Die Cannes-Tea-Party

Aaron Russo sieht die USA auf der Schwelle zum Faschismus, und auch andere Filme glauben an den Gegensatz von Individuum und "dem System" und feiern Krieg und Katastrophe als Vater des Besseren

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Droht Amerika in den Faschismus abzugleiten? Das ist die Frage von Aaron Russos Dokumentation "Amerika: From Freedom To Fascism", die jetzt während des Festivals von Cannes ihre Europapremiere erlebte: Ein krudes Gemisch aus Fakten und Vermutungen, Spinnerei und ersten Warnungen, Idealismus und Pessimismus, das recht gut passt in die allgemeine paranoide Stimmung, die viele amerikanische Filme ausstrahlen, die gerade in Cannes zu sehen sind: Schon Ron Howards "The Da Vinci Code", nun auch Richard Kellys "Southland Tales", William Friedkins "Bug" und auf seine unnachahmliche Art Oliver Stone, der die ersten 20 Minuten seines neuen Films "World Trade Center" präsentierte.

Hände, die mit einer amerikanischen Flagge gefesselt sind. Ein Mann mit einer Tüte über den Kopf, ohne Sehschlitze. Ein Baby mit implantiertem Chip. Und immer wieder groß und dick das Wort "Amerika" in den blauweißroten Farben der US-Flagge geschrieben, wie von einer Dornenkrone umkränzt von Stacheldraht. Dazu Zitate von Thomas Jefferson, Edmund Burke, Abraham Lincoln, aber auch von Josef Stalin: "Entscheidend ist nicht, wen die Leute wählen, sondern wer die Stimmen auszählt."

All das prangt auf unübersehbaren großen Plakaten am Zaun des "Carlton", des wichtigsten und teuersten Hotels am Boulevard Croisette von Cannes. "Amerika: From Freedom To Fascism" lautet die Unterzeile. Und es ist klar, an wen man denken soll: An George W. Bush, seinen vermutlich gefälschten Wahlsieg von 2000, seinen völkerrechtswidrigen Angriffskrieg auf den Irak, an die recht- und schutzlosen Gefangenen von Guantanamo, an folternde Amerikaner in Abu Ghraib und den zahllosen anderen US-Geheimgefängnissen in der Welt.

Die Marketingkampagne für diesen Film ist so groß, wie teuer, wie unwiderstehlich. Und sie ist ein Bluff. Man konnte es ahnen, denn Aaron Russos Film "Amerika: From Freedom To Fascism" läuft zwar in Cannes wo zur Zeit das wichtigste Filmfestival der Welt stattfindet, aber nicht auf dem Festival - was allerdings nicht daran liegen kann, dass sich Multimillionär Russo keine Vorstellung auf dem Filmmarkt einkaufen könnte, sondern wohl eher daran, dass er die Pose des "against all odds", des Underdog und von den Autoritäten Verfolgten liebt.

Als sich dann einige Hundert Journalisten und Einkäufer auf dem eigens angemieteten Privatstrand nahe des Festivals zur Europapremiere und einzigen Vorführung des Films einfinden, wird klar, dass sich Russo für das was die USA in der übrigen Welt so alles anrichten, nicht interessiert - allenfalls beklagt er die Kosten für den Steuerzahler und die "unnötigen" Opfer amerikanischer Soldaten.

In seiner knapp zweistündigen Dokumentation "Amerika: From Freedom To Fascism" geht es um Innenpolitik, vor allem um Steuern. Und zwar um die, die Russo nicht zahlen will, die Einkommenssteuer. Dass diese illegal sei, auf keiner Gesetzesgrundlage beruhe, sondern einer Verschwörung des US-Finanzkapitals - "They were very clever." -, ist die Kernthese des Films, die detailliert ausgebreitet, variiert und begründet wird. "Big government and big companies" haben sie gegen die Bürger verschworen, "es geht nicht um rechts oder links, sondern um das System vs. Demokraten und Republikaner."

