Die Kieselalge und der Berg
Neue wissenschaftliche Studien deuten auf einen dramatischen Anstieg des Meeresspiegels in diesem Jahrhundert hin. Der Klimakollaps kann nur jenseits des Kapitalismus aufgehalten werden
Wie kommen die Meeresorganismen in die Gebirgskette? Es ist eine dieser sehr fachspezifisch anmutenden wissenschaftlichen Streitfragen, deren Klärung weitreichende Konsequenzen für das Verständnis des Klimawandels hat, die jüngst weitgehend gelöst werden konnte.
1984 entdeckte eine wissenschaftliche Expedition in das Transantarktische Gebirge, auf einer Höhe von rund zwei Kilometern über dem Meeresspiegel, Versteinerungen winziger Meeresorganismen, sogenannter Kieselalgen oder Diatomeen. Seitdem tobte in der Wissenschaft ein heftiger Streit darüber, wie die Diatomeen in einen der ältesten Gebirgszüge der Antarktis gelangt sind.
Der entscheidende Durchbruch
Im Laufe der vergangenen Dekaden bildeten sich "zwei große Lager aus", die einander verbissen bekämpften, erinnerte sich der Antarktis-Experte Reed Scherer gegenüber der Washington Post:
Es ging dabei wirklich gemein zu.
Die Anhängerschaft eines "dynamischen" Erklärungsansatzes ging davon aus, dass im erdgeschichtlichen Zeitalter des Pliozän, also vor 5,3 bis 2,5 Millionen Jahren, die gigantische ostantarktische Eisdecke einen dramatischen Kollaps erfahren habe. Die daraufhin einsetzende Anhebung des antarktischen Bodens und nachfolgende Gletscherbildung habe die Kieselalgen in die luftigen Höhen der Transantarktische Gebirgskette verschlagen.
Die Befürworter einer konkurrierenden, die Stabilität des antarktischen Klimasystems betonenden Theorie argumentierten hingegen, dass die ostantarktische Eisdecke im Pliozän stabil blieb, und sehr starke Winde die Diatomeen in das Gebirge trugen. Problematisch an dieser Hypothese war der Umstand, dass die Winde sehr stark sein müssten, um die feuchten Kieselalgen so weit hinaufzuwehen.
Neueste Forschungsergebnisse, die auf bislang umfassendsten Computersimulationen beruhen, haben Aspekte beider Theorien, der "dynamischen" wie der "stabilen", zur Lösung dieses wissenschaftlichen Rätsels aufgenommen.Demnach ist im Pliozän tatsächlich ein großer Teil des ostantarktischen Eises im sogenannten Aurora-Subglazialbecken abgeschmolzen.
Hiernach wurden die sich dort bildende Meeresbuchten von den Kieselalgen bevölkert, bis sich nach Tausenden von Jahren der Meeresboden so weit anhob (Das Gewicht der Eismassen war verschwunden), dass stellenweise Archipele entstanden. Die Überreste der toten, ausgetrockneten Kieselalgen konnten dann von den Winden bis ins transantarktische Gebirge getragen werden.
Die von einem Wissenschaftlerteam der University of Massachusetts und der Pennsylvania State University ausgearbeitete Studie wird in der Fachwelt als entscheidender Durchbruch bei der Lösung dieser alten Streitfrage betrachtet, da hier erstmals eine kohärente, größtenteils widerspruchsfreie Theorie vorgelegt werden konnte.
Diese Forschungsergebnisse unterstrichen, "wie sehr die paleoklimatischen Modelle in der vergangenen Dekade verbessert werden konnten", freute sich die italienische Arktisforscherin Simone Galeotti gegenüber der Washington Post. Auch David Harwood, einer der prominentesten Vertreter des dynamischen Erklärungsansatzes, sah den alten wissenschaftlichen Disput nun "nahe an der Lösung".
