Die Konformitätspolitik - Strategien zur Bildung des sozialen Zusammenhangs
Die Geschichte des globalen Gehirns IX
Warum nenne ich das erste Prinzip eines komplexen adaptiven Systems den "Konformitätsverstärker", wandte ein wohlmeinender Kollege ein: "Klingt das nicht nach einem Polizeistaat?" Ja, das stimmt. Wenn Konformitätsverstärker Wahrnehmung, Verhalten und Erscheinungsweise in eine gemeinsame Form pressen, dann kann das viel brutaler sein, als wir es uns vielleicht vorstellen. Und sie beginnen in einem bestürzend frühen Alter ihre Arbeit auszuführen.
Biologie, Evolution und das globale Gehirn - I
Bakterienkolonien und kollektives Gehirn - II
Vernetzung im "finsteren Mittelalter" der Paläontologie - III
Das embryonale Mem - IV
Von sozialen Synapsen zu sozialen Nervensträngen: Komplexe, adaptive Systeme im Jurassic-Zeitalter - V
Die Säugetiere und der Fortschritt des Geistes - VI
Werkzeuge der Wahrnehmung - Die Konstruktion der Wirklichkeit VII
Die Wirklichkeit ist eine gemeinsame Halluzination VIII
Jesus Christus, William Wordsworth und die gegenwärtige Gruppe NEW AGE TOUCH The Future Movement aus Kalifornien haben Kinder als Unschuldsengel beschrieben. Wenn das zutrifft, dann ist Unschuld mit Wildheit gepaart. In den frühen 60er Jahren beobachtete Eibl-Eibesfeldt "Kleinkinder, die sich schlagen, mit den Füßen stoßen, beißen und bespucken", unabhängig davon, welche Kultur er untersuchte. Es ist unwahrscheinlich, daß diese Neuankömmlinge in unserer Welt ihre Rüdheit von den Eltern oder von Fernsehfilmen gelernt hatten, die Gewalt zeigen. In vielen der Gesellschaften, die Eibl-Eibesfeldt untersuchte, war Fernsehen bestenfalls ein ferner Traum. In anderen versuchten Eltern auf Teufel komm' raus die Ausbrüche der Raserei aufzuhalten. Die Verhaltensverschaltung des Sadismus scheint eher als alles andere ein genetisch vorgeprägter Fluch für uns zu sein.
Die Ausgrenzung der Normabweicher
Nicht nur die menschlichen Nachkommen sind mit Grausamkeit vom Schicksal geschlagen. In Florida war eine Insel mit Affen von freundlichen Alligatoren umgeben. Ich weiß, daß man das kaum glauben kann, aber nach dem Primatologen Harry Harlow schienen diese bedrohlichen Reptilien an ihrer Säugetierbegleitung Gefallen zu finden. Die Affenkinder aber warteten nur darauf, daß eines der geselligen Tiere vorbeikam, um es bei allen vier Füßen zu packen, es gegen eine Zementwand zu drücken und an ihm herumzukauen. Für die Primatenhooligans schien das ein sehr unterhaltsamer Sport zu sein. Harlow unterstellt, daß die Alligatoren wahrscheinlich daran keinen allzu großen Gefallen fanden. Banden von Affenjugendlichen schleichen sich an einen Käfig heran, in dem eine Mutter gefangen gehalten wird, und tun so, als wären sie völlig unschuldig, bis sie sich auf Reichweite genähert haben und ihr dann, wenn sie nicht herschaut, Büschel aus ihrem Fell herauszureißen. Gruppen von Baby-Affen, die in den Gängen des Laboratoriums frei umherlaufen konnten, bildeten Banden, die auf Rachefeldzüge oder nur zu Schlägereien auszogen. "Wenn sie nicht gelernt hatten", so Harlow, "kooperativ aggressiv zu sein, würde es keine Affen in der Welt geben ..." Harlow ist, in anderen Worten, davon überzeugt, daß ein kollektiver Sadismus bei den Turnieren zwischen Gruppen gang und gäbe war, die Affen gegen jene führten, die sie gerne verspeisen würden, oder gegen rivalisierende Gruppen ihrer eigenen Art, um ihnen Leid zuzufügen.
