Die Armen in Deutschland - dem Tod so nah

Seite 5: Journalistenpreis für Vorurteile gegenüber Armen

Der folgende Beitrag ist vor 2021 erschienen. Unsere Redaktion hat seither ein neues Leitbild und redaktionelle Standards. Weitere Informationen finden Sie hier.

So verwundert es dann auch nicht, dass die Jury des Deutschen Journalistenpreises ein Interview gewürdigt hat, dessen Überschrift "Trösten und Triezen" in verdichteter Form einen ganzen Komplex an negativ konnotierten Wirklichkeitsvorstellungen beinhaltet, die die Vorurteile gegenüber den Armen zum Ausdruck bringt.

"Die Hartz-Reformen waren ein Erfolg, wenn man sie so umsetzt wie Hermann Genz - kompromisslos und herzlich zugleich", schreibt der Preisträger im Vorspann seines Interviews mit dem Direktor eines Jobcenters.

In einer Pressemitteilung des "Deutschen Journalistenpreises" heißt es: "Die Jury war insbesondere beeindruckt vom prägnanten journalistischen Stil, wechselnd zwischen sehr lebendigen Interviewpassagen und vertiefenden Hintergrundinformationen unter der Überschrift "Trösten und Triezen". Der Protagonist komme dem Leser sehr nahe, so dass man ihn am liebsten selbst kennenlernen möchte."

Die Bewertung der Jury klingt wunderbar. Nur: Hätte sie nicht über das Wort "Triezen" stolpern müssen? Synonyme für Triezen sind quälen, beanspruchen, ärgern und bei einem erweiterten Begriffsverständnis lassen sich Worte wie drangsalieren, malträtieren, strapazieren oder die Hölle heiß machen anführen.

Selbst in seiner sanftesten Wortbedeutung ("beanspruchen") lässt der Begriff Triezen im Kontext des Interviews noch eben jenen Widerhall erkennen, der den Ton vom arbeitsscheuen Hilfeempfänger trägt. Zum Vorschein kommt in der Überschrift das "klassenrassistische" Bild vom Armen, der den ganzen Tag in seiner Komfortzone herumlungert, der keine Lust zum Arbeiten hat und den es gefälligst zu "beanspruchen" ("die Hölle heiß machen") gilt.

Es würde an dieser Stelle zu weit führen, auf das Interview näher einzugehen. Angemerkt werden soll nur: Wenn der Interviewte etwa mit geradezu hörbaren Stolz davon spricht, dass man Hilfebezieher, die zu einem Jobinterview müssten, Leihräder bereitstelle, da man "kein Fahrgeld in Bar" auszahle ("mit dem unseren Kunden machen könnten, was ihnen beliebt"), im süffisanten Ton anmerkt, wie viele "Spontanheilungen" es im Haus schon gegeben habe, in Momenten, als man Leistungsbezieher zum Amtsarzt habe begleiten wollen, oder Leistungsbezieher mit Drogensüchtigen vergleicht, die aufs Amt kommen, um ihren "Stoff", sprich: Geld abzuholen, wird deutlich: Ein Journalismus kommt zum Vorschein, der den Argwohn und die boshaften Unterstellungen, die immer wieder den Armen aus der Mitte der Gesellschaft entgegengebracht werden, nicht nur nicht hinterfragt, sondern durch das Auslassen der Kritik an den Äußerungen des Interviewten beides noch forciert.

Eine ideologische Komplizenschaft zwischen Journalist, Interviewtem und Jury bahnt sich ihren Weg, die keinen Spielraum für eine differenziertere Betrachtung zulässt.

Wer bereit ist, sich auf die Rolle des teilnehmenden Beobachters einzulassen und die Lebensverhältnisse der Armen zu studieren, der kann nur zu einem Schluss kommen: Von den Armen wird, bildlich gesprochen, erwartet, dass sie auch unter einer schweren Sauerstoffunterversorgung Leistungen bringen wie diejenigen, denen genügend Sauerstoff zur Verfügung steht.

Wer alleine schon mit gesundem Menschenverstand der Frage nachgeht, wie es möglich ist, dass Armut sich quasi "vererbt" und auf eine Sozialhilfegeneration die nächste folgt, muss zu der Ansicht kommen: Der erste und wichtigste Schritt zur Armutsbekämpfung ist, ein System aufzubauen, in dem Arme so viele Mittel zur Verfügung gestellt werden, dass sie in die Lage versetzt werden, ihre "innere Infrastruktur" (von der nach Jahren in Armut oft nur noch Ruinen oder gar nichts mehr übrig ist) nachhaltig wieder aufzubauen.

Erst dann, wenn auf eine Infrastruktur zugegriffen werden kann, die es den Armen erlaubt, ihren eigenen Handlungsradius zu erweitern, besteht die realistische Möglichkeit, dass Körper und Psyche sich regenerieren, sie nach und nach mit neuer Lebenskraft und Energie zurück in die "normalen Strukturen" des Lebens zurückfinden können. Eine expansive Sozialpolitik heißt aber vor allem auch: Den Teufelskreislauf der Armut an der Stelle aufzubrechen, an der er zu den nachfolgenden Generationen, die in armen Verhältnisse geboren werden, übergeht.

Den Armen von heute so zu helfen, dass sie nicht mehr in Armut leben müssen, heißt die beste Prävention zu betreiben, die möglich ist, um die nachfolgenden Generationen der Armen vor Armut zu schützen. Langfristig gedacht, würde die gesamte Gesellschaft von Verhältnissen profitieren, in der Armut ausgerottet ist.

Bitter: Klassismus, Neid und eine Politik, die vor allem die Interessen der höheren Schichten bedient, verhindern mit aller Macht eine echte Bekämpfung von Armut.