Die Halbierung des Genesenen-Schutzes

Seite 2: 28 Tage später

Der offizielle Schutz der Genesenen erstreckt sich aber nicht einmal über drei Monate, denn "das Datum der Abnahme des positiven Tests muss mindestens 28 Tage zurückliegen" (allerdings galt diese Einschätzung schon vor der aktuellen Änderung).

Auf Nachfrage von Telepolis an das RKI, ob Menschen, die sich infiziert haben, nach dem Ende der Quarantäne, also sieben Tage nach der Infektion, bis zum 28 Tag, also drei Wochen lang gleichsam rechtlich als Ungeimpfte gelten, blieb bisher unbeantwortet.

Die Konsequenzen für die Betroffenen wären verheerend. In anderen Ländern wie beispielsweise Frankreich gilt der Genesenenstatus unmittelbar ab Ende der Quarantäne.

Geimpft und genesen

Abgerundet werden die zahlreichen Fragen rund um die neue Festlegung des RKI mit dem Hinweis auf die zahlreichen (vermutlich Millionen Menschen), die aktuell geimpft sind und sich mit Omikron infiziert haben. Obwohl die Erklärung des RKI wörtlich auf die Wahrscheinlichkeit der Reinfektion bei Ungeimpften abhebt, gilt die Schutzdauer von nun nur noch drei Monaten vermutlich auch für Geimpfte, die sich infiziert haben. Eine Nachfrage von Telepolis, die diesen Punkt zu klären versuchte, blieb bisher unbeantwortet.

Erstaunliche Wendung

Der Welt-Journalist Tim Röhn hat in einem lesenswerten Artikel ausführlich die Beschlussfindung des Bundesrats nachgezeichnet. Erstaunlich ist bereits die Ankündigung der Sitzung:

Eigentlich ließ die Aussage, die noch kurz vor dem Sitzungsstart am vergangenen Freitag auf der Internetseite des Bundesrats stand, keinen Interpretationsspielraum zu. Dort hieß es zum 1015. Zusammentreffen des Gremiums: "Änderungen gibt es auch beim Genesenennachweis. (…) Die Geltungsdauer soll im Zuge einer europäischen Vereinheitlichung geringfügig kürzer werden und statt sechs Monaten 180 Tage betragen."

Tim Röhn, Die Welt

Die Wendung ist offensichtlich und eine Reihe von Mitgliedern des Bundesrats, die das Gesetzesvorhaben einstimmig angenommen haben, zeigen sich nach der Aktualisierung seitens des RKI mehr als irritiert.

Bindende Verkündung

Die aktuelle Entscheidung des RKI ist aufgrund einer Verkündung des Bundesjustizministeriums bindend. Das "Netzwerk kritischer Richter und Staatsanwälte" hat hierzu eine ausführliche Einschätzung der rechtlichen Bedenken verfasst:

Schon bisher war es rechtlich äußerst zweifelhaft, dass solche Regelungen, die eine extrem weitreichende Auswirkung auf die Grundrechtsausübung haben, nur in einer Verordnung der Regierung, statt in einem Parlamentsgesetz getroffen werden. Im Parlament gibt es mehrere Lesungen eines Gesetzes, Ausschussberatungen, Anhörungen und vieles mehr, so dass wichtige Regelungen öffentlich diskutiert werden (auch wenn die vergangenen Monate gezeigt haben, dass man selbst wichtige Parlamentsgesetze in einem undemokratischen "Schweinsgalopp" beschließen kann).

Eine Verordnung kann die Regierung demgegenüber in den meisten Fällen "still und leise" ändern. (…) So kann die Bundesregierung über ihre Weisungsmöglichkeit an das RKI die Basis für die Grundrechtsentzüge definieren, ohne diese nach Außen verantworten zu müssen. (…)

Auch in Bezug auf "geimpfte" Personen, d.h. den künftigen Verlust des Impfschutzes, die sog. Auffrischimpfungen und Impfintervalle, wurde übrigens nun das gleiche Regelungssystem gewählt. Nach dem neuen § 2 Nummer 3 COVID-19-Schutzmaßnahmen-Ausnahmenverordnung darf nun das Paul-Ehrlich-Institut im Benehmen mit dem RKI diese Regelungen bezüglich der Impfung treffen. Auch hierfür wird also nicht der Gesetzgeber, nicht die Regierung, sondern wieder eine Internetseite zuständig sein.

Netzwerk kritischer Richter und Staatsanwälte

Aus dem ungewöhnlichen Prozedere erwachsen auch weitere grundsätzliche Fragen zur Demokratie. Benjamin Stibi weist daher darauf hin:

Wie die harsche Kritik an Lauterbach aus der Fachwelt zeigt, gibt es nämlich nicht "die" Wissenschaft. Außerdem gilt es neben dem medizinischen Aspekt auch rechtliche oder wirtschaftliche Folgen zu berücksichtigen.

Wenn der Gesundheitsminister im Bundesrat das Abschieben seiner Verantwortung auf RKI und PEI als Ausdruck puristischer Wissenschaft ohne Einmischung der Politik schönredet, scheint er nicht verstanden zu haben: Wir leben in einer Demokratie, nicht in einer Expertokratie.

Benjamin Stibi, Die Welt

Juristen erheben Einspruch

Auch die renommierte Fachzeitschrift Neue Juristische Wochenzeitschrift (NJW) zeigt sich in ihrem aktuellen Newsletter äußerst kritisch:

Diese Regelungstechnik macht die Corona-Vorgaben, die ohnehin schon als sehr verworren und schwer verständlich gelten, noch unübersichtlicher. Außerdem weist die Privatdozentin Dr. Andrea Kießling von der Universität Bochum, (...) darauf hin, dass die Parlamente in Bund und Ländern zu Recht eine stärkere Beteiligung an den Corona-Maßnahmen gefordert haben. Auch deshalb sei in § 28c IfSG festgeschrieben worden, dass die Bundesregierung nur mit Zustimmung von Bundestag und Bundesrat per Rechtsverordnung Regelungen für Geimpfte, Getestete und Genesene erlassen kann. Wenn eine solche Verordnung, wie jetzt die SchAusnahmV, durch dynamische Verweise Regelungskompetenzen auf Behörden wie das RKI und PEI verlagere, werde die parlamentarische Absicherung begrenzt, so Kießling.

Newsletter, Neue Juristische Wochenzeitschrift (NJW)

Das Netzwerk kritischer Richter und Staatsanwälte fordert aufgrund der aktuellen Lage:

"Bei Rechtsverordnungen haben alle Gerichte eine eigene Verwerfungskompetenz und -pflicht, wenn sie diese für verfassungswidrig halten. Dies ist anders als bei formellen Gesetzen, für deren Prüfung allein die Verfassungsgerichte zuständig sind. Durch die hier besprochene Verordnungsänderung wird der Inhalt von Vorschriften, die extrem bedeutsam sind für die Ausübung von Grundrechten und auch für ihre Beschränkung bzw. ihren Entzug, an die genannten Einrichtungen delegiert.

Es wird zu prüfen sein, ob dies noch mit Verfassungsrecht vereinbar ist. Hierzu ist jede Richterin und jeder Richter in Deutschland berufen. Auch die Beamtinnen und Beamten sollten die auf der Hand liegende Frage der Verfassungsmäßigkeit im Rahmen ihrer Remonstrationspflicht prüfen. Es ist nicht auszuschließen, dass sich auf diese Normen keinerlei Bescheide, Bußgeldbescheide oder Urteile mehr stützen lassen."