Die Doppelzüngigkeit der Gesundheitspolitik

Am Rauchen wird zurzeit durchexerziert, was in Zukunft immer weitere Teile der Gesellschaft betreffen könnte: Krankeitsbilder auf den Verpackungen sollen die Menschen abschrecken

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In unserer Gesellschaft, in der Gesundheit eine Art neue Volksreligion geworden ist (Lektüretipp: die Bücher des Kölner Chefarztes Manfred Lütz), ist das nur konsequent. Machen wir uns aber doch nichts vor: Politisch und volkswirtschaftlich geht es nicht um das Glück der Menschen, sondern um Vermeidung von Dienstausfällen und Gesundheitskosten.

Praxis des Verantwortlichmachens

Soweit muss daran nichts verkehrt sein. Doch an diese Politik ist eine Praxis des Verantwortlichmachens gekoppelt, die weitreichende Folgen hat. Nur einzelne Beispiele der vergangenen Tage hier auf Telepolis sind der Bericht Peter Mühlbauers über eine britische Gesundheitsbehörde. Übergewichtige Patienten und Raucher müssen dort in Zukunft vielleicht länger auf Operationen warten.

Als Begründung wird genannt: Die Operationen führten häufiger zu Komplikationen und seien teurer. Sollen die Leute doch gesünder leben! Es ist ja ihre Entscheidung (NHS York will Übergewichtige und Raucher länger auf Operationen warten lassen). Oder nicht?

Sozialwidriges Verhalten

Alexander und Bettina Hammer schrieben über eine Dienstanweisung der Bundesagentur für Arbeit. "Objektiv sozialwidriges Verhalten" kann demnach Kürzungen des Arbeitslosengelds zur Folge haben. In den Beispielen werden zwar (noch) keine klassischen Krankheiten genannt, aber mit Fehlverhalten durch Alkoholkonsum ist bereits die Sucht mit aufgenommen (Verschärfungen beim Arbeitslosengeld II - Alles halb so wild?).

Merke: Beim letztgenannten Beispiel geht es auch darum, die Bezüge der ohnehin schon ärmsten der Gesellschaft unter das Existenzminimum zu kürzen. Das kann sogar rückwirkend geschehen. Tja, hätten sich die Menschen einmal früher Gedanken darüber machen sollen... Welche Disziplinarmaßnahmen lassen sich unsere gewählten Repräsentantinnen und Repräsentanten wohl als Nächstes für ihre Wählerschaft einfallen?

Individuum versus Organisation

Warum nenne ich diese Gesundheitspolitik nun doppelzüngig? Weil einerseits vom Einzelnen erwartet wird, alles zu wissen, und er für sein Verhalten verantwortlich gemacht wird, andererseits aber große Lobbys viel dafür tun, ihre ungesunden Produkte zu verkaufen. Wie sich die Tabakindustrie seit Jahrzehnten dagegen wehrt, wissenschaftliche Studien zur Gefährlichkeit des Rauchens anzuerkennen und Warnhinweise aufzunehmen, ist dafür nur ein Beispiel.

Denken wir den Umgang mit Tabakprodukten nur einen Schritt weiter: Laut dem britischen Pharmakologieprofessor David Nutt und anderen Mitgliedern des Independent Scientific Committee on Drugs ist die gesellschaftlich schädlichste Droge Alkohol, noch vor Heroin (Alkohol ist gefährlicher als Kokain und Crack). Danach kommen Crack Kokain, Methamphetamin ("Crystal Meth"), Kokain und Tabak.

Gefährliche Genussmittel

Das hängt natürlich auch mit der Berechnung zusammen: Die Forscherinnen und Forscher kombinierten dafür Schäden für die Konsumierenden und die Gesellschaft. Der hohe rechnerische Gesamtschaden des Alkohols liegt also auch an dessen weiter Verbreitung. Nur nach dem individuellen Schaden zu beurteilen, folgt Alkohol ihnen zufolge aber nach Crack Kokain, Heroin und Methamphetamin schon auf dem vierten Platz - und damit vor "normalem" Kokain, Amphetamin, GHB und Tabak.

Wie dem auch sei, gesundheitsökonomisch spricht damit sehr viel für einen ähnlichen Umgang mit Alkohol wie jetzt mit Tabakprodukten: Folgen also bald Fotos mit Fettlebern oder Gehirnen von Korsakoffpatienten auf Bierflaschen? Ich sage nicht, dass das gut wäre, sondern nur, dass es der gegenwärtigen Gesundheitspolitik entspräche. Nutt forscht darum übrigens an einer Substanz, die ähnlich wirkt wie Alkohol, dabei kaum gesundheitsschädlich ist und sich sogar durch ein Gegenmittel neutralisieren lässt (Investoren für Alkoholersatz gesucht).

Wo wir schon dabei sind: Viele Sportarten gehen natürlich auch mit Gesundheitsgefährdungen einher. Dabei muss man nicht nur an Boxen denken oder die in Amerika so beliebte Schlachtensimulation, genannt "American Football" - nein, auch der Volkssport Fußball kommt vermehrt in den Fokus der Forschung.

So untersucht die Münchner Neurologieprofessorin Inga Koerte Gehirnschäden durch Kopfbälle. Ihr zufolge gibt es darum bereits Überlegungen von Sportverbänden, erst ab dem 14. Lebensjahr mit dem Kopfballtraining zu beginnen. In den USA gebe es heute schon entsprechende Auflagen für Baseball zum Schutz der Ellenbogen von Heranwachsenden.

Gesunde Ernährung

Genussmittel, Sport - der nächste logische Schritt ist die Ernährung, was wir immerhin tagtäglich in unseren Körper füllen. Wer sich in den letzten Jahren mit gesunder Ernährung beschäftigt hat, der wird verstehen, was "Überforderung" bedeutet. Es ist ja nicht nur so, dass wissenschaftliche Studien oft zu unterschiedlichen Ergebnissen kommen, sondern diese auch von Expertinnen und Experten auf verschiedene Weise interpretiert werden.

Selbst wenn man sich durchgebissen hat, dann weiß man trotzdem nur, was vielleicht für den "Durchschnittsmenschen" gesund ist, nicht jedoch für einen selbst. Den Supermärkten und ihren Marketingpartnern geht es freilich eher um den Verkauf ihrer Produkte als um unsere Gesundheit. So wehrt sich die Nahrungslobby seit Jahren erfolgreich gegen ein Ampelsystem zur einfachen Kennzeichnung der Konzentration von Fett, Salz und Zucker in Nahrungsmitteln und Getränken.

Allgegenwärtige Manipulationsversuche

Sobald man einen Supermarkt betritt, werden Versuche unternommen, das Kaufverhalten zu manipulieren: Der Bäcker mit frischem Brot- und Kaffeeduft am Eingang? Soll eine angenehme Atmosphäre erzeugen und Appetit machen. Obst und Gemüse am Anfang? Wenn Menschen denken, schon etwas Gesundes gekauft zu haben, dann greifen sie später auch eher zu ungesunden Produkten.

Im Wartebereich vor den Kassen finden sich heutzutage zwar seltener Alkohol- und Tabakprodukte (wie pervers für Süchtige!), dafür aber so gut wie immer Süßigkeiten. Haben Sie sich als Eltern schon einmal gefragt, warum die bunt eingepackten Schokoladeneier vorzugsweise auf der Höhe von Kinderhänden zu finden sind?

Auch ein beliebter wie perfider Trick: Das teure Produkt für zehn Euro kauft zwar kaum einer - liegt es auch im Regal, greifen die Kunden aber eher zu dem aus dem mittleren Preissegment für drei Euro statt zu der Discount-Alternative für einen.