Aber eine koordinierte Bösartigkeit erfüllt auch eine Funktion in einer Gruppe. Sie bildet das Rückgrat einer sozialen Struktur, regelt sie und zwingt Konformität auf. Als sich Clifford , ein jugendlicher Pavian aus den Savannen von Kekopey in Kenia, sein Bein verletzte, wurde er zu einem Angriffsziel. Seine Altersgenossen verbündeten sich gegen ihn, bis eine Mutter einschritt. Doch ihre Hilfe konnte das Schickanieren nur kurze Zeit aufhalten. Behinderte erwachsene Tiere erleiden dasselbe Schicksal. Ein Männchen, das sich ein Bein verletzt hatte, erlebte plötzlich, wie Erwachsene und Kinder vor ihm kreischend flohen und daß die Männchen, die bislang seine Kumpel waren, ihn angriffen. Abscheu vor Verunstaltung ist nicht auf Primaten beschränkt. Eine dominante Eidechse, deren Schwanz von einem Angreifer abgebissen wurde, wird zu der von ihr geführten Gruppe zurückkehren und merken, daß sie nun ein Außenseiter ist. Der Anblick einer Silbermöwe, die Schmerzen hat, bringt andere ihrer Art oft dazu, sie anzugreifen, anstatt ihr zu helfen. Eine feindselige Haltung gegenüber "Individuen, die sich nicht normal verhalten", ist, wie der berühmte Ethologe Niko Tinbergen sagt , fast allgemein verbreitet.
Gesellschaften von Menschen und Menschenaffen organisieren sich um die "Furchtlosen" und "Tapferen". Berggorillas anerkennen Aggression und behandeln die Freundlichen nicht gut. Ein junges Weibchen in den Virungabergen Zentralafrikas war eng mit ihren Brüdern und ihrem Vater verbunden. Sie saß über Stunden bei ihrem Vater und schaute bewundernd sein Gesicht an. Dann wurde sie krank. Wie zeigten die von ihr angebeteten Verwandten ihre Sorge? Sie schlugen sie und zupften an ihr herum.
Die Neigung, die Unglücklichen oder vom Schicksal Geschlagenen auszustoßen, ist nicht nur eine schlimme Laune der Tierwelt. Ein amerikanisches Mädchen, dessen Mutter bei einem Autounfall gestorben ist, berichtete, daß sie nach dem Unfall von den anderen Kindern in der Schule gemieden wurde. Selbst die beste Freundin, die das Mädchen tröstete, mußte sich zwingen, sich ihr zu nähern. In den späten 80er Jahren beging eine Studentin an einer Universität in China den Fehler, ihren Kolleginnen zu erzählen, daß ihre Mutter gestorben ist, als sie noch ein Kind war. Seitdem wurde sie mitleidlos verspottet.
Byzantinische Herrscher kannten die Macht der Entstellung. Sie schnitten die Nasen der Verwandten ab, die einen legitimen Anspruch auf den Thron haben konnten, da sie wußten, daß die Amputierten niemals Anerkennung als Befehlende erhalten würden. Der Trick funktionierte aber nicht immer. Ein Herrscher wurde abgesetzt, man entfernte sein Nase und schickt ihn in die Verbannung. Er kroch mit seinen Gefolgsleuten durch das Kanalisationssystem zurück, nahm die Stadt ein und bestieg wieder den Thron. Aber das war ein Fall, bei dem der Wille und die vergangene Herrschaft den instinktiven Zwang überwunden hatten, der ihn normalerweise für Befehle zu abstoßend werden ließen.
Der Psychologe und Zoologe David Barash glaubt, daß unsere Intoleranz gegenüber Behinderten teilweise aus einem alten Antrieb stammt, uns fern von jenen zu halten, die Träger einer Infektionskrankheit, einer der primären Todesursachen der vormodernen Tiere und Menschen, sein können. Die Begründung mag etwas für sich haben, aber ich vermute, daß der Zwang zur körperlichen Einheitlichkeit von den Nutzenverstärkern und Ressourcenschaltern des komplexen adaptiven Systems kommt. Man rufe sich die elementarste Regel einer Lernmaschine wieder ins Gedächtnis: Verstärke die Verbindungen zu den Erfolgreichen und vermindere diejenigen zu den Verlierern! Der Affe mit dem gebrochenen Fuß verpfuschte einen Versuch, in einer schwierigen Gegend voranzukommen. Die Eidechse mit dem fehlenden Schwanz war nicht listig genug, um den Zähnen eines Feindes zu entgehen. Die physiologische Strategie der klagenden Möwe ging ganz schief. Und das Mitglied der byzantinischen Königsfamilie ohne Nase trug das Zeichen des politischen Scheiterns im Gesicht.
Unsere Intoleranz gegenüber Abweichungen von einer körperlichen Norm scheint uns von Geburt an mitgegeben zu sein. Untersuchungen aus der ganzen Welt zeigen uns, daß schon Säuglinge mit einem Alter von zwei Monaten attraktive Gesichter unattraktiven vorziehen. Ironischerweise sind die attraktivsten Gesichter, die Wissenschaftler erzeugen konnten, Zusammensetzungen von 32 Fotografien, bei denen die Gesichtszüge geschickt zu einer realistisch aussehenden Annäherung an einen sozialen Durchschnitt verschmolzen wurden. