Die Antwort der USA

Seite 4: Der Machtkampf eskaliert

1. Die russische Führung braucht nicht lang, um einzusehen, dass der Versuch, den USA in einem ultimativen diplomatischen Akt – per Kriegsdrohung – die vertraglich abgesicherte Anerkennung ihrer Existenz als nukleare Großmacht abzuringen, gescheitert ist. Sie stellt sich der Alternative, sich entweder mit der installierten existentiellen Bedrohung abzufinden und sich der Weltmacht unterzuordnen oder sich gewaltsam den verweigerten Respekt zu verschaffen; so, wie es ihr die Verantwortung für ihre große Nation gebietet: Sie geht von der Drohung zum offenen Krieg über, marschiert in der Ukraine ein, um ihre "roten Linien" gewaltsam durchzusetzen und die andere Seite zur Anerkennung ihrer strategischen Interessen zu zwingen.

Sie fasst diesen Beschluss im Wissen darum, welches erdrückende Szenario gegen sie aufgebaut worden ist, was also auf sie zukommt. Putin nimmt in der Erklärung seiner Entscheidung zur Besetzung des Nachbarstaats ausdrücklich auf die angedrohten, für Russland verheerenden Sanktionen Bezug; er erklärt seinen Bürgern, dass es hart wird für sie und ihr Land. Und er verweist in dieser Erklärung darauf, dass die Zeit drängt, weil Russland zu gewärtigen hat, dass die Machtmittel, über die es heute noch verfügt, in absehbarer Zukunft womöglich durch das amerikanische Aufrüstungsprogramm strategisch immer mehr entwertet werden. Mit beidem stellt er klar, dass es für Russland um viel mehr als um die Ukraine geht, nämlich um eine Existenzfrage als respektierte Großmacht, in der es für Russland keine Alternative gibt.

Er verbindet zwar auch noch den Beschluss zum Einmarsch mit der Nachfrage, ob die andere Seite nicht doch einlenken kann, indem er sein begrenztes Kriegsziel in der Ukraine, deren Entmilitarisierung und Neutralisierung, bekannt gibt, nimmt aber mit der Eröffnung des Feldzugs auch in Kauf, was ihm an unabsehbaren, von Russland nicht beherrschbaren, vernichtenden Folgen in Aussicht gestellt wird. Denn – sofern es ihm überhaupt gelingen sollte, dieses begrenzte Ziel in der Ukraine herzustellen – das, was er an diesem Fall herstellen will, nämlich eine Wende im Verhältnis zur Weltmacht USA und zur Nato, also die andere Seite vermittels des russischen Übergangs zur militärischen Durchsetzung in der Ukraine dazu zu nötigen, von ihrem Bestreben abzulassen, die russische Macht zu demontieren, das ist an diesem begrenzten Fall gar nicht herzustellen.

2. Die amerikanische Regierung beantwortet diesen militanten Übergang auf ihre Weise als überlegene Weltmacht. Sie ist nicht nur völlig unbeeindruckt und meilenweit davon entfernt, sich durch Krieg ein Arrangement abtrotzen zu lassen, das auch nur irgendwie den russischen Interessen Rechnung trägt – sie ist ganz im Gegenteil bis ins Kleinste darauf vorbereitet, die Eskalation des Kreml zu einer Katastrophe ungeahnten Ausmaßes für ihn zu machen.

