Witzig: Mit 45 in die Rente
Das Jahr 2020 und die Utopie V
Es gibt einen roten Faden, der sich quer durch die utopischen Entwürfe der Vergangenheit zieht: Die Lebensarbeitszeit der Menschen soll sich in Zukunft verringern. Diese Zeit nach der Pflicht der Arbeit beginnt relativ früh, um sich danach dann der Muße und der Freizeit hingeben zu können. Sie steht für den Menschheitstraum, endlich vom Reich des Notwendigen erlöst zu werden. Heute allerdings ist aus dem Traum eher ein Trauma geworden: Wir sollen doch bitte bis zum Alter von 70 Jahren arbeiten, so Forderungen aus der Wirtschaft. Selten klaffen Utopie und Realität so auseinander wie beim Thema Lebensarbeitszeit.
Teil I: Was von der Zukunft der Vergangenheit geblieben ist
Teil II: Sex und Utopie
Teil III: Essen als die neue Religion
Teil IV: Die Kommune war vor allem gestern
Dass der Mensch sein Brot im Schweiße seines Angesichts verdienen soll, nachdem er aus dem Paradies vertrieben wurde, diese grundlegende existenzielle Bedienung ist eine wohl nie versiegende Quelle für utopische Ideen, vor allem wenn die gesellschaftliche Ordnung so ist, dass manche über sehr viel Brot ohne Arbeit verfügen und die anderen sehr viel Arbeit für wenig Brot verrichten. Wie sahen die dementsprechenden utopischen Blaupausen aus?
In "Utopia" (einem literarischen Werk von 1516) üben alle Männer und Frauen ein Gewerbe gemeinsam aus: Die Landwirtschaft. Daneben erlernt ein jeder noch ein Gewerbe wie die Tuchmacherei, das Leinenweberhandwerk, das Handwerk des Maurers, Schmieds, Schlosser oder Zimmermanns.
Erlernt wird in der Regel der Beruf des Vaters. Die Arbeitszeit in Utopia beträgt sechs Stunden: Drei am Vormittag und drei am Nachmittag. Die Wirtschaftsverfassung in Utopia hat nach Befriedigung der notwendigen Bedürfnisse vor allem ein Ziel vor Augen: "für alle Bürger möglichst viel Zeit frei zu machen von der Knechtschaft des Leibes für die freie Pflege geistiger Bedürfnisse."
Bei Bellamy (sein utopischer Roman aus dem Jahre 1888 hieß "Ein Rückblick aus dem Jahre 2000) und seiner utopischen Gesellschaft des Jahres 2000 wird die Wirtschaft durch eine Arbeitsarmee in Gang gehalten, es herrscht Arbeitspflicht für alle. Sie dauert 24 Jahre, beginnt mit dem 21. Lebensjahr und endet im Alter von 45 Jahren. Danach ist jeder Bürger von der Arbeit enthoben.
Auf dem "Roten Stern" (ein technizistischer utopischer Roman von 1908) gibt es keine Pflicht zur Arbeit, sie wird freiwillig geleistet. Bei manchem Marsianer wird sie gar zur Leidenschaft, die gebremst werden muss, zum Luxus: "Selbstverständlich verliere ich niemals jene Genossen aus dem Auge, die sich hemmungslos der gleichen Arbeit hingeben", so ein Techniker in einer Fabrik. Die längste Arbeitszeit beträgt sechs Stunden, doch die meisten arbeiten zwei Stunden täglich. Dabei können die Arbeiter zwischen verschiedenen Tätigkeiten wechseln. Wo gerade Arbeitskräfte benötigt werden, berechnet stündlich ein zentraler statistischer Apparat.
Eine interessante Besonderheit ist die Regelung der Lebensarbeitszeit im israelischen Kibbuz, auch ein Entwurf alternativen Lebens. In dieser realisierten Utopie gibt es keinerlei Altersgrenzen für Arbeit, stattdessen aber eine altersabhängige Reduzierung der täglichen Arbeitszeit. Sie beginnt bei Frauen mit 45 und bei Männern mit 50 Jahren und umfasst alle fünf Jahre eine Arbeitsstunde pro Tag. Männer erreichen so mit 70 Jahren eine tägliche Arbeitszeit von vier Stunden. Dazu werden entsprechen altersgerechte Arbeitsplätze eingerichtet.
Im "Morgen" (ein utopischer Roman des DDR-Dissidenten Robert Havemann von 1980) ist die Produktion aller für das Leben notwendiger Güter einschließlich der Lebensmittel vollständig automatisiert. Produziert wird zum Beispiel in riesigen unterirdischen Fabriken wie in "Slavonice", die eine "Gesamtfläche von über 25 Quadratkilometern" aufweisen. Für diese Produktion ist "nur noch ein winziger Bruchteil der verfügbaren Arbeitskräfte erforderlich". Berufe im herkömmlichen Sinne gibt es nicht mehr, damit auch keinen "Berufskrüppel", der sein "ganzes Leben lang nur zu einer Art von Tätigkeit befähigt" wäre. Ganz im Sinne Marx’ gibt es keine Maler mehr, aber Menschen die malen. Niemand muss arbeiten, es besteht kein Zwang zur Arbeit. Das geringste Problem ist die Aufteilung der noch notwendigen Arbeit, das größere die Nutzung der so gewonnen Freizeit: Sie wird durch kulturelles, wissenschaftliches und künstlerisches Schaffen gefüllt. Unter diesen Bedingungen existiert kein Lohn.
Diese Verringerung der Arbeitszeit wird unter anderem möglich, weil in der Utopie auf die Produktion von unnötigen Waren, die nur dem Tauschwert dienen, verzichtet wird. Produziert werden also nur noch Gebrauchswerte. Zum anderen fallen all die "parasitären" (Charles Fourier) Berufe und Beschäftigungen weg, zum Beispiel die Zwischenhändler. Schließlich soll die Produktion rational und effektiv gestaltet und so die Produktivität erhöht werden. All diese Maßnahmen zielen darauf ab, die notwendige Arbeit so zu verteilen, dass für den einzelnen sich die Arbeitszeit erheblich reduziert.
2020. Das Fazit des Vergleichs der utopischen Entwürfe mit der heutigen Realität ist: Bis zum Ende des 20. Jahrhunderts folgte die sozialpolitische Entwicklung dem utopischen Impetus der Verringerung der Arbeitszeit. Doch dann kam der soziale Rollback und der Rück- und Umbau des Sozialstaates: Seit Mitte der 1990er-Jahre haben die Gewerkschaften die Gestaltungsmacht über die Zeitfrage gesellschaftlich, vor allem aber in den Betrieben verloren. Dies ist Ausdruck der Defensive, in die die Gewerkschaften im Zuge der neoliberalen Hegemonie geraten sind.
Generell lässt sich konstatieren, dass einer der Grundpfeiler utopischen Denkens - die deutliche Verringerung von Arbeitszeit - nur sehr begrenzt realisiert wurde. Schließlich ist in neoliberalen Zeiten auch ein Rollback der Lebensarbeitszeit festzustellen, das Rentenalter wird politisch gewollt angehoben, was für viele die faktische Kürzung der Rente bedeutet.
Die Artikelserie basiert auf dem neuesten Buch von Rudolf Stumberger: Utopie konkret - und was daraus geworden ist. Alibri-Verlag 2019. Darin werden die Zukunftsvorstellungen seit Thomas Morus' "Utopia" von 1516 auf konkrete Aussagen zu Lebensbereichen wie Sexualität oder Wohnen hin untersucht und mit der heutigen Realität verglichen.