Die Arktis taut auf

Eisbedeckung auf dem Polarmeer. Weitere Erklärungen im Text. Bild: NSIDC

Die Energie- und Klimawochenschau: Eisschwund, Waldbrände, Dürren, Heuschrecken und Fluten - Klimakrise in allen Ecken, aber RWE baggert weiter Dörfer ab

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Es kommt nicht überraschend, ist jedoch deshalb nicht minder ernst: Das Eis auf dem Arktischen Ozean hat sich im Juli so weit wie nie zuvor in diesem Monat zurückgezogen, seitdem die Eisbedeckung täglich von Satelliten beobachtet wird. Das wird nun bereits seit rund 40 Jahren gemacht, aber davor war das Eis eher noch dicker und die Eisgrenze noch weiter im Süden. Letzteres zeigen die archivierten Schiffsbeobachtungen seit dem 16. Jahrhundert.

Schon Mitte Juli berichtete das National Snow and Ice Data Center (NSIDC) der USA in Boulder, Colorado, dass die Nordost-Passage - der Seeweg zwischen Pazifik und Atlantik entlang der russischen Küste - annähernd eisfrei zu sein scheint. Und jetzt meldet das Alfred-Wegener-Institut für Polar- und Meeresforschung in Bremerhaven einen historischen Tiefstand der Meereisausdehnung.

Aktuelle Eisbedeckung (siehe Datum) auf dem Polarmeer. Nur die weißen Flächen sind noch zu 100 Prozent bedeckt. Die farbige Linie zeigt den jeweiligen Median für die Jahre 1981 bis 2010 an, das heißt, in dieser Zeit lag zu diesem Tag die Eisgrenze in der Hälfte der Fälle auf jeweils einer Seite der Markierung. Bild: NSIDC

Wir hatten ja hier auf Telepolis bereits kürzlich über die viel zu warme erste Jahreshälfte in Sibirien, die vielen dortigen Waldbrände und den eindeutigen Zusammenhang mit dem vom Menschen verursachten Klimawandel geschrieben.

Hier bei der Weltmeteorologieorganisation lässt sich verfolgen, dass derzeit in erschreckend vielen Regionen Russlands die Wälder brennen. Das AWI sieht einen unimittelbaren Zusammenhang zwischen dem Rekord-Rückzug des Eises und dem viel zu warmen Wetter im Norden Sibiriens.

Passend dazu auch eine weitere Rekordmeldung: Auf Spitzbergen, Norwegens Außenposten im hohen Norden am Rande des einst ewig genannten Eises, wurde am Wochenende eine Lufttemperatur von 21,7 Grad Celsius gemessen. Für einen Bremer oder Münchner ist das nicht viel, aber rund 1.300 Kilometer vom Nordpol entfernt ist das bemerkenswert und Ausdruck der raschen Erwärmung der hohen Breiten. Die monatliche Durchschnittstemperatur überschreitet dort bisher auch im Sommer, wenn die Sonne 24 Stunden am Tag scheint, kaum acht Grad Celsius.

RWE gnadenlos

In Deutschland hat man derweil in mancher Landesregierung und mancher Konzernetage den Schuss noch immer nicht gehört. Insbesondere RWE, der Braunkohlekonzern aus dem Rheinland, macht zwar gerne Werbung mit seinen Offshore-Windparks, treibt aber zugleich seinen Braunkohleabbau mit sturer Hartnäckigkeit voran.

Am Tagebau Garzweiler 2 westlich von Köln betreibt der Konzern seit Montag vergangener Woche mit massivem Polizeiaufgebot und gegen den Widerstand eines Teils der örtlichen Bevölkerung sowie zahlreichen Klimaschützer die Zerstörung einer Landesstraße, der L277. Die Straße diente bisher dem Dorf Keyenberg als Ortsumgehung.

Keyenberg liegt am Rande des Tagebaus. Einige Häuser stehen bereits leer, viele der verbliebenen Bewohner wollen nicht gehen und wehren sich gegen Enteignung und Zwangsumsiedlung. Nun schickt ihnen RWE schon mal den sonst auf der Ortsumgehung verkehrenden LKW-Verkehr durch die Stadt, und die anwesende Polizei sieht sich nicht in der Lage, das gültige Durchfahrtverbot für schwere Fahrzeuge durchzusetzen.

Im Vordergrund Keyenberg, im Hintergrund die Landesstraße L277, die gerade von RWE zerstört wird. Bild: Alle Dörfer bleiben

Mit Sitzblockaden, Anketten und der Besetzung eines an den Abbrucharbeiten beteiligten Baggers wurde die Straßenzerstörung verzögert. Das "Netzwerk Ende Gelände" besetzte außerdem zeitweilig einen Kohlebagger im nahen Tagebau. Das Kohleausstiegsgesetz sei vollkommen inakzeptabel, heißt es beim Bündnis "Alle Dörfer bleiben". Bis 2038 weiter Kohle abbauen und verfeuern zu wollen, sei nicht mit den Pariser Klimazielen vereinbar.