Biden gibt regelrecht damit an, die Berechnungen der anderen Seite seit Monaten genau zu kennen – kein Wunder, er ist es ja, der Russland in sein Dilemma manövriert hat –, gleich eine ganze Reihe von neuen, vernichtenden Gegenkriegsmaßnahmen für das antizipierte Vorgehen des Kreml vorbereitet zu haben und nach seiner souveränen Entscheidung einsetzen zu können. Erstens sorgen die Vereinigten Staaten mit ihren Alliierten durch nach der russischen Invasion noch gesteigerte Waffenlieferungen auf den Kriegsschauplatz Ukraine – die zusehends mehr "letales" Gerät umfassen, inzwischen sind sogar Kampfjets im Gespräch – dafür, dass der Feldzug zu dem blutigen Fiasko wird, das man der russischen Armee prophezeit hat. Zweitens verstärkt Biden mit seinem Kriegsbündnis die militärische Schlagkraft gegen Russland, auf breiter Front werden Waffen und Truppen an die russische Grenze geschafft. Drittens werden ökonomische Sanktionen beschlossen, die binnen Tagen ruinös auf die russische Wirtschaft wirken: den Rubel entwerten, das Kapital großer Staatsunternehmen wie Gazprom vernichten, den russischen Staatsfonds und der Nationalbank den Zugriff auf in westlichen Banken und Zentralbanken gehaltenes Milliardenvermögen entziehen, sie von jeder Transaktion in Dollar abschneiden, also enteignen.22

Für all das wird viertens im Prinzip die ganze Welt als Weltkriegseinheitsfront gegen Russland in Stellung gebracht, die militärisch, diplomatisch und auf dem Feld eines entfesselten Wirtschaftskriegs Russland eine vernichtende Niederlage ansagt.

Für die amerikanische Weltmacht und ihre Verbündeten geht es hier nämlich – genauso grundsätzlich, wie es Russland um seine Selbstbehauptung geht – um einen Angriff auf die Weltordnung, um eine Infragestellung ihrer Weltherrschaft, praktisch ins Werk gesetzt von einer Macht, die aufgrund ihres militärischen Potentials zu dieser Infragestellung imstande ist und deswegen für Amerika eine unerträgliche, unbedingt zu beseitigende Schranke darstellt.

3. Für beide Seiten steht hier die Substanz dessen auf dem Spiel, was sie als Nation jeweils sind und zu sein beanspruchen: für die eine ihr Status als Großmacht und maßgebliches Subjekt in der Staatenwelt, für die andere ihre uneingeschränkte Weltherrschaft. Die Standpunkte, die da aufeinanderprallen, sind unvereinbar. Sie dulden keine Relativierung, weil jede Relativierung einer Aufgabe des Standpunkts gleichkommen würde. Für beide Seiten hat die Behauptung des eigenen Standpunkts daher die Qualität einer Existenzfrage, die zur Entscheidung gebracht werden muss.

Und so gehen sie aufeinander los. Beide Seiten machen den Übergang von der Abschreckung hinein in eine Auseinandersetzung, in der beide Seiten in der Anwendung ihrer Gewaltmittel eskalieren, um die jeweils andere zum Einlenken zu zwingen. Sie tun dies im Wissen um die Machtmittel, über die die Gegenseite verfügt, und in dem festen Willen, in dieser Auseinandersetzung die Eskalationsdominanz zu behalten und auszuüben, also jede Eskalation der Gegenseite mit einer weiteren Eskalation zu beantworten.

Mit dem Unterschied, dass es die in diesem Ringen in die strategische Defensive gebrachte russische Staatsgewalt ist, die den Übergang in die militärische Offensive gemacht hat und vor der schlechten Alternative Rückzug oder weitere Eskalation steht; während die überlegene amerikanische Seite sich bei ihrer Eskalation – immer noch – die Freiheit wahrt, über den Übergang zur direkten militärischen Konfrontation nach eigenem Kalkül zu entscheiden; also auch: ohne jeden Machtverlust eigene Eskalationsschritte zu unterlassen, was allemal nur heißt: sie zu vertagen. Oder eben doch strategisch in Vorleistung zu gehen...

Die Ukraine ist dafür das erste Schlachtfeld.

Peter Decker ist Redakteur der politischen Vierteljahreszeitschrift GegenStandpunkt, in deren aktueller Ausgabe dieser Artikel ebenfalls erschienen ist.