Die Armen in Deutschland - dem Tod so nah

Seite 3: Existenzangst und Überlebenskampf der Armen

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Es grenzt an Schizophrenie, dass dieselben Teile der Gesellschaft sich zugleich darüber empören, wenn wieder mal ein Jugendlicher einem auf dem Boden liegenden wehrlosen Opfer an den Kopf tritt. Erschrocken zeigt man sich dann über die brutale Gewalt. Die Gewalt, vor allem die symbolische Gewalt, die "die Empörten" den Armen antun, verkennen sie dabei völlig.

Blenden wir auf: Der Blick fällt auf Frau S. Sie ist 67 Jahre alt, hat zwei Kinder auf die Welt gebracht. Sie durchlebte ein schwieriges Leben mit ein paar Höhen und vielen Tiefen. Armut prägte ihr Leben, Geld war immer knapp - trotz Arbeit. Nun ist sie in Rente. Knapp 700 Euro. Ein Teil geht für die Miete drauf. Zweimal in der Woche geht sie putzen. Mit dem Geld lebt sie, kauft sich Lebensmittel. Sie ist darauf angewiesen.

Dann sind da die Schmerzen in den Armen. Die Sehnen machen sich bemerkbar. Die Ärzte sagen, nur noch eine OP hilft weiter. Sie unterzieht sich der Operation, zunächst nur an einem Arm.

Die OP ist nicht ganz einfach. Die Ärzte geben die Anweisung: Den Arm schonen, nicht belasten. Sie kann 6 Wochen nicht arbeiten. Finanzieller Notstand bricht aus. Keinerlei Reserven stehen zur Verfügung, die Bank hilft auch nicht weiter. Irgendwie kämpft sie sich durch diese Zeit. Den Absturz aus dem Leben jeden Tag vor Augen.

Schließlich geht es wieder einigermaßen mit ihrem Arm, sie rafft sich auf, geht wieder arbeiten. Zum Glück spielt der Körper mit, die Schmerzen gehen zurück. Ein paar Wochen später: Die Kopfdichtung an ihrem Auto will nicht mehr. Dann wird es kritisch: Sie darf das Auto nicht mehr bewegen, ein Motorschaden droht. Fast drei Jahrzehnte ist das Auto alt. Ein Kleinwagen. Gekauft zu einer Zeit, als es einmal finanziell besser ging. Der Wagen ist, trotz des stolzen Alters, noch gut in Schuss. Aber natürlich: Die Unterhaltung eines Autos kostet immer Geld.

Nun also die Kopfdichtung. In der Markenwerkstatt heißt es, die Reparatur koste mit den drumherum anfallenden Arbeiten 1500 Euro. Das ist für sie in etwa so, als würde man einem Besitzstandbürger das Haus vor den Augen sprengen und ihm gleichzeitig mitteilen, dass die Versicherung nicht greift und, by the way, sein gesamtes Sparvermögen verschwunden ist. Der Schiffbruch, da ist er also.

Wenn sie das Geld für die Reparatur nicht hat, kann sie ihr Auto nicht mehr nutzen. Wenn sie ihr Auto nicht mehr nutzen kann, kann sie nicht mehr arbeiten gehen. Beide Arbeitsstellen sind nur mit dem Auto zu erreichen. Was tun? Existenzangst breitet sich aus. Alles scheint zusammenzubrechen.

1500 Euro wird sie nie aufbringen können. Unmöglich. Sie fragt bei anderen Werkstätten nach. Diese machen wesentlich bessere Angebote. 900 Euro ist das Beste. Gut. Zugleich aber auch schlecht. Es ändert nichts an der Situation. Sie hat auch keine 900 Euro. Noch immer ist die Situation bedrohlich. Nach Tagen findet sie eine kleine Werkstatt, die bereit ist, die Reparatur für 650 Euro zu übernehmen. Gut. Sehr gut. Und doch: Auch über diese Summe verfügt sie nicht. Die Realität ist: Auch wenn ihr jemand anbieten würde, die Reparatur für lediglich 100 Euro zu übernehmen, hier und jetzt, per Handschlag vereinbart: sie hätte noch nicht einmal 100 Euro zur Verfügung.

Was tun?

Mit dem Mut der Verzweifelten geht sie wieder auf ihre Bank. Auf die Bank, die ihr vor einigen Wochen, als sie sich der OP unterziehen musste, nicht einmal einen Vorschuss von 50 Euro geben wollte. Wieder tritt sie als Bittstellerin auf. Wieder muss sie erklären, dass es um alles, um ihr Leben, um ihre Existenz geht.

Dieses Mal meint es "das Glück" gut mit ihr. Das Gespräch läuft besser. Die Bank erlaubt ihr, ausnahmsweise, ihr Konto zu überziehen.

Schnell vereinbart sie einen Termin zur Reparatur. Das Auto wird abgegeben, zwei Tage später abgeholt. Sie zahlt die 650 Euro. Das Auto funktioniert wieder. Alles ist wieder gut - bis zum nächsten Drama, das ihre Existenz bedroht.