Sieben Dörfer, die meisten im Rheinland, sollen noch dem Tagebau weichen. Würde die unter ihnen liegende Kohle verbrannt, würden selbst die vollkommen unzulänglichen Klimaziele der Bundesregierung verfehlt. Es sei denn, diese hat vielleicht vor, bis 2030 den Betrieb von Verbrennungsmotoren im Straßenverkehr zu verbieten.

Die Dörfer zu verteidigen bedeute daher auch, die letzten Chancen auf eine klimagerechte Zukunft zu verteidigen, heißt es folglich bei den sich wehrenden Anwohnern. Diese wollen ihre Proteste und Mahnwachen gemeinsam mit Unterstützer diese Woche fortsetzen.

Bangladesch unter Wasser

Derweil spielt das Wetter nicht nur in der Arktis verrückt. Bangladesh erlebt gerade, wie die britische Zeitung Guardian schreibt, die längsten und schwersten Monsun bedingten Überschwemmungen seit Jahrzehnten. Und das in einer Zeit, in der das Land zum einen noch an den Folgen eines besonders starken Tropensturms zu knabbern hat und zugleich gegen die sich ausbreitende Corona-Pandemie ankämpfen muss. Ein Drittel des Landes stehe nach Regierungsangaben unter Wasser.

Auch die benachbarten indischen Bundesstaaten Bihar, Assam sind betroffen. Dort, wie auch in Nepal, sind diverse Flüsse über die Ufer getreten. Der Guardian schrieb am Wochenende von 550 Todesopfern in den drei Ländern und bis zum Monatsende anhaltenden schweren Regenfällen.

Ähnliche Probleme plagen das benachbarte China. Dort wird es in den nächsten Tagen laut Vorhersage vor allem am Oberlauf des Mekong, des Brahmaputra und des Yangtse zu weiteren schweren Niederschlägen kommen. Schlechte Nachrichten für die flussabwärts lebenden Menschen in Bangladesch und Ostchina.

Entlang des Yangtses seien im Juli bereits mehr als zwei Millionen Menschen evakuiert worden, so die Nachrichtenagentur Bloomberg. Das Schlimmste stehe aber noch bevor. Schon jetzt seien 142 Menschen tot oder würden vermisst. Der bisherige ökonomische Schaden betrage 116 Milliarden Yuan (14,1 Milliarden Euro) und 2,4 Millionen Hektar Anbaufläche sollen betroffen sein.

Besonders betroffen ist die Provinz Hubei am unteren Yangtse, die mit ihrer Hauptstadt Wuhan besonders unter der Corona-Pandemie zu leiden hatte. Al-Jazeera berichtet in einem kurzen Video von zahlreichen gebrochenen Dämmen und überschwemmten Dörfern. Ein chinesischer Meteorologe macht in einem Interview mit dem Sender den Klimawandel verantwortlich, der eine ohnehin regelmäßig schwierige Situation verschlimmern würde.

Heuschrecken

Weiter im Westen hat man ganz andere Sorgen: Eine schwere Heuschrecken-Plage, über die wir bereits im Januar berichteten, bedroht weiter die Ernten in einem Bogen von Westafrika über den Süden der Arabischen Halbinsel bis nach Pakistan und Nordindien.

Aus Kenia berichtet die Food and Agriculture Organization der Vereinten Nationen (FAO) zwar, dass man dort der gefräßigen Tiere vorerst Herr wurde. Aber in den Nachbarländern am Horn von Afrika sei dies noch nicht gelungen. Auch in der indisch-pakistanischen Grenzregion kämpft man weiter gegen die Schwärme, die aus vielen Millionen Individuen bestehen können.

Eine Aufstellung der FAO spricht davon, dass auch im Sudan und den anderen Ländern der Sahelzone bis nach Mauretanien an der Atlantikküste die Behörden alarmiert seien und einzelne kleine Populationen beobachtet würden.

Verbreitung der Wüstenheuschrecken Mitte Juli. Hopper werden die jungen, noch nicht flugfähigen Schrecken genannt. Erwachsene (adults) Schrecken können laut FAO im Schwarm bis zu 150 Kilometer am Tag zurücklegen. Bild: FAO

Die explosionsartige Verbreitung der Wüstenheuschrecken hatte vor zwei Jahren im Süden der Arabischen Halbinsel ihren Anfang genommen, als dort zwei für die Region ungewöhnliche Tropenstürme ideale Bedingungen für die Vermehrung ursprünglich sehr kleiner Populationen schufen.

