ausgerechnet von der Partei angegangen werden, die sich einst den Arbeitnehmern verpflichtet fühlte, hat sicherlich für eine Verwirrung in den Köpfen gesorgt.

Zudem ist die Lage einer Nation auch immer abhängig von der Stimmung der Menschen - und die ist denkbar schlecht. Man starrt auf das Negative, hat Untergangsängste, gleicht einem Depressiven, der in die Abwärtsspirale schliddert, besonders offenbar im Osten des Landes, aber immer gefördert durch die Konzeptionslosigkeit der Regierung. Sie nimmt sich zwar Schritt für Schritt der aufgestauten Probleme an, bietet aber keine langfristige Orientierung an, für die sich zu kämpfen oder auch zu leiden lohnte, während die Opposition alles prinzipiell erst mal schlecht redet und über den Bundesrat über die Mittel verfügt, die Konzeptionslosigkeit meist durch schlechte Kompromisse oder Blockaden zu fördern.

Die unverarbeitete Wiedervereinigung

Neben allen Entscheidungen und Problemlösungen, die zu lange aus Gründen der Machterhaltung verschlafen wurden und nun mit einem wilden, alle verunsichernden Um-Sich-Schlagen gelöst werden sollen, hat es aber ein Ereignis gegeben, durch das sich alles verändert hat: die Wiedervereinigung. Ganz anders als bei einer Revolution, bei der eine Gesellschaft sich in eine Richtung verändert (und dabei auf Widerstand stößt), hat der plötzlich und unvorbereitet erfolgte Zusammenbruch der DDR und die darauf folgende Wiedervereinigung die politischen Systeme beider Seiten verändert. Irgendwie scheinen wir alle geglaubt zu haben, dass mit der Wiedervereinigung die erfolgreich erscheinende Geschichte der BRD mit ihrer wirtschaftlichen, sozialen und politischen Struktur einfach fortgesetzt werden könnte. Man investiert einfach Geld in den Osten, gewissermaßen in die arme Verwandtschaft, die zwangsweise unter anderen, völlig abwegigen Verhältnissen leben musste - und dann entstehen die "blühenden Landschaften" und das neue Wirtschaftswunder.

Das erschien erst einmal so, weswegen auch die "Volksparteien", vor allem diejenigen, die am meisten versprochen haben, im Osten Erfolg hatten. Aber mit der Wiedervereinigung stießen zwei unterschiedliche Gesellschaftssysteme mitsamt ihren spezifischen Oppositionen zusammen. Das hätte bei wirtschaftlichem Wachstum und damit bei zunehmendem und gesichertem Wohlstand auch gut gehen können, aber als das Stottern unübersehbar wurde, zeigte sich, dass die politischen Traditionen Westdeutschlands keineswegs die sein müssen, die es auch in Ostdeutschland gibt. Es traten neue linke und rechte Bewegungen auf, die sich mit entsprechenden Strömungen im Westen verbinden konnten. Vor allem aber gibt es im Osten bei den Menschen keine lange gewachsenen Verbindungen mit bestimmten Parteien. Man fiel aus der kommunistischen Diktatur in die demokratische Auswahl und verhält sich entsprechend, nämlich so, wie man auch einkauft und dabei zwischen Optionen wählt.

Die jetzt allerorten aufgebauten Bedenken gegen die erstarkten Rechten und die populistische PDS verkennen vermutlich, dass sich das wiedervereinigte Deutschland grundlegend verändern wird. Die BRD-Volksparteien verlieren an Einfluss, das Parteienspektrum wird diffuser, Mehrparteienkoalitionen dürften vermehrt auftreten, die politischen Verhältnisse werden instabiler, die Gesellschaft gerät in Bewegung. Das sind Verhältnisse, wie sie andere Länder schon lange kennen, aber natürlich gibt es, zumal in Deutschland, keine Garantie dafür, dass dadurch keine Verschiebung auf die Extreme stattfindet, um so wieder Stabilität ohne "Mitte" zu erreichen. Die politische Landschaft wird stärker von aktuellen Stimmungen geprägt werden, möglicherweise wird es noch schwieriger werden, unpopuläre, aber notwendige Veränderungen einzuleiten und durchzuführen. Vielleicht wächst auch der Wunsch nach einer autoritären Regierung, nach einem Ende der Schwatzbude und den Folgen der Globalisierung, wie dies schon vor dem Dritten Reich der Fall war. Und dass gerade die Erst- und Jungwähler zu den traditionell undemokratischen Rechten tendieren, ist tatsächlich das wirklich Beunruhigende.

Zweifelhafte Legitimation durch Wahlen

Bei immer stärker werdender Stimmenthaltung sind Wahlen keine wirkliche Volksentscheidung mehr. Demokratien, bei denen kaum mehr als die Hälfte der Bürger ihre Stimmen abgeben, haben ein gravierendes Repräsentationsproblem, da die für die Regierung notwendige Mehrheit nicht wirklich eine Mehrheit ist. Demokratie war ein Versprechen, aber es erweist sich illusorisch angesichts der realen Komplexitäten. Von vielen Dingen verstehen die Wähler nichts, Parteien und Politiker vertreten nach dem Zusammenbruch der großen Ideologien vielerlei, was nicht notwendigerweise zusammen passen muss. Die Menschen müssen für ihr Leben mehr und mehr die Verantwortung übernehmen und die Optionen ausloten, wie sie dies auch bei den Angeboten machen müssen, warum sollte dies bei den Parteien und Politikern anders sein?

Dass so viele Menschen erst gar nicht zur Wahl gehen - und es immer mehr werden -, bedeutet wohl auch, dass sie nichts von den Optionen und damit von der Demokratie erwarten, aber auch, dass sie womöglich alles mit sich geschehen lassen, weil sie sich nirgends repräsentiert sehen und sich ohnmächtig wähnen. Das ist ein strukturelles Problem, wenn Demokratien nicht mit fortwährender Wohlstandssteigerung für Alle einhergehen, aber es ist auch ein Problem, dass von Populisten ausgebeutet werden kann, deren Versprechungen ohne Grundlage sind. Und dass so viele junge Menschen darauf hereinfallen, verweist auf deren Verzweiflung oder ungestillte Hoffnung.

Aber mit dem Ende der "Volksparteien" könnte trotz rechter Illusionen und Verführungen auch eine lebendigere Politik in Deutschland beginnen, in der mehr Stimmen sprechen und gehört werden müssen. Die Attitüde der einst großen Parteien, in Diskussionsrunden immer wieder demonstriert, den Vertretern der kleinen nicht zuzuhören, sie zu unterbrechen, auszuschließen oder zu dämonisieren, greift nicht mehr. Aber warum sollten wir auf den Markt bauen, wenn der nicht auch in der Politik dafür sorgen darf, dass sich in der offenen Konkurrenz die Qualität zeigt? Wenn sich die Rechtsextremen - oder auch die dogmatisch linken Illusionen Nachhängenden - vorhersehbar innerhalb kürzester Zeit abwirtschaften, dann ist dies allemal besser, als wenn sie durch Dämonisierungen oder gar Verbote aufgewertet werden.