Klimavergangenheit rückt Klimazukunft in ein düsteres Licht
Und dennoch ist die Freude über den wissenschaftlichen Fortschritt nicht ungetrübt, da die neuen Erkenntnisse über die Klimavergangenheit die Klimazukunft in ein düsteres Licht tauchen. Einer der Autoren der Studie, Richard Alley, warnte davor, dass die Forschungserlebnisse eine stärkere klimatische Sensibilität der ostantarktischen Eisdecke nahelegen, als von der Wissenschaft ursprünglich angenommen. Falls der menschengemachte Klimawandel anhalte, drohe "ein großer und wahrscheinlich schneller Anstieg des Meeresspiegels."
Entscheidend für diese düstere Prognose ist der Umstand, dass dieses Forschungsvorhaben sich mit klimatischen Vorgängen im eingangs erwähnten erdgeschichtlichen Zeitalter des Pliozän befasste. Diese erdgeschichtliche Warmzeit des Pliozän ist deswegen ein guter Indikator des kommenden Klimawandels, weil damals die CO2-Konzentration in der Atmosphäre ähnlich dem gegenwärtigen, jüngst durch den Klimawandel verursachten Zustand war: 400 ppm (Parts per Million).
Im Pliozän herrschten zwar global um ein bis zwei Grad höhere Temperaturen als heute, doch scheint der rasante aktuelle Temperaturanstieg auch in diese Richtung zu deuten. Der Anstieg der CO2-Konzentration auf 400 ppm scheint mit kurzer klimatischer Verzögerung auch die entsprechenden Temperaturrekorde zur Folge zu haben.
Damit scheint eine Grundannahme der häufigsten Klimaprognosen hinfällig. Diese gingen davon aus, dass der Klimawandel die Eismassen in der Arktis und in Grönland hart treffen werde. Auch die Westarktis wird in den meisten Prognosen als anfällig für die Klimaerwärmung betrachtet. Doch die mit Abstand größten Ansammlungen von Eis in der Ostantarkis wurden bislang als klimatisch stabil eingestuft. Wieder mal scheint die Wissenschaft die Dynamik des Klimawandels sträflich unterschätzt zu haben.
Die Lösung des Rätsels um die arktischen Kieselalgen lasse "große Befürchtungen über die Zukunft" aufkommen, bemerkte die Washington Post. Sollte der Klimawandel die Erde tatsächlich in klimatische Verhältnisse führen, die denen im Pliozän mit seinem "radikal höheren" Meeresspiegel ähnelten, dann würden "merkwürdig platzierte Diatomeen die geringste unsere Sorgen" sein. Ein radikal höherer Meeresspiegel meint: 25 Meter über dem heutigen.
Bereits für die nähere klimatische Zukunft, für diese kommenden Dekaden des 21. Jahrhunderts, haben diese neuen Erkenntnisse zu einer drastischen Revision Prognosen des kommenden Meeresanstiegs geführt. Inzwischen geht die Klimawissenschaft davon aus, dass der Meeresspiegel in diesem Jahrhundert um zwei Meter ansteigen wird. Damit wurden die ursprünglichen Projektionen "nahezu verdoppelt", wie die Washington Post meldete. Die Immobilienpreise in New York, Hamburg und London dürften somit bald wieder sinken.
Der wichtigste Faktor, der zu dieser drastischen Revision der Klimaprognosen beitrug, sind eben die neuen Erkenntnisse über den antarktischen Eispanzer. Sollte das hohe Niveau der CO2-Emmissionen beibehalten werden, drohe ein "monumentaler und irreversibler" Anstieg des Meeresspiegels. Die Schmelzvorgänge würden selbstverständlich nicht bei den zwei Metern in diesem Jahrhundert haltmachen.
Bis zum Jahr 2500 könnte sich der Meeresanstieg auf 15 Meter summieren - allein aufgrund der Antarktischen Eisschmelze. Frühere Prognosen haben die Antarktischen Eismassen für größtenteils klimabeständig erklärt. Man ging bis vor Kurzem in der Klimawissenschaft davon aus, dass der Meeresanstieg größtenteils durch abschmelzende Gletscher und die Expansion des erwärmten Wassers ausgelöst würde, während die Eismassen Antarktikas und auch Grönlands kaum eine Rolle bei den Prognosen spielten.