Gegen Kindermarketing

Das ist natürlich alles etwas vereinfacht ausgedrückt; aber um einmal eine Zahl zu haben: Eine Initiative gegen Kindermarketing in den Niederlanden, an der sich zahlreiche Organisationen aus Wissenschaft, Gesundheitssektor und Verbraucherschutz beteiligen, schätzt den Anteil ungesunder Nahrungsmittel bei Werbung für Kinder auf 94%. Die Supermarktkette Plus lenkte jüngst ein, verwendet dabei aber auch eine andere Definition von "ungesundes Produkt" als die Initiative.

Um zum Schluss zu kommen: Warum nenne ich die Gesundheitspolitik also "doppelzüngig"? Weil unterstellt wird, die Konsumentinnen und Konsumenten wüssten alles und könnten alles, während auf der anderen Seite große und mächtige Interessengruppen sehr viel dafür tun, Wissen zu verschleiern und Verhalten zu manipulieren. Karl Kollmann schrieb hier kürzlich, dass Verbraucherschutzverbände vergessen hätten, neben einem "Recht auf Konsum" auch an einen "Schutz vor Manipulation" durch Werbung und Marketing zu denken (Das Recht auf Konsum).

Ungleiche Verantwortung

Die Verantwortung für Gesundheitsschäden wird aber mehr und mehr dem Individuum aufgebürdet. Das passt natürlich hervorragend in das neoliberale Schema. Der Staat profitiert dabei erst durch die Einnahme von Steuergeldern und tut hinterher so, als könnte er nichts dafür, wenn er Sozial- und Gesundheitsleistungen einschränkt.

Das schreibe ich auch als jemand, der im Alter von 14 bis 19 Jahren viel geraucht hat, als es noch an jeder Straßenecke Zigarettenautomaten gab, in die man nur ein 5-Mark-Stück einzuwerfen brauchte. Wie es uns mit 30, 40, 50... Jahren einmal gehen würde, daran haben wir als Jugendliche natürlich nicht einmal im Traum gedacht.

Soll darum alles verboten werden, was ungesund ist? Eher nicht. Sollen Werbung und Marketingtricks dafür verboten werden? Vielleicht. Soll die Verantwortung nur einseitig bei den Konsumentinnen und Konsumenten gesucht werden? Auf gar keinen Fall. Mindestens müssen die Unternehmen, die davon profitieren, mit zur Kasse gebeten werden, einschließlich der Hersteller, Werbetreibenden und Verkäufer.

Oder seien wir doch ehrlich: Eine gesunde Gesellschaft, so schön sie auch wäre, würde mit unserem Kapitalismus gar nicht funktionieren. Wahrscheinlich würden 90% der Lebensmittelindustrie bankrottgehen, wenn alle Menschen sich gesund ernährten. Dann ist es aber auch nicht fair, von den Konsumierenden nur gesundes Verhalten zu erwarten.

Vor das Strafgericht!

In den hier angedeuteten Beispielen geht es vor allem um öffentliches und privates Recht. In den Bereich des Strafrechts hat die Schriftstellerin Juli Zeh dies in ihrem internationalen Bestseller "Corpus Delicti" übertragen. Wer in dieser Welt nicht genügend trainiert oder seine Blut- oder Urinproben nicht zur Kontrolle schickt, der wird vors Strafgericht gestellt. Rauchen? Ein Kapitalverbrechen!

Wir leben freilich (noch) nicht in dieser Dystopie. Viele von uns sammeln aber heute schon Daten, die sich in Zukunft einmal hervorragend zum Feststellen "sozialwidrigen Verhaltens" würden verwenden lassen: Vielleicht kaufen Sie Cola, Chips oder fettes Fleisch manchmal mit einer personengebundenen Bonuskarte.

Denken Sie etwa immer noch, das Unternehmen wolle Ihnen ein Geschenk machen? Und der Staat würde ernsthaft etwas für Ihren Datenschutz unternehmen?