Der Krieg in Jemen trug ein Übriges dazu bei, dass dem Problem nicht rechtzeitig die nötige Aufmerksamkeit geschenkt wurde. Inzwischen ist in einigen Ländern wie Äthiopien und Kenia von der schlimmsten Heuschreckenplagen seit Jahrzehnten die Rede.

Zu wenig Personal

Hierzulande kämpft man derweil weiter mit den Folgen der Dürre, die, wie mehrfach berichtet, dem Wald übel mitspielt. Aus Schleswig-Holstein berichtet die dortige Vertretung der Forstarbeiter, die Industriegewerkschaft BAU, in einer per E-Mail verbreiteten Pressemitteilung, dass die Lage trotz der Niederschläge der vergangenen Wochen dramatisch sei. Extremwetter und Borkenkäfer setzten den Bäumen zu. Selbst die Buchen würden unter den ausgetrockneten Böden und Pilzbefall leiden.

Aber besonders problematisch sind die oftmals aus wenig angepassten Nadelhölzern bestehenden Monokulturen. Um die Wälder für den Klimawandel fit zu machen, so die IG BAU, müssten zusätzliche Mischwälder angelegt und resistente Baumarten angepflanzt werden. "Das aber ist eine Mammutaufgabe, für die es viel mehr Förster und Forstwirte braucht als bislang. Betriebe sollten deshalb auch mehr ausbilden und Azubis übernehmen", meint IG-BAU-Bezirkschef Arno Carstensen.

Der Borkenkäfer, der besonders den Nadelbäumen zusetzt, findet in den Wäldern auch deshalb so günstige Bedingungen, weil in den Baumplantagen zu viel Totholz zu lange liegen bleibt. Das wiederum, so Gewerkschafter aus dem Harz gegenüber Telepolis, ist auch eine Folge der zu knappen Personaldecken. Arbeit ist genug da, aber die Forstverwaltungen und anderen Betriebe stellen nicht genug ein.

Derweil wundert sich der Energiefachmann Volker Quaschning von der Berliner Hochschule für Technik und Wirtschaft, dass einige Bundesländer den Bau von Windkraftanlagen in Wäldern verbieten. Damit würden sie letztlich die Zerstörung der Wälder begünstigen, meint der Ökonom unter Anspielung auf den Klimawandel.

Notstand

Die Gewerkschaft spricht übrigens mit Bezug auf die Wälder vom Klimanotstand. Auch bei den Schülern von Fridays for Future ist angesichts der Dringlichkeit der Probleme der Bezug auf den Notstand verbreitet und eine ganze Reihe von Städten und Regionen in Europa und Nordamerika haben auf ihren Druck hin formal einen Klimanotstand festgestellt. Allerdings oft, ohne daraus wirklich eine konsequente Klimaschutz-Politik abzuleiten.

In Deutschland sorgt derweil der Begriff "Notstand" bei einigen für Verwirrung, weil sie Notstand aufgrund der hiesigen Notstandsgesetze mit Kriegsrecht ähnlichen Maßnahmen gleichsetzen. Und in der Tat hat ja nicht zuletzt die Corona-Krise gezeigt, dass Staats- und Polizeiapparate hierzulande und überall in der Welt in Notlagen gern zu unangemessenen, oft an der Sache völlig vorbeigehenden autoritären Maßnahmen greifen.

Allerdings meint Notstand oder Emergency, wie es im Englischen heißt, zunächst vor allem eine besondere Situation, in der schnelles Handeln nötig ist. Die Klimakrise mit der die Menschheit auf dramatisch steigende Meeresspiegel, den Verlust riesiger Wälder und enorme Gefahren für die Welternährung zusteuert ist zweifelsohne eine solche Notstandssituation.

Im Übrigen verrät ein Blick auf die Forderungen der Schüler, dass ihnen nicht demokratiefeindliche Maßnahmen vorschweben, sondern rationaler wissenschaftlicher Diskurs und ein rascher Umbau der Industriegesellschaft. Etwa der Kohleausstieg bis 2030, der rasche Ausbau der erneuerbaren Energieträger und die sofortige Stilllegung eines Viertels der Kohlekraftwerke.

Für diese und ähnliche Forderungen solle es am 25. September einen internationalen Aktionstag geben, der in diesem Jahr der erste sein wird. Ein für den März geplanter internationaler Schulstreiktag war der Corona-Pandemie zum Opfer gefallen.

Welche Aktionen im einzelnen im September möglich sein werden, hängt von den jeweiligen nationalen Bedingungen und Auflagen ab, heißt es im internationalen Aufruf. Dort wo es öffentliche Zusammenkünfte geben kann, werde man die Teilnehmer zu den entsprechenden Vorsichtsmaßnahmen auffordern.