Es folgt ein Aufruf zum Steuerboykott. Und auch damit steht Russo - wie mit einem Pathos, seinem isolationistischen Blick, seinem Freiheitsidealismus - ganz fest in den ältesten Traditionen seines Landes. Denn schließlich beruht schon die Gründung der USA auf Antietatismus, einem Akt der Steuerverweigerung, der "Boston Teaparty"

Fundamentalismus, Sendungsbewusstsein und "Patriotismus"

Wer ist dieser Aaron Russo? Bekannt wurde er bereits in den 60er Jahren als einer der wichtigsten Manager der Popkultur. Zuerst von Chicago, dann von Los Angeles aus wurde er mit Konzerten von "The Who" und "Jefferson Airplane" zum Multimillionär. Sieben Jahre, und zwar in der großen Zeit der Sängerin, war er Manager von Bette Midler. So kam Russo auch zum Film: Ende der 70er produzierte er Bette Midlers Filme. Gleich 1978 gewann er einen "Emmy Award" für die Middler-TV-Produktion "Ol' Red Hair is Black", später produzierte er auch Middlers "The Rose", John Landis' "Trading Places", und Brian De Palmas "Wise Guys".

Auch mit dieser Vergangenheit ist Russo daher kulturhistorisch und weltanschaulich ein typisches Gewächs jenes Kontext aus 68er-Revolte, Bürgerbewegung, Pop, Drogen und Paranoia, der es nicht zur Die kalifornische Ideologie geschafft hat, und den Lutz Dammbeck in seiner Dokumentation über den Unabomber "Das Netz" (vgl. Das Netz) recht gut beschrieben hat. Seit Anfang der 90er wandte sich Russo der Politik zu. Zuerst gründete er erfolglos eine eigene Partei, die "Constitution Party". 1998 bewarb er sich ebenso erfolglos für die Nominierung als Gouverneurskandidat der Republikaner in Nevada. Beim Wahlkampf 2000 unterstützte er dann die "Libertarian Party".

Dies alles muss man berücksichtigen, wenn man die Aussagen des Films bewerten will: Insbesondere die schwer durchschaubare und ihren politischen Traditionen wie ihrer undifferenzierten Staatsfeindschaft suspekten Libertären der "We the people-Foundation", die ihre Warnungen vor der Tyrannei und dem schleichenden Staatsstreich in den USA völlig ernst meinen, die zur Steuerverweigerung aufrufen, weil sie mit Bush-haftem Sendungsbewußtsein glauben, dass "von Washington" alles Übel der Welt ausgeht, allenfalls noch ein wenig auch "von der Wall Street".

Auch dies knüpft an bekannte US-Traditionen an, eine Verschwörungstheorie, die das Heil mit Henry David Thoreau (1817-62) und seinem Buch "Walden oder das Leben in den Wäldern", einem Kultbuch der Antimoderne, vor allem in der Rückkehr in die Wälder und Staatsfreiheit suchen. Diese Kritiker sind vom Gedankengut der Oklahoma-Attentäter nicht mehr weit entfernt. In Form eines totalitären Regime herrsche längst in den USA das Organisierte Verbrechen, das ist auch die doch eher undifferenzierte und bei aller berechtigten Kritik zu einfache und fragwürdige Aussage von Russos Filmpamphlet, das in seinem Fundamentalismus, Sendungsbewusstsein und "Patriotismus" seinem Erzfeind Bush keineswegs nachsteht.

Die Erosion der letzten Bürgerfreiheiten

So unsympathisch dieser Gestus aber ist, kann man "Amerika: From Freedom To Fascism" trotzdem auch nicht einfach abtun. Russo macht Punkte, nicht nur, weil die US-Einkommenssteuer offenbar tatsächlich auch gesetzlich wackeligen Beinen steht, sondern auch, weil er diese Frage und den Umgang der US-Regierung mit den Bürgerrechten im letzten Drittel seines Films intelligent zu einer Generalkritik an den Homeland-Security-Gesetzen und der neuen Weltordnung der Bush-Regierung verknüpft. Die US-Gründerväter würden die Homeland-Security-Gesetze jedenfalls gewiss zurückweisen.

Hier wird Russos Blick dann wenigstens kurz auch global. Die unversale Digitalisierung führe zum Gläsernen Menschen, warnt Russo mit George Orwell vor der Erosion der letzten Bürgerfreiheiten, bald werde man nichts mehr tun können, ohne dass die Regierung davon weiß. "Es geht längst nicht mehr um den Kampf gegen Terrorismus, sondern um die Kontrolle der Bürger", so Russo. Schwer, ihm hier zu widersprechen.

Doch bald verengt sich der Blick wieder auf Innenpolitisches. Zugleich überrascht angesichts dieses Befunds dann wieder Russos naiver Glaube, dass die Verhältnisse zu ändern sind, würden sich die Bürger ihrer Macht nur bewusst sein. Russo beschwört die Grassroots, und schließt seinen Film mit "This is Americam and we have free choice." Wenn er recht hätte, kann er dies dann sagen?

