Essen als die neue Religion

Das Jahr 2020 und die Utopie III

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Wie anderen Bereichen des Alltagslebens wird auch der Ernährung, dem Essen, in utopischen Entwürfen Beachtung gezollt. Dabei stehen zunächst die sozialen Beziehungen und der Einfluss auf die Gesundheit eine Rolle, um sich dann um 1900 vor allem der Effizienz der Essenszubereitung und der damit einhergehenden Befreiung der Frau von Küche und Herd zu widmen. Dass das Essen zu einer derart symbolhaften Handlung wird wie in der Gegenwart zu beobachten, hat allerdings keine Utopie vorausgesehen.

Im "Sonnenstaat" von Campanella (1602) werden die Mahlzeiten gemeinsam eingenommen, wobei die Frauen auf der einen und die Männer auf der anderen Seite der Tische sitzen. Das Essen verläuft schweigsam, während ein junger Mann aus einem Buch vorliest. An Festtagen gibt es Gesang. Auf dem Speiseplan stehen Fleisch, Butter, Gemüse, Datteln. Ursprünglich wurde auch diskutiert, keine Tiere zu töten, was aber nicht verwirklicht wurde, da doch auch die Pflanzen ein Leben haben und die Menschen nicht verhungern wollten. Die Nahrung wird alle drei Tage gewechselt: Erst gibt es Fleisch, dann Fisch und dann Gemüse, über allem wacht ein Oberarzt.

Die gesunde Ernährung lässt die Bürger des Sonnenstaates durchschnittlich einhundert Jahre alt werden, manche auch zweihundert. Wein darf nur trinken, wer älter als 19 Jahre ist, Frauen versetzen ihn mit Wasser. Ab 50 Jahren trinken ihn die Männer unverdünnt.

In den utopisch-religiösen Kommunen des 19. Jahrhunderts wie in Amana wird kollektiv gegessen, das in Iowa siedelnde Kollektiv richtete Kollektivküchen ein. Jedes der sieben Dörfer verfügte über mehrere dieser Küchen, die von einer "Küchenbaas" geleitet wurde, hier putzten die Frauen das Gemüse, kochten die Speisen und machten danach den Abwasch. Jede Küche versorgte an die zwanzig bis 40 Kommunemitglieder jeden Tag mit mehreren Mahlzeiten.

"Die "Ruedy-Küche" in Middle Amana war eine von neun Küchen im Dorf. Auf einem Speiseplan ist nachzulesen, was auf den Tisch kam: Zum Frühstück um sechs Uhr morgens gab es zum Beispiel Bratkartoffeln, Brot, Butter und Kaffee. Zum "Lunch" um 8.30 Uhr Käse und Brot. Mittag (11.30 Uhr) wurde Erbsensuppe und Rindfleisch mit Karotten und Kartoffeln serviert. Nachmittags um 14.30 Uhr gab es noch einmal eine Brotzeit mit Brot und Kaffee, zum Abendessen (18.00 Uhr) schließlich Schinken mit gekochten Kartoffeln und Endiviensalat. Als sich die Kommune 1932 auflöste und die Familien begannen, ihre eigenen Küchen zu betreiben und individuell zu kochen, mussten die auf Großküchen ausgelegten Rezepte auf die Maße für Kleinfamilien umgeschrieben werden. Aus einem Scheffel Salz wurde dann eine Prise.

Von der Privat- zur Kollektivküche

August Bebel äußert sich in "Die Frau und der Sozialismus" (1879) zur "kommunistischen Küche" und der Ernährung widmet er eigene Kapitel. Mit der privaten Küche kann Bebel dabei nicht viel anfangen:

Die Privatküche ist für Millionen Frauen eine der anstrengendsten, zeitraubendsten und verschwenderischsten Einrichtungen, bei der ihnen Gesundheit und gute Laune abhanden kommt und die ein Gegenstand der täglichen Sorge ist.

August Bebel

Verständlich wird diese Einschätzung aus dem Jahre 1909, wenn man sich die damalige Küchensituation vergegenwärtigt: Oft noch ohne fließend Wasser, mit Kohle- oder Holzheizung, ohne Strom, ohne Gas, kaum vorgefertigten Lebensmitteln, keinen Konserven, keinen Tiefkühlprodukten, etc. So ist es kein Wunder, wenn Bebel meint: "Die Beseitigung der Privatküche wird für ungezählte Frauen eine Erlösung sein."

Die Erlösung sieht er in der kommunistischen Großküche, die mit einer Vielzahl an elektrischen Geräten ausgestattet - vom Kartoffelschäler bis zum Brotschneideapparat - es einer verhältnismäßig kleinen Zahl an Personen erlaubt, Hunderte von Tischgästen zu bekochen. Dabei soll die Nahrungszubereitung in diesen "Zentralnahrungsbereitungsanstalten" ebenso wissenschaftlich betrieben werden wie andere menschliche Tätigkeiten, die Chemie werde in Zukunft für verbesserte Nahrungsmittel sorgen.

Die Kollektivküche ist ein Bestandteil im utopischen Arsenal, heute aber ist eher gegenläufige Entwicklung zur Kollektivküche zu erkennen: Das individualisierte Kochen als Hobby und Leidenschaft auch von Männern. Zwar nimmt die Zahl der am heimischen Herd kochenden Menschen ab, dafür nimmt aber der Aufwand zu. Kochbücher und Kochshows im Fernsehen erleben zeitgenössisch einen wahren Boom, die zubereiteten Gerichte werden immer raffinierter und ausgefallener.

Gleichzeitig wird das Kochen in privatwirtschaftliche Unternehmen ausgelagert, der Pizza-Service gehört mittlerweile zum Ernährungs-Alltag, ähnlich wie die Lieferung von Lebensmitteln durch Kurierdienste und die Herstellung von Fertig- und Halbfertigprodukten.

Und Essen ist nicht gleich Essen. Sondern mittlerweile verstärkt ein Mittel zur Abgrenzung von anderen und ein Baustein der eigenen Identität wie auch ökologisch-politisches Manifest. Zum Beispiel durch vegane Ernährung.

Geht es in den utopischen Ansätzen oft darum, die Menschen von der Mühsal und dem Zeitaufwand für die Zubereitung der Ernährung zu befreien und wird dieser eher eine marginale Rolle zugewiesen, so nimmt die Ernährung in unserer zeitgenössischen Gesellschaft einen zunehmend größeren Stellenwert ein. Verbunden mit der Klimafrage wird Essen zu einem politischen Statement, zum Beispiel in "Lebensmittelrettungsorganisationen" wie "Foodsharing", "Etepetete" oder beim sogenannten "Containern" (abgelaufenes Essen aus den Mülleimern sammeln). Diese Dimension beim Thema Nahrung wurde in keinem utopischen Entwurf vorhergesehen.

Die Artikelserie basiert auf dem neuesten Buch von Rudolf Stumberger: Utopie konkret - und was daraus geworden ist. Alibri-Verlag 2019. Darin werden die Zukunftsvorstellungen seit Thomas Morus' "Utopia" von 1516 auf konkrete Aussagen zu Lebensbereichen wie Sexualität oder Wohnen hin untersucht und mit der heutigen Realität verglichen.

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