Die Grande Nation strauchelt – und Macron ruft Franzosen zum Sparen auf

Seite 2: Rentensystem

Es geht um die Erneuerung und Harmonisierung der Rentensysteme, deren Defizit ein Problem ist, das seit Jahrzehnten ungelöst ist. Dabei betreffen die Hauptkontroversen 1) das Renteneintrittsalter, das die Regierung von 62 auf 64 bzw. 65 Jahre anheben will; 2) die Dauer der Einzahlungen; 3) die Berücksichtigung besonderer Berufshärten und ganz besonders 4) die 37 "Sonderregime".

In diesen sind vornehmlich Lehrer, Militär und Polizei sowie Beschäftigte bei der Bahn und den Pariser Verkehrsbetrieben mit insgesamt 4,5 Millionen Rentnern versichert. Gegenüber den 18 Millionen Pensionären des Allgemeinen Rentensystems genießen sie besondere Vorteile wie frühere Verrentung (mit 50 bzw. 52) und höhere Pensionen: Statt 50 Prozent der besten 25 Berufsjahre 75 Prozent der letzten sechs Arbeitsmonate.

Aus historischen Gründen widersetzen sich die Begünstigten der Angleichung bzw. Überführung in das Allgemeine System. Problem und Dilemma ist zudem, dass diese Beschäftigten gewerkschaftlich stark, vor allem in linken Gewerkschaften, organisiert sind und an vorderster Front in den meisten sozialen Kämpfen stehen. Mit ihren infrastrukturellen Schlüsselstellungen bei der Bahn, den Pariser Verkehrsbetrieben und Energieunternehmen können sie das Land paralysieren.

Wandel der sozial-politischen Verhältnisse

Während die soziale Ungleichheit zunimmt, die Aufstiegschancen schrumpfen, mehren die Eliten Reichtum und Einkommen. Dagegen erodieren die Mittelschichten, sind die sozialen Unterschichten fragmentiert, verarmt und geschwächt. Während Entpolitisierung, Parteiverdrossenheit und Extremismus wachsen, bilden sich neue sozial-politische Kollektive auf sozial-territorialer Basis: rural-peripher-metropolitan.

Zugleich ändert sich der sozial-politische Diskurs. Statt Klassen und Klassenkampf beherrschen Lobbyismus und Personalisierung die Politik, bestimmen Geschlechterverhältnisse, Identitäten und Opfermentalitäten die Medien. Schließlich erstarken Nationalismus und Rechtsradikalismus im Gefolge von Migration.

Die Mehrheit sieht ihre national-kulturelle Identität auch wegen einer wachsenden Politisierung von Muslimen bedroht. Dabei überschneiden sich kulturelle mit sozialterritorialen Dimensionen. Es sind die peri-urbanen banlieues, in denen sich die ethnisch-religiösen Minderheitenangehörigen mit verarmten "weißen" Franzosen drängen. Schlechte Anbindung an die Innenstädte, unzureichende Wohnverhältnisse und soziale Infrastruktur, erhöhte Kriminalität bei gleichzeitig gewaltbereiten Sicherheitskräften fördern Ghettoisierung und gesellschaftliche Segmentierung.

Radikalisierung gepaart mit islamischer Identitätsbildung und Ablehnung der Mehrheitsgesellschaft auf der einen, Vorurteile und Ängste auf der anderen, vertiefen sich. Die Politik verschärft die Spannungen unter Berufung auf die Grundprinzipien der Republik. Im Namen von Laizität und Meinungsfreiheit wird schlimmste Blasphemie geduldet, Frauen mit Kopftuch von Schulbesuch und öffentlichen Ämtern ausgeschlossen. Statt Toleranz und Miteinander zu fördern, degeneriert die Politik des Laizismus zum Kreuzzug.

Die "Gelbwesten" repräsentieren eine weitere Konfliktlinie. Monatelang demonstrierten sie parteiübergreifend gegen die sozialinstitutionelle und kommerzielle Auszehrung der Dörfer und Kleinstädte. Covid beendete vorerst die massiv von den Sicherheitskräften bekämpfte Bewegung. Doch die Ursachen der Bewegung ebenso wie ihre Forderungen nach mehr Demokratie bleiben ein schwelender Brandherd.

Die metropolitanen Zentren, Pole des Wachstums und sozial-kultureller Qualitätsinstitutionen, sind Heimstatt kosmopolitischer Mittelschichten und Eliten, Magneten für rurale und ausländische Migranten. Paris-Métropole mit 7,1 Millionen Einwohnern repräsentiert allein 30 Prozent des nationalen BIP.

Soziale Konflikte vorprogrammiert

Man erinnert sich: Anlass für den Aufstand der "Gelbwesten" war die Erhöhung der Benzinpreise. Heute reduzieren erneut drastisch inflationierte Energie- und Nahrungsmittelpreise Lebensstandard und Zukunftserwartungen und treiben die Menschen auf die Straße.

Den Anfang machten Ende September die Raffineriearbeiter. Ihr wochenlanger Streik führte angesichts eines Drittels (teilweise) geschlossener Tankstellen zu langen Autoschlagen. Trotz zwischenzeitlicher Tarifabschlüsse der sozialdemokratischen Mehrheitsgewerkschaften und Drohungen der Regierung streikten die kommunistischen Gewerkschaftsmitglieder weiter.

Mitte Oktober rief das Parteienbündnis NUPES, das parlamentarische Opposition und soziale Bewegung vereint, zu einem "Marsch gegen das teure Leben und die Untätigkeit bei Klimaschutz" in Paris auf. Analog zum Marsch der Sansculottes 1789 sollte er nach den Vorstellungen der linksradikalen LFI den Einstieg in eine soziale Revolution markieren – ein nicht von allen Partnern der Allianz geteilter Aufruf.

Wenige Tage später organisierten linke Gewerkschaften einen parteiunterstützten Generalstreik. Noch waren die Aktionen mit nach Schätzungen der Polizei 30.000 bzw. 110.000 Teilnehmern enttäuschend. Zugleich wurde deutlich: Es gibt keine gemeinsame Front. Konflikte um Führung, Aktionen und Kooperation mit Parteien spalten die Gewerkschaftsbewegung bis hin in die einzelne Gewerkschaftsföderation.

Widersprüche kennzeichnen auch die linke Parteienallianz sowie das Verhältnis Parteien und Gewerkschaftsbewegung. Doch wir stehen erst am Anfang. Frankreich geht auch mit Blick auf die um eine Mehrheit und ihr Überleben kämpfende Regierung turbulenten Zeiten entgegen.

Prof. Dr. John P. Neelsen, geb. 1943, ehemaliger Hochschullehrer, Institut für Soziologie, Universität Tübingen