Andere Szene

Frau O., in Rumänien geboren, seit Jahrzehnten in Deutschland gelebt und gearbeitet, ist 78 Jahre. Auch sie hat nur eine schmale Rente. Ein Nachbarkind begegnet ihr im Treppenhaus. Sie war gerade einkaufen, Lebensmittel. Es ist der Anfang des Monats. Geld ist auf dem Konto eingegangen. Der Junge hilft ihr beim Tragen. Sie lädt ihn auf ein Glas Orangensaft ein. Aus der Tasche nimmt sie eine Flasche Orangensaft mit dem C im Namen. Sie trinke gerne Orangensaft. Gut müsse er aber sein. Deshalb leiste sie sich den "Teuren". Die alte Frau und der Nachbarsjunge unterhalten sich. Der Sommer geht allmählich dem Ende zu, aber es ist noch immer sehr heiß.

Nachdem Frau O. die Lebensmittel ausgepackt hat, geht sie ins Wohnzimmer. Sie schiebt, ihre alte, schwere Couch, die über einen Holzrahmen verfügt, ein Stück nach vorne. Nimmt ihren Geldbeutel in die Hand, öffnet ihn und wirft Münzen hinter die Couch. Sie schiebt die Couch wieder zurück.

Der Junge beobachtet sie von der Küche aus. Schaut verdutzt. Sie kommt auf ihn zu. Lächelt verschmitzt und sagt: Sparkasse.

Sparkasse? Fragt der Junge.

Sie erklärt: Da das Geld jeden Monat knapp ist, wirft sie immer mal wieder eine Hand voll Münzen hinter die Couch. Nur wenn sie gar kein Geld mehr habe, rücke sie die Couch nach vorne, um an die Münzen ranzukommen.

Die alte Frau, die Probleme beim Gehen hat, deren Knie kaputt sind, muss im Alter von 78 Jahren eine schwere Couch nach vorne rücken, sich bücken oder hinknien, um an eine Hand voll Münzen ran zukommen, damit sie sich Lebensmittel kaufen und ihr Leben weiterleben kann.

Jump cut

Ein junger Mann, 18 Jahre alt, läuft an einem Sonntag im Frühling durch die Stadt. Er kommt aus völlig zerrütteten Verhältnissen, ist arbeitslos. Sein Geld vom Amt ist Mitte des Monats verbraucht. Nicht einmal über Lebensmittel verfügt er. Er hat Hunger. Das Amt hilft nicht. Was tun? Suppenküche? Bahnhofsmission? Caritas? Pfarrer?

Da ist er, der Überlebenskampf der Armen.

Der junge Mann trifft auf Freunde. Er schämt sich, lässt durchblicken, dass er "ein Problem" hat. Die Freunde legen rasch zusammen, geben ihm Geld. Organisieren über ihre Eltern Lebensmittel.

Ganze Buchreihen würden nicht ausreichen, um reale Fälle dieser Art (die noch zu den harmloseren zählen), wie sie sich im Leben der Armen immer wieder abspielen, Monat für Monat, Woche für Woche, Tag für Tag, umfassend zu dokumentieren.

Wer einen Zugang zu den Armen findet und ihnen zuhört, wird feststellen, dass Existenzangst, die Angst überhaupt weiterleben zu können, ihr ständiger Begleiter ist. Während sich die Angehörigen des Besitzstandbürgertums darüber Sorgen machen, wie sie den nächsten Schritt auf der Karriereleiter bewerkstelligen können, und verärgert darüber sind, dass der Urlaub um zwei Wochen verschoben werden muss, reiben sich die Armen in einem Überlebenskampf auf. Wieder einmal konnte von der Unterstützungsleistung der Strom nicht gezahlt werden, wieder einmal droht die Sperre, wieder einmal reicht das Geld nicht, um sich ein neues paar Hausschuhe zu kaufen, die längst so zerrissen sind, dass nicht mal ein Hund mit ihnen spielen möchte. Wieder einmal muss der Besuch auf einem Geburtstag abgesagt werden, weil nicht mal eine Handvoll Euro für ein Geschenk vorhanden sind.

Es sind nicht nur die ganz großen, schweren Schicksalsschläge, die die Armen zerreiben. Unzählige Nadelstiche, die in ihre Körper, ihre Seelen, ihre Psyche eindringen, haben dazu geführt, dass sie nicht mehr so funktionieren können, wie die Mitglieder einer Leistungsgesellschaft es erwarten.

Doch das Verständnis für die Armen ist, wie bereits angesprochen, sehr begrenzt: Strom nicht bezahlt? Selbst schuld! Dagegen hilft: weniger fernsehen!! Kaputte Hausschuhe? Dicke Socken helfen weiter! Und Barfußlaufen ist übrigens sehr gesund! Keine fünf oder 10 Euro für ein Geburtstagsgeschenk? Na und? Ein herzlich-warmer Händedruck und der Hinweis, dass man nichts schenken kann, da kein Geld da, tun es doch auch! Schließlich: Wer nichts hat, darf keine Ansprüche stellen!

Teile der Gesellschaft erwarten, dass die Armen sich an ihrem eigenen Schopf aus dem Sumpf ziehen. Doch das funktioniert nur bei Münchhausen. Wie großartig muss es sich anfühlen, einmal Gott sein zu dürfen? Und wenn schon nicht Gott, dann möchten Teile der gesellschaftlichen Elite zumindest darüber bestimmen dürfen, was in unserer Gesellschaft an Hilfen für die Armen möglich ist und was nicht.