Die Armen in Deutschland - dem Tod so nah

Seite 2: Mythos der Leistungseliten

Der folgende Beitrag ist vor 2021 erschienen. Unsere Redaktion hat seither ein neues Leitbild und redaktionelle Standards. Weitere Informationen finden Sie hier.

Der Eliteforscher Michael Hartmann hat schon vor Jahren bei seiner Auseinandersetzung mit den oberen Schichten von einem Mythos der Leistungseliten gesprochen.

Der eigene Schweiß, das eigene Talent, die eigenen Leistungen mögen tatsächlich ihren Teil dazu beigetragen haben, auf eine berufliche Ebene zu gelangen, auf der beachtliche finanzielle Mittel erarbeitet werden können. Doch ausgeblendet wird, dass die Menschen dieser Schichten aus einer Struktur heraus an den Start des Lebens gekommen sind, die ihnen in jeder Hinsicht in die Karten spielt. Sie stammen aus einem Milieu - zumindest im Vergleich zu den Armen - in dem ein beachtliches Maß an ökonomischen, sozialen, kulturellen und letztlich symbolischen Kapital vorhanden ist.

Wenn der Startschuss des Lebens fällt, können die einen unbeschwert lossprinten, während die anderen mit zentnerschweren Gewichten an ihrem Körper es kaum von der Startlinie schaffen. Und so sind Gewinner und Verlierer bereits im Vorfeld festgelegt. Die Gewinner berauschen sich am eigenen Erfolg und vergessen, dass sie sich den Sieg in einem unfairen Wettkampf erlaufen haben. Ihre Erkenntnis, dass man es doch "schaffen kann", wenn man sich "nur" anstrengt, verstellt den Blick darauf, dass Menschen in diesem Land von einer Basis aus agieren müssen, die geradezu grundsätzlich jede Anstrengung zunichtemacht.

Ohne Benzin im Tank kann das Auto nicht starten. So einfach ist es. Die Wahrheit ist, was Armut angeht, nicht tiefgründig.

Wer in einem Elternhaus aufwächst, in dem keinerlei finanzielle Reserven vorhanden sind, ein Elternhaus, in dem jeden Tag von der Hand in den Mund gelebt wird, dessen Chancen sind gering, jemals aus diesen Verhältnissen zu entfliehen.

Die Anziehungskräfte der Milieus, aus denen die Gestrandeten unserer Gesellschaft kommen, sind enorm. Tausend Tentakeln wickeln sich um ihre Arme, ihre Beine, ihre Körper und versuchen sie dort zu halten, wo sie sind. Armut, Alkoholismus, Gewalt, Perspektivlosigkeit, Ausgrenzung, Niederlage auf Niederlage, graben sich tief in die Menschen ein.

Bereits in der Kindheit wirken die Begrenzungen der Armut. 6-, 7-, 8-Jährige müssen schon lernen mit Armut umzugehen. Sie müssen lernen, dass sie vieles, was ihre Klassenkameraden haben, nicht haben können, weil ihren Eltern die finanziellen Mittel fehlen. Zu Hause werden sie von ihren Eltern instruiert, wie sie auf diese und jene Situation, in der zum Vorschein kommen könnte, dass sie aus armen Verhältnissen stammen, am besten reagieren sollen, so "dass die Armut nicht auffällt".

Und so bewegen sie sich dann durch die Schule. Während die einen sich aufs Lernen konzentrieren und in der Pause unbeschwert spielen können, tragen die anderen einen Ballast mit sich, der die Funktion eines Bremsklotzes in ihrem Leben übernimmt. Um es abzukürzen: Stück für Stück führt Armut zur Ausgrenzung schon bei Kindern. Das oftmals vorhandenen Defizit an kulturellem Kapital (z.B. restringierter Sprachcode) treibt die Exklusion noch weiter voran.

Negativ prägende Erfahrungen summieren sich und drücken sich im Laufe der Zeit immer tiefer in die Kinder und jungen Menschen. Je nach Lebensentwicklung, wenn nicht an irgendeinem Punkt zumindest ein kleines Wunder eintritt, ist ihr Leben bereits zu Ende bevor es überhaupt richtig anfangen konnte.

