Die Electrohippies sprechen
Die Jesusjünger des Netzes setzen sich für legitime Protestformen im Internet ein und verschenken Javascripts für verteilte Denial-of-Service-Angriffe.
Im Zuge der Proteste gegen die Konferenz der Welthandelsorganisation Ende November in Seattle war auch eine neue Hacktivistengruppe in Erscheinung getreten - die Electrohippies. Sie kooperierten mit dem Electronic Disturbance Theater, Ricardo Dominguez, und benutzten dessen Tribal-Floodnet-Tool. In einem heute veröffentlichtem Statement diskutieren sie Möglichkeiten für legitime Protestfomen im Netz und versuchen einen Katalog von Kriterien dafür aufzustellen. Doch auch ihre weiterentwickelten Javascripts wollen sie der Öffentlichkeit zur Verfügung stellen - allerdings nur, wenn sich die Anwender an den ethischen Verhaltenscode der Electrohippies zu halten versprechen.
Einer der wesentlichen Beweggründe für die Veröffentlichung des 45K langen Statements scheinen die DoS-Attacken auf E-Commerce-Sites von Anfang Februar gewesen zu sein, bzw. vor allem die Reaktionen darauf seitens von Politikern, Strafverfolgern und Massenmedien. Die Electrohippies verwehren sich gegen die Brandmarkung von Internetaktivisten als "Cyberterroristen". Indem tatsächlich illegale Aktionen (wobei die E-Hippies das Ausmaß in welchem diese als "terroristisch" bezeichnet werden können, in Frage stellen) und demokratische Massenproteste in einen Topf geworfen werden, würde das Internet völlig dem marktwirtschaftlichen Kahlschlag unterworfen, argumentieren sie. Doch das Internet müsse ein öffentlicher Raum bleiben und wie in jedem anderem öffentlichem Raum müsste es Möglichkeiten für demokratische Protestformen geben, als einer Art zivilgesellschaftlicher Kontrollinstanz gegenüber wildwucherndem Cyber-Frontier-Kapitalismus.
Deshalb geben sich die Electrohippies Mühe, den Unterschied zwischen den Angriffen auf Yahoo, eBay usw. vom Februar und ihren eigenen Aktionen klarzumachen. Dafür wird wieder einmal die Definition von Hackern und Crackern aus dem Hut gezogen. Die Angreifer vom Februar wären in fremde Maschinen eingebrochen und hätten diese als "Zombies" missbraucht, auf denen die DoS-Programme liefen, ohne dass die Inhaber dieser Rechner es wussten. Das Cracken der Computer sei klarerweise illegal, sagen die Electrohippies, doch was wirklich falsch an den Angriffen gewesen wäre, sei ihr klandestiner Charakter. Ein oder zwei Personen wären im Prinzip ausreichend, so einen Angriff durchzuführen. Damit würde die demokratische Legitimation fehlen, die "Abstimmung mit den Füßen" empörter Netizens.
Das ist ein methodisches Hauptprinzip der von den Electrohippies propagierten Protestform - die spontane Beteiligung vieler Menschen. Der Unterschied wird anhand der technischen Vorgehensweise transparent - Server side gegen Client side. Die DoS-Tools der Electrohippies sind strictly Client side, d.h. sie beruhen darauf, dass möglichst viele User eine Website aufrufen und mittels eines Javascripts, das in ihrem WWW-Client läuft, Zielserver mit Abrufen überfluten. Das Prinzip funktioniert auch ohne zentralen Protestserver, indem sich die Beteiligten entsprechende HTML-Seiten zumailen, die lokal von Nutzern geöffnet werden können.
Weitere Kriterien sind die Transparenz und Öffentlichkeit der Proteste. Virtuelle Sit-ins sollten klar abgesteckte Ziele verfolgen, die in allgemeinverständlicher Form bekanntgegeben werden. Die Aktionen selbst sollten sich gegen ein legitimes Ziel richten und sich auf einen kurzen Zeitraum beschränken, Kulminationspunkte wie zum Beispiel Konferenzen oder andere entscheidende Stichtage. Auch sollten die Inhaber der Zielserver rechtzeitig informiert werden. Nicht zuletzt sollten sich die Promoter eines Sit-ins öffentlich deklarieren und sich nicht hinter Schattenaccounts verstecken sondern zumindest eine gültige Korrespondenzadresse angeben - so die Kernpunkte des ethischen Codes der Electrohippies.
Wer sich an diese Forderungen hält oder zu halten verspricht, darf sich dann auch den neuen und verbesserten Code der Electrohippies von ihrer Website ziehen. Eines dieser Tools verspricht das dynamische Caching angegriffener Server auszuhebeln, indem es viele verschiedene Seiten und darunter möglichst datenschwere aufruft, das andere soll die Email-gemäße Form des Sit-in-Scripts liefern.
Ob sich der messianische Geist der Electrohippies allerdings durchsetzen wird, bleibt anzuzweifeln. Sicherlich ist nichts falsch daran, die Möglichkeit legitimen demokratischen Protests im Internet zu fordern und damit auch für ein Netz zu kämpfen, das ein sozialer öffentlicher Ort ist und nicht bloß die virtuelle Form einer von Privatsheriffs bewachten Shopping-Mall. Die Electro-Hippies sagen, mit ihrem Statement eine Diskussion zu diesem Thema auslösen zu wollen. Sie bieten auch allen Interessierten - auch Cybersheriffs und anderem Sicherheitspersonal - die Teilnahme an einer neugeschaffenen Mailinglist an. Doch mit ihrem moralischem Verhaltenscode für Cyberprotestierer greifen sie dieser Diskussion eigentlich vor, indem sie "objektive Kriterien" bereits aufgestellt zu haben. Wer mitspielen will, muss sich daran halten, so die Botschaft. Damit ähneln sie in der Tat moralisch argumentierenden, christlich motivierten Bewegungen und geben sich als gute protestantische Engländer zu erkennen. Ob allerdings Hacktivisten in China oder Singapur oder in anderen von starker Hand regierten Staaten es sich leisten können, sich quasi selbst anzuzeigen, bevor sie ein Sit-in starten, ist mehr als fraglich. Außerdem sind die Floodnet-Tools technisch keine wahnsinnig aufwendige Sache, es gibt wohl genügend Script-kiddies, die den Code spielend für nicht von den Electrohippies angedachte Protestformen modifizieren können und das auch tun werden.
Doch auch wenn hier frevelhafter Zweifel gegenüber den Jesusjüngern des Netzes geäußert wird, in einem Punkt haben sie auf jeden Fall recht. Die überzogenen Reaktionen von Politikern und Massenmedien auf die Ereignisse von Anfang Februar laufen darauf hinaus, allen kritischen Individuen im Netz einen Maulkorb zu verpassen. Was in der natürlichen Welt ein lange erkämpftes Recht ist, die Versammlungs- und Demontrationsfreiheit, soll im Internet dem goldenen Kalb des E-Commerce geopfert werden. Eine weitverbreitete Diskussion über die demokratische Nutzung des Netzes, verbunden mit Aufklärungsarbeit für Politiker und Mainstreamjournalisten, scheint tatsächlich vonnöten zu sein - wenn es geht aber ohne allzuviele christliche Metaphern und moralische Selbstgerechtigkeit.