Die Armen in Deutschland - dem Tod so nah

Seite 4: Konservative Revolution: "Ja was heißt sozial gerecht? "

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Phoenix-Runde an einem Mittwochabend: "Schäubles volle Kassen - Kommt jetzt die Neid-Debatte?" lautet das Thema. Mit in der Runde: Prof. Michael Hüther (Direktor Institut der Deutschen Wirtschaft Köln).

Moderator: "Herr Hüther, auch wenn man bei Sozialausgaben nicht grenzenlos draufsatteln kann: Sozial gerecht geht es in Deutschland nach wie vor nicht zu."

Hüther: "Ja was heißt sozial gerecht? Bei den Maßstäben, die manche anlegen, wird das nie der Fall sein, weil es immer Situationen gibt ... [Moderator unterbricht mit den Worten] ... aber es könnte ja sozial gerechter (!) zu gehen.

Hüther weiter: "Ja, was heißt gerechter?! Gerechter geht es im Land dann zu, wenn viele Menschen die Chance haben ... sich einzubringen, wenn sie in der Erwerbsmäßigkeit ankommen statt davor zu stehen. Das ist der erste große, wichtige Schritt. Und dort kann man feststellen, dass es in diesem Land in den letzten 10 Jahren deutlich vorangekommen ist. Wir haben so viele Erwerbstätige wie nie zuvor, die Zahl der offenen Stellen ist so hoch wie noch nie zuvor, die registrierten Arbeitslosen niedrig wie selten und wir haben parallel dazu keine versteckten Arbeitslosen irgendwo in aktiven Arbeitsprogrammen. Also insofern kann man sagen, gemessen an einer Situation im Himmel ist das auf Erden ungenügend. Aber natürlich gibt es schwere Lebenssituationen, die wird der Staat sozusagen aber nicht flächendeckend adressieren können. Wichtig ist, vielen Menschen eine Chance zu geben."

An der Reaktion und den Aussagen von Hüther lässt sich sehr gut ablesen, mit welcher Brutalität ein Teil der Elite über Armut in Deutschland hinwegsieht. "Ja, was heißt sozial gerecht?!", fragt der Direktor des Instituts für Deutsche Wirtschaftsforschung und Vorstandsmitglied bei der Atlantik-Brücke in der Rolle des "neoliberalen Wirklichkeitsbestimmers".

Hüther, der als Testimonial für die Initiative Neue Soziale Marktwirtschaft aufgetreten ist, einem Thinktank, der durch massive meinungspublizistische Interventionen aufgefallen ist, spricht davon, dass der Staat "schwere Lebenssituationen ... nicht flächendeckend adressieren" kann. Eine erhellende Sprache kommt zum Vorschein. Ein einziger Satz wischt die gesamte Diskussion um die Frage von Armut und einer gerechteren Verteilung hinweg, indem er vorgibt, die Grenzen dessen, was für die Armen in unserem Land unternommen werden kann, um sie aus ihrem Loch rauszuziehen, zu kennen.

Dabei beruhen die Grenzen des Sozialstaats, von denen hier die Rede ist, auf einer Ideologie, die in ihrem Innern von einer tiefen Menschenfeindlichkeit geprägt ist. Eine Ideologie kommt zum Vorschein, die manipuliert, indem sie die Grenzen dessen, was von ihr als machbar betrachtet wird, als eine Art objektive Größe in den öffentlichen Diskurs einspeist. Ihre Vertreter verschleiern jedoch, dass die so erfolgten Grenzziehungen auf einem Bezugssystem beruhen, in dem der ökonomische Faktor über den Wert des Lebens gesetzt wird.