Während die einen, gerade 18 geworden, mit einem neuen Polo oder Golf beglückt werden, die Eltern ein Sparbuch mit 40.000 Euro freigeben, das Abitur in greifbarer Reichweite liegt, die Reise nach Asien bereits von der Familie gebucht und der passende Studiengang plus Universität schon ins Auge gefasst sind, hat das Leben die Anderen bereits so oft niedergeknüppelt, dass sie im Alter von 18, 19 mit ihrem Leben weitgehend abgeschlossen haben. Psychisch und emotional sind sie am Ende, der Vorrat, den Menschen an Lebensenergie, an Leistungs- und Begeisterungsfähigkeit mit auf den Weg bekommen haben, ist bei ihnen schon erschöpft.

Der Blick in die Herzen dieser Menschen würde all jene, die meinen, in Deutschland gäbe es keine Armut, allenfalls eine Ungleichverteilung, bis ins Mark erschüttern - sofern sie über so etwas wie Mitgefühl verfügten.

Doch an diesem Blick, der unweigerlich nicht nur in die Abgründe unseres Sozialstaates, sondern auch in die einer Gesellschaft führt, in der Geld und Besitz oft genug über einem Menschenleben stehen, haben gerade diejenigen, die meinen, dass es "uns" doch gut geht, kein Interesse. Laut im Chor stimmen sie das Lied vom Fördern und Fordern an und verkennen völlig, dass die, an die der Slogan gerichtet ist, längst nichts mehr haben, was sie geben können.

Für das, was die Armen in ihrem Leben geleistet haben, haben sie nie etwas erhalten

Man verlangt von ihnen, auf ein Konzept zu reagieren, dass sie längst anders verstehen als diejenigen, die den Slogan lautstark ausrufen. Verkannt wird, dass das Leben von diesen Menschen immer nur gefordert hat. Doch für das, was die Armen "gegeben" haben, haben sie nie etwas erhalten. Das Leben hat von ihnen gefordert, die Ausgrenzung aufgrund ihrer Armut bereits im Schulalter zu ertragen. Das Leben hat von ihnen gefordert, mitansehen zu müssen, wie ihre Eltern unter der Last der Armut zerbrochen und auseinandergebrochen sind. Das Leben hat von ihnen schon früh gefordert, Verhältnisse emotional zu stemmen, die herzzerreißend sind.

Von diesen Menschen wurde immer gefordert, und sie haben alles gegeben, was sie haben. Sie haben Leistung erbracht. Sie haben bei ihrem Gang durch die Hölle der Armut gekämpft, Niederschlag um Niederschlag weggesteckt. Immer wieder haben sie sich aufgerichtet, immer wieder den Kampf aufgenommen, verbunden mit der Hoffnung, die Armut zu überwinden, nur um dann irgendwann festzustellen: Sie können dem Teufelskreislauf des Armseins nicht entfliehen. Doch diese "Lebensleistungen" haben aus Sicht eines neoliberal geprägten Besitzbürgertums keinen Wert, werden weder erkannt noch anerkannt.

Für das, was die Armen in ihrem Leben geleistet haben, haben sie nie etwas erhalten. Keine Trophäe, kein symbolisches Kapital, nicht mal Anerkennung. Vom Staat erhalten sie so viel zum Leben, dass sie noch atmen dürfen, aber es vergeht kein Tag, an dem sie den Strick der Verhältnisse um ihren Hals nicht spüren. Und dafür, dass der Sozialstaat sie so leben lässt, maßt dieser sich an etwas "fordern" zu können.

Wehe den "Transferleistungsempfängern", die nicht bereit sind, zu spuren, die nicht mehr die Kraft haben, etwas "zu leisten": Man kürzt ihnen das Geld und zieht so den Strick um ihren Hals noch ein Stück enger. Die Armen werden noch ärmer, rutschen immer weiter ab. Eine Sozialpolitik kommt zum Vorschein, die Armut bekämpft, indem sie Armut erzeugt.

An dieser Politik erfreuen sich dann Teile der oberen Klassen und Schichten, rufen voller Freude: Recht so! Wer nicht hören will, muss fühlen!