Die Erhellung kam vor der Dunkelheit

Am Tag als der Stromausfall kam, brachte die New York Times zwei Editorials von Wissenschaftlern mit Lösungen für das Energieproblem: Kernkraft sowie Erdöl aus Amerika

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Nach vorsichtigen Schätzungen waren 50 Millionen Menschen vom Stromausfall in Nordamerika betroffen (Rätselhafter Stromausfall). Kurz nachdem Georges W. Bush, der Präsident der Vereinigten Staaten, von CNN direkt übertragen, klarstellte, dass es sich um keinen Terrorakt handelt, erklärte der kanadische Verteidigungsminister John McCallum in einer per Telefon geschalteten Pressekonferenz des kanadischen Fernsehens, die Ursache sei auf den Ausfall eines amerikanischen Kernkraftwerks bei den Niagarafällen zurückzuführen. Dort gibt es "Niagara Mohawk", ein früher selbständiges Unternehmen, das vor drei Jahren von der National Grid Group aufgekauft wurde und die Gruppe zum beherrschenden Stromlieferanten für den amerikanischen Westen machte. Aber es gibt unterschiedliche Theorien.

Das lokale Unternehmen Niagara Mohawk produziert den Strom nicht nur mit Wasserenergie. Von 7.500 Arbeitnehmern sind 1.300 im Kernkraftwerk beschäftigt. Womit die Zurückhaltung des kanadischen Ministers verständlich wird: "Ich kann nur sagen, dass wir den Amerikanern unsere Hilfe angeboten haben." In CNN flimmerte mehrfach der Ticker über den Bildschirm: Mehr als 40.000 Feuerwehrleute werden mobilisiert.

Für zwei Artikel der New York Times, die just an diesem Tag erschienen, hätte es nicht besser kommen können. Oder war es Vorahnung?

Unter dem Titel Nuclear Power Can Work erläutern John Deutch, Professor für Chemie, und Ernest Moniz, Professor für Physik, beide vom Massachusetts Institute of Technology (M.I.T.), dass es nicht ohne Kernkraftenergie geht. "Die Welt braucht mehr Elektrizität und weniger Verunreinigungen." Deshalb, so ihr Credo, hat nur die Kernenergie das Zeug zur sauberen Energie.

Nach ihren Berechnungen kosten eine Kilowattstunde aus Kernenergie heute zwar 6,7 Cents im Vergleich zu Kohle (4,2 Cents) und Erdgas. Der Unterschied wird allerdings geringer, sobald Kohlendioxyd nicht mehr in die Luft abgelassen werden kann, sondern technisch entsorgt werden muss. Dann steigt der Preis für Elektrizität aus Kohle auf 5,4 Cents und für Erdgas auf 4,8 Cents.

Beide Professoren prognostizieren, dass Kernenergie "sicherer, sauberer und ökonomischer" werden kann. Die Vormachtstellung der Vereinigten Staaten müsse indes auch dazu dienen, dass kein Uran zur Waffenherstellung angereichert wird. John Deutch, früher Direktor beim CIA, wird sich über die Hintergründe keine Illusionen machen.

Im zweiten Beitrag Will Calgary Be the Next Kuwait? empfiehlt der Geophysiker Manik Talwani von der Rice University in Houston, das politisch unsichere Öl aus dem Mittleren Osten durch das sichere Öl aus Kanada und Venezuela zu ersetzen. Er erklärt dem Leser, dass Bitumen und andere Formen des schweren im Sand geborgenen Öls mit einem Aufwand von 100 Milliarden US Dollar oder etwas mehr in Venezuela verflüssigt und bequem ins Land gebracht werden können. Am Faja de Orinoco lassen sich 1,2 Billionen Fässer ausbeuten. In Kanada ungleich mehr. Zusammen, so der Geophysiker, übersteigt die bisher bekannte Menge in Amerika das geschätzte noch verfügbare Fördervolumen des Mittleren Osten (Esso verkündet das "Öldorado 2003").

In der Muskeg River Mine im Norden Kanadas hat die Förderung bereits begonnen. Das Athabasca Oil Sands Project bietet den Investoren eine klare Perspektive. Zeitplan: Shell Canada.

Den US-Bürgern rechnet Manik Talwani vor, dass die Vereinigten Staaten jährlich 7 Milliarden Ölfässer benötigen und davon die Hälfte importieren müssen. Die Ressourcen in den USA belaufen sich auf 28 Milliarden Fässer und reichen deshalb nur für 4 Jahre. Sollte das Arctic National Wildlife Refuge erschlossen werden, könnten maximal noch 12 Milliarden Fässer hinzu gewonnen werden. "Selbst wenn alle Amerikaner auf den (hybriden) Toyota Prius umsteigen, reichen die heimischen Reserven nicht mehr lange", erklärt Manik Talwani.

Beide Vorstöße sind taktisch gut platziert. Bleibt doch von der Agenda des US-Präsidenten bisher noch eine Frage unbeantwortet: die Kernenergie. Georges W. Bush ließ keinen Zweifel daran, dass ihm dieses Thema wichtig ist. Der Beitrag von Deutch und Monitz dürfte den Weg und die Diskussionen vorbereiten. Schließlich geht es nach der Sommerpause des Parlaments um das längst überfällige Energiegesetz.

Deshalb fällt es schwer zu glauben, dass die Ausführungen von Manik Talwani rein zufällig in derselben Ausgabe der New York Times erscheinen. Da die meisten Regierungsmitglieder dem Ölgeschäft verbunden sind, könnten sie diesen Vorstoß benutzen, um bei den Beratungen zum Energiegesetz den Erdölgesellschaften zusätzliche Forschungsgelder und Entwicklungskosten zuzuschanzen. Ferner dürfte es ums politische Klima gehen. Der kanadische Premierminister Jean Chretien engagiert sich in Afghanistan, nicht aber in der Irakfrage. Auch hinsichtlich genveränderten Lebensmitteln opponiert Kanada dem amerikanischen Werben. "Washington müsste solide Handelsabkommen mit Venezuela und Kanada abschließen, um den langfristigen Zugang" zu den Quellen sicherzustellen, erklärt Manik Talwani.

Bei soviel taktischer Vorplanung überrascht, dass die Regierungen zum jüngsten Blackout nach mehr als 8 Stunden keinen gemeinsamen Lagebericht erstellen können. Nur die kanadischen Fachleute erklären, dass es 12-24 Stunden dauern wird bis die Stromversorgung wieder voll hergestellt. Das Ereignis habe zahlreiche Hochspannungsschalter "rausgeschmissen". Die müssen auf Beschädigung überprüft und in der richtigen Reihenfolge von Spezialisten per Hand eingeschaltet werden. Glücklich, wer einen benzinbetriebenen Generator im Haus hat.