Sie verbergen aber auch, dass ihr Einsatz für "Eigenverantwortung", "Verschlankungen", "Rationalisierung" oder welcher manipulativen Euphemismen sich auch immer bedient wird, auch Kennzeichen eines gesellschaftlichen Kampfs ist, der dazu dient, die Strukturen, die ihre Klasse begünstigen, weiter auszubauen. Der gesamte neoliberale Reformdiskurs kann auch als Instrument zur Sicherung des eigenen Herrschaftsanspruchs verstanden werden. Der französische Soziologe Pierre Bourdieu, der sich intensiv mit den Verwerfungen des Neoliberalismus auseinandergesetzt hat, schreibt:

Diese konservative Revolution neuen Typs nimmt den Fortschritt, die Vernunft, die Wissenschaft (in diesem Fall die Ökonomie) für sich in Anspruch, um eine Restauration zu rechtfertigen, die umgekehrt das fortschrittliche Denken und Handeln als archaisch erscheinen lässt. Sie macht alle Praktiken zur Norm, zur idealen Regel, die die tatsächlichen Regelmäßigkeiten der ökonomischen Welt ihrer ureigenen Logik überlassen, dem so genannten Gesetz des Marktes, das heißt: dem Recht des Stärkeren. Sie ratifiziert und glorifiziert die Herrschaft dessen, was man heute Finanzmärkte nennt, also die Rückkehr zu einer Art Raubkapitalismus…

Pierre Bourdieu

Diejenigen, die hinter dieser "konservativen Revolution" stehen, gehören auch zu denen, die aufgrund ihrer symbolischen Macht, wie Bourdieu sagt, "die Wahrheit der sozialen Welt" zu bestimmen vermögen.

Doch es sind längst nicht nur die Strukturgestalter auf den oberen Rängen der Gesellschaft allein, die das Leiden der Armen einfach so abtun. Es ist wie so oft: Der Kampf gegen die Schwachen, die Minderheiten ist nur deshalb möglich, weil weite Teile der mittleren Klassen und Schichten ihn mitführen und oft sogar befeuern.

Der Kampf der verunsicherten Mittelklasse

Rückblick: Vor einigen Wochen ist der neue Armutsreport des Paritätischen Wohlfahrtsverbandes erschienen ("Soziale Ungleichheit wird als Gesellschaftselixier gepriesen"). Ein Spiegel-Redakteur fühlt sich berufen, den Bericht zu kommentieren und über den "Blues vom bitterarmen Deutschland" zu schreiben. Fahrlässig sei es demnach, "den Eindruck zu erwecken, dass es vielen Menschen in Deutschland immer schlechter geht".

Darüber hinaus erfährt der Leser, dass Menschen von den gegenwärtigen "Sozialbezügen" ein würdiges Leben führen können. Die Ansichten, die sich oftmals hinter Aussagen wie diesen verbergen, entspringen aus der Mitte einer Klasse, deren Angehörige, nicht einmal selten, die Armen in diesem Land geradezu verachten. Der Argwohn gegenüber den Armen, der hier sichtbar wird, führt bei genauerer Betrachtung tief in das soziale Sein der mittleren Schichten und Klassen, über das auch die folgenden Ausführungen des Spiegel-Mannes etwas verraten und die ihren eigenen soziologischen Wert haben:

Vor dem Supermarkt, in dem ich meistens einkaufe, steht seit Wochen schon früh morgens ein Bettler, der sich auf eine Krücke stützt. Der Mann sagt freundlich "Guten Tag, mein Herr", wenn ich den Laden betrete, und "Auf Wiedersehen", wenn ich ihn mit einer Tüte voller Lebensmittel wieder verlasse. Der Bettler ist nett zu mir, aber ich gebe zu, dass ich ihm noch nie etwas gegeben habe. Ich weiß nicht, ob mein Verhalten richtig ist. Nach der Lektüre einer Reportage, die meine Kollegin Katrin Kuntz geschrieben hat, ahne ich aber, dass der Mann möglicherweise Mitglied eines rumänischen Bettler-Ringes mit sehr zweifelhaften Methoden sein könnte. Und ich befürchte, dass er dann zu denjenigen gehört, bei denen kaum etwas vom Spendengeld hängenbleibt.

Der Spiegel

Denk- und Verhaltensweisen verdichten sich in diesen Zeilen, die nicht wenige Angehörige des Besitzstandbürgertums prägen: Geiz, fehlende Empathie gegenüber den Armen, ein übertriebenes Misstrauen, wenn es ums Geld geht, verbunden mit einer tiefen Angst vorm Verlust des eigenen Vermögens, die bisweilen so weit geht, dass diese sich selbst im Umgang mit Kleinstbeträgen zeigt.

Was mag in einem erwachsenen Menschen vorgehen, den die Frage, ob er einem Bettler nun hätte etwas geben sollen oder nicht so umtreibt, dass er in einem Editorial eines großen deutschen Nachrichtenmagazins laut darüber nachdenkt?

Eine derartige Frage wäre, so darf man es sehen, von einem Kind zu erwarten, das bei der Internalisierung grundlegender Verhaltensweisen in der direkten Interaktion mit Anderen noch an Reife bedarf.

Besonders grotesk werden die Ausführungen des Redakteurs, wenn man sich die Höhe der Geldbeträge" vor Augen hält, die Menschen Bettlern in den Hut werfen (oftmals geht es nur um Centbeträge). Welche Antriebe wirken da also, wenn Angehörige der mittleren Klassen und Schichten den Armen mit tiefen Misstrauen entgegentreten, wenn sie Hilfen - vor allem finanzieller Art - kritisch gegenüberstehen, und meinen, den Armen ginge es doch gut genug.

Hier kommt sie zum Vorschein, eine Wahrnehmung, die auf den Antrieben eines Prätentionshabitus beruht. Das heißt: Eine innere Haltung, die auf einem Leben wurzelt, in dem aus, wie Bourdieu sagt, Haben noch nicht Sein geworden ist.

Die wirklich Reichen können selbst größere Verluste aufgrund ihrer Vermögenswerte ausgleichen. Ihr Reichtum wurde meist über Generationen vererbt. Sie haben nicht nur, sie sind. Die Angehörigen der mittleren Klassen hingegen bewegen sich auf einem Eis, das zwar dick genug ist, um Freudensprünge vor den Armen aufführen zu können, aber zugleich noch zu dünn ist, um mit einem neuen Porsche Panamera, der sich auch unter großer Anstrengung nicht so einfach anschaffen lässt, darüber zu gleiten.

Das schafft Frustration. Eigentlich geht es den Angehörigen der mittleren Schichten finanziell nicht schlecht bis gut. Doch ihnen ist bewusst, dass sie "nur" in der Mitte der gesellschaftlichen Klassen stehen und ihre Lebensstruktur ihnen auch Grenzen setzt.

Hinzu kommt: Sie wissen sehr wohl darum, dass der erworbene Wohlstand nur dann erhalten werden kann, wenn ihr Einkommen mindestens gleich bleibt. Ein Arbeitsplatzverlust würde auch sie treffen.

Und mit diesem Bewusstsein fällt der Blick auf die Armen, die "da unten" stehen, die "haben wollen", vom Staat, von der Gesellschaft und dann entstehen Verachtung und Frust. Schließlich: Warum fließt "so viel" Geld in den Sozialstaat hinab zu den "Taugenichtsen", wenn diese Gelder doch auch den Angehörigen der Mittelschicht zuteil werden könnte, um sie bei ihrem Bestreben, den eigenen Wohlstand zu mehren, zu unterstützen.

Was sind schon 80.000 gesparte Euro auf dem Konto, wenn erstmal das Dach am Haus neu gedeckt und eine neue Heizung her muss? Und der BMW vorm Haus ist schließlich auch "schon" fünf Jahre alt, und 50.000 Euro für einen neuen lassen sich nicht so einfach aus dem Ärmel schütteln. Aus dieser Perspektive lässt sich besser verstehen, warum weite Teile der meinungsführenden Presse den Umbau des Sozialstaates, wie er vom ehemaligen Bundeskanzler Gerhard Schröder vorgenommen wurde, publizistisch unterstützt haben und noch immer unterstützen. Aus dieser Perspektive lässt sich auch erklären, warum die Kämpfe der Armen in unserer Gesellschaft vonseiten der Medien für die Augen der Öffentlichkeit nicht transparent genug gemacht werden. Denn auch viele Journalisten entstammen, wie es diverse Studien darlegen, aus den mittleren Schichten.

Nicht wenige von ihnen blicken, auch wenn durchaus auch immer wieder einmal differenziertere Berichte in den Medien zu finden sind, mit denselben Vorurteilen, mit den selben "klassenrassistischen" (klassistischen) Ressentiments auf die Armen, wie viele andere Angehörige der mittleren Schichten und Klassen.