Die Kommune war vor allem gestern
Das Jahr 2020 und die Utopie IV
Das Politische trennt sich unter einem bestimmten Blickwinkel gesehen in zwei Bereiche: Hier das Individuelle, dort das Kollektiv. Sie entsprechen der Tendenz zur gewollten Ungleichheit im Gegensatz zur gewollten Gleichheit der Menschen und stehen grob für das politische Label von "rechts" und "links". In dieser Hinsicht sind die vorzufindenden utopischen Entwürfe eher dem Kollektiv verpflichtet, was auch nicht wundert, liest man sie als Kritik an der zeitgenössischen Gesellschaft, in der sie entstanden. So wird auch die Frage nach einer Utopie des Wohnens oft mit kollektiven Lösungen beantwortet. Unsere Gegenwart 2020 freilich steht dem diametral entgegen: Das Single-Wohnen ist der Trend der Zeit.
Teil I: Was von der Zukunft der Vergangenheit geblieben ist
Teil II: Sex und Utopie
Teil III: Essen als die neue Religion
Bei dem Frühsozialisten Charles Fourier (1808) spielen Architektur und Städtebau eine zentrale Rolle, da der bebauten Umwelt eine pädagogische und symbolische Funktion zugeschrieben wurde. Die Konzeption, die An- und Zuordnung der Gebäude standen als materielles Substrat für die Ideen kollektiven Wohnens und Arbeitens. Fourier empfand die mittelalterlich geprägten Städte seiner Zeit mit ihren verwinkelten Gassen und unhygienischen Zuständen als "Chaos". Er favorisierte die Großwohnanlage - Phalanstère genannt - die mit ihrem zentralen Mittelbau und den beiden symmetrischen Flügelannexen sich an Vorbilder des Feudalismus - etwa des Schlosses Versailles - orientiert. Die Phalanstère mit Wohnungen für etwa 1600 Menschen, mit Versammlungsräumen, Höfen, Sälen und Kabinetten stellte sich Fourier als "eine kleine Stadt vor", die durch überdachte Säulengänge und Galerien miteinander verbunden waren.
In der Alternativbewegung der 1968er Jahre wiederum bedeutete Wohnen vor allen ein Leben weit entfernt von den Sozialwohnungsbauten des Sozialstaates. Statt der genormten Zimmergrößen und vorgegebenen Funktion bevorzugten die Alternativen die leer gewordenen Altbauwohnungen der Innenstädte und gründeten Kommunen oder mieteten sich in Bauernhöfen auf dem flachen Land ein. Im Vordergrund standen dabei das kollektive Zusammenleben und die gemeinschaftliche Nutzung von Räumen. Eine besondere Wohnform bildet dabei das Wohnen in besetzten Häusern, die "Häuserkämpfe" in Frankfurter, Hamburger und Berliner Altbauvierteln gehörten zum politischen Alltag der 1970er Jahre. Das Wohnen im Kollektiv ist auch Ausdruck eines politischen Selbstverständnisses, das die Paarbeziehung und die Kleinfamilie überwinden will.
Auch Annares ist ein Planet der Kollektivräume. Er entstammt dem utopischen Roman "Planet der Habenichtse" aus dem Jahr 1974 der amerikanischen Schriftstellerin Ursula Le Guin. Das Wohnen auf diesem "Planet der Habenichtse" entspricht den Strukturen dieser Gesellschaft in Hinsicht auf Eigentumsverhältnisse, Beziehung der Geschlechter und Ehe: Es ist kollektiv in Räumen organisiert, die allen zur Verfügung stehen und sich funktional nach der Zahl der Bewohner unterscheiden. Shevek, die Hauptfigur des Romans, ist es gewohnt, seit seiner Kindheit in Schlafsälen mit vier bis zehn Betten zu schlafen. Als Kind alleine in einem Raum zu schlafen hieß, man war für die anderen unerträglich geworden, Vereinzelung als Zeichen der Schande.
Für die Erwachsenen ist die Nutzung eines Einzelzimmers gleichbedeutend mit Sexualität: Dorthin zieht man sich für eine Nacht oder länger mit seinem Partner für den Geschlechtsverkehr zurück; lebt man zu zweit in einer Paarbeziehung, nutzt man ein Doppelzimmer. Da die Kinder in eigenen Kinderhäusern aufwachsen, gibt es keine Familienräume. Jenseits des sexuellen Kontaktes gibt es keinen Grund, nicht in einem der Schlafsäle zu schlafen, Privatheit hat keine Funktion, ist "Verschwendung". Jeder Ort auf Anarres verfügt über derartige öffentliche Wohn- oder Schlafhäuser, für den Bau von privaten Häusern und Wohnungen und ihre Instandhaltung, Heizung und Stromversorgung gibt es innerhalb der ökonomischen Strukturen keinen Platz. Doch wer will, ist frei, sich ein eigenes Haus zu bauen. Es gibt eine ganze Reihe derartiger Einzelgänger am Rande der alten Siedlungen.
In Ökotopia, dem Land der Wohngemeinschaften in dem gleichnamigen Roman von Ernest Callenbach (1975) haben sich die großen Städte wie San Francisco grundlegend gewandelt, es herrscht eine ländliche Atmosphäre. Statt Autos beherrschen Fußgänger, Radfahrer und Busse das Stadtbild. Die Straßen sind voll von Bäumen und Blumen, dazwischen fließen kleine Bäche. Die Einwohner bevölkern die Innenstadt und wohnen in den Hochhäusern, die früher als Bürogebäude genutzt wurden.
Die eintönigen Vorort-Viertel mit den "billigen Reihenhäusern" wurden hingegen abgerissen. Dieses Schicksal wartet auch auf die kleineren Städte, nur ein paar Viertel sollen als Freiluftmuseum erhalten bleiben. Eine der neuen Kleinstädte ist "Alviso" am Ende der San Franciso Bay. Ihr Mittelpunkt ist eine Fabrik, die kleine elektrische Transporter herstellt. Drumherum sind Restaurants und kleine Läden sowie die Wohnbauten angesiedelt. Diese sind drei bis vier Stockwerke hoch und umschließen einen Innenhof, das Baumaterial ist fast ausschließlich Holz. Die Wohnungen sind groß, um den neuen "Familien", den Wohngemeinschaften, Platz zu bieten und verfügen über zehn bis 15 Räume.
2020: Betrachtet man die gegenwärtige Entwicklung des Wohnens, so ist kein flächendeckender Trend zur kollektiven Wohnform zu sehen, sondern im Gegenteil. In den deutschen Großstädten wohnen immer mehr Menschen alleine in einer Wohnung. So machten in München diese Ein-Personen-Haushalte Ende 2015 mehr als die Hälfte aller Privathaushalte aus: 54,8 Prozent. Etwa jeder dritte Münchner lebt demnach allein in seiner Wohnung. Und mit diesem hohen Anteil an Ein-Personen-Haushalten liegt München im bundesdeutschen Trend, denn 2015 bestanden 41,5 Prozent aller Haushalte in Deutschland aus einer Person. Das Statistische Bundesamt geht davon aus, dass der Anteil dieser Ein-Personen-Haushalte weiter steigen wird.
Die Artikelserie basiert auf dem neuesten Buch von Rudolf Stumberger: Utopie konkret - und was daraus geworden ist. Alibri-Verlag 2019. Darin werden die Zukunftsvorstellungen seit Thomas Morus' "Utopia" von 1516 auf konkrete Aussagen zu Lebensbereichen wie Sexualität oder Wohnen hin untersucht und mit der heutigen Realität verglichen.