"Warning: you are entering a domain of chaos"

Russos krudes Gemisch aus Fakten und Vermutungen, Spinnerei und ersten Warnungen, Idealismus und Pessimismus, das recht gut passt in die allgemeine paranoide Stimmung, die viele amerikanische Filme ausstrahlen, die gerade in Cannes zu sehen sind.

Etwa "Southland Tales", der neue, zweite Film von Richard Kelly, der durch seinen Erstling "Donnie Darko" berühmt wurde. Weil der auch unter Filmkritikern Kult ist, war "Southland Tales" einer der am innigsten erwartetsten Filme des Wettbewerbs - und dann sein größter Reinfall. Das postapokalyptische Szenario des Science-Fiction Films spielt im Jahr 2008, und wurde mit drei von Kelly verfassten Comicbüchern - deswegen beginnt der Film auch ein bisschen arg in George Lucas/"Star Wars"-Pose mit Kapitel IV - und einer höchst ambitionierten Website ehrgeizig vorbereitet.

Die Welt hat einen Atomschlag hinter sich - "after the nuclear attacks of Texas, things became real complicated." - und ausgerechnet deutsche Technology und deutscher Adel retten wieder mal die Welt. Eine Wissenschaftler-Familie mit dem schönen Namen von Westphalen erfindet ein "fluid karma". Klingt gut. Außerdem gibt es in den USA Präsidentschaftswahlen, und eine positive marxistische Verschwörung an der eine Pornoqueen mit TV-Show - Ex-Vampierjägerin Sara Michelle Gellara a.k.a. "Buffy" - beteiligt ist. Die bad guys sind die Republikaner, auch eher eine abgegriffene Erkenntnis. Regisseur Kelly selbst sieht den Film als "ein merkwürdiger Hybrid zwischen den Sensibilitäten von Andy Warhol und Philip K. Dick.

"Warning: you are entering a domain of chaos" lautet die Werbezeile des Films, und damit ist alles Wesentliche gesagt. Denn der knapp dreistündige Film ist vor allem eine große Zumutung, die versucht cool und smart zu sein, und alles mit allem zum großen Eintopf rührt: Venice Beach, Irakkrieg, Überwachung, Pornos, Weltuntergang, Korruption. Und seine Wirkung ist etwa mit dem Besuch von "Matrix Revolutions" vergleichbar, wenn man die Vorgängerfilme nicht gesehen hat. Dauend werden neue Figuren eingeführt, die in post-punkigen 80er-Jahre Lederklamotten vor irgendwelchen Bildschirmen oder Kommunikationsgeräten sitzen und draufglotzen, oder irgendwelche meist belanglosen Botschaften in - auch für den Filmbesucher - schlecht gepixelten Digitalbildern empfangen.

Auch nach einer halben Stunde hat man noch immer nicht wirklich verstanden, um was es jetzt eigentlich gehen soll, sodass das Ganze, wenn überhaupt, an David Lynchs "Dune" oder einen anderen SF-Film der 80er Jahre erinnert. Immerhin gibt es schöne Dialogzeilen, etwa die über die "Mayflower": "a bunch of nerds on a boat in the 16th century". Oder Sarah Michelle Gellars: "Scientists say, the future is going to become far more futuristic, than predicted." Am besten ist aber noch der Rand des Films, die untergründige USA-Kritik, die Kleinigkeiten eines Portraits der USA im Jahr 2008 - die Selbstverständlichkeit des Alptraums: 40 US-Soldaten wurden gerade in Syrien getötet, die Polizei schießt und tötet, ohne zu fragen. Interessant ist der Film somit allenfalls als ein Dokument des Wahnsinns, der in den USA derzeit dominiert

Innenansichten der Paranoia

Man kann "Southland Tales" auch interpretieren als die linksalternative, neulinke und elaboriertere Westcoast-Version jener Paranoia, deren libertäre Variante man bei Russo findet, und deren Mainstream-Form den Subtext von "The Da Vinci Code" bildet: alles hängt mit allem zusammen, es gibt eine geheime Verschwörung, Rechts ist das wir erleben gerade das Ende der Welt. Allen dreien gemeinsam ist extreme Humorlosigkeit, eine bierernste Seriosität, die dem albernen Plot völlig unangemessen ist. Unter den Oberflächen des Langweiligen, der Ödnis, die diese Filme dominiert, ist vor allem Furcht zu spüren.

Besser macht es natürlich William Friedkin, was er bereits zu Hochzeiten des Vietnamkriegs bewiesen hat. "French Connection" und "The Exorcist" waren nicht zuletzt Reisen ins kollektive Unbewusste Amerikas, das zur Hochzeit von Vietnamkrieg und Watergate nach Friedkins subtilen Dekonstruktionen des Polizeiapparats und der all american family lechzte. Friedkins neuer Film, "Bug", der in der der Arthouse-Sektion "Quinzaine" läuft, passt genau in die Landschaft, und lotet die Ebenen aus, denen "Southland Tales" und "Da Vinci Code" auf unterschiedliche Weise ausweichen: Es beginnt mit einem Hubschraubergeräusch und dem Blick auf einen Ventilator… Erinnerungen an Anfang von "Apocalypse Now" werden wach. Aus dem Off Telefonklingeln, "Hello? Hello? Bastard."

Ashley Judd spielt die Hauptrolle. Keine kann so kaputt und white-trashig aussehen, wie Judd und dabei doch attraktiv bleiben. Sie spielt Agnes, eine Frau, die Gewohnheitstrinkerin ist, und in einer Bar arbeitet und in einem Motel wohnt. Ihr Mann sitzt im Knast, weil er sie fast totschlug. Ihr Kind verschwand vor neun Jahren spurlos im Supermarkt. Alle Voraussetzungen für eine satte Paranoia sind also vorhanden, und als sie auf Peter trifft, und mit ihm ein Verhältnis beginnt, ist es soweit. Der ist überzeugt Opfer eines Experiments des Geheimdienstes zu sein, und eine "Wanze" in sich zu tragen. Die Dinge eskalieren schnell. "Bug" bietet Innenansichten der Paranoia: Ununterbrochenes Blablabla: "Its the way things are…, the rich get richer, the poor poorer. … Ich wurde verwanzt. man macht Experimente mit mir. … Wir werden nie mehr sicher sein. … chips implanted on every new born baby since 1982…."

Irgendwann zieht Peter sich selbst auch mit einer Klempnerzange die Zähne, schneidet sich vermeintliche Bugs aus dem Leib. Die Wohnung verlassen beide nicht, legen sie mit Silberpapier aus. Und am Ende, als Agnes sicher ist: "I am the super mother bug." - was man Ashley Judd wirklich so sehr gerne sagen hört - tun beide, was paranoide Menschen irgendwann tun, und zünden a la Waco das Haus über ihrem Kopf an. Gerade weil er schwer erträglich ist, ist Friedkins Film auch ein treffender Kommentar zum ganzen Komplex der Conspiracy Theory und Paranoia, zur Signatur der US-Gegenwartsgesellschaft.

Apocalypse Now: Oliver Stones "World Trade Center"

Das einstweilen letzte Wort dazu stammt von Oliver Stone. "World Trade Center", dessen erste 20 Minuten hier bereits vorgeführt wurden, um den Hype um den im Spätsommer startenden Film erstmal anzuheizen. Der zeigt die ersten Stunden des New Yorker Attentats in Echtzeit, aus der Perspektive mehrerer Polizisten, die zu den Zwillingstürmen kommen, um diese zu evakuieren. Man sieht die Einschläge in die Tower nur in der Reaktionen der Beteiligten, ansonsten dominierte den Anfang ein glänzendes und mit Stone-typischer Hysterie lautstark inszeniertes Chaos.

Die Individuen sind schutzlos, über ihnen - im Wortsinne wie metaphorisch gemeint - regiert das Chaos. Mehrfach fällt der Satz "There is no plan for this", bezogen auf das Fehlen von Evakuierungs- und Katastrophenplänen. Das ist einerseits linke Kritik am Versagen der Regierung, auch liberale Absage an jene Verschwörungstheorie, die für alles einen Masterplan unterstellt. Andererseits dann doch paranoid, weil genau in der Abwesenheit der Katastrophenpläne dann wieder doch eine neue Verschwörung liegt.

Was dies besonders bemerkenswert macht, ist, wie sich die Wahrnehmung dieses Ausschnitts im Licht der anderen, bereits erwähnten US-Filme verwandelt: Es ist erkennbar, dass Stone uns eine christliche-Erweckungsgeschichte erzählen wird, an dessen Ende Amerika - repräsentiert durch zwei Bürger, einen WASP und einen Latino - aus der Katastrophe neu geboren werden wird. Der Marsch durch die Apokalypse als Reinigungsbad, Krieg und Katastrophe als Vater aller Dinge und Voraussetzungen des Besseren. In diesem Sinne feiern die Amerikaner in und außerhalb von Cannes nun wirklich ihre neue Boston-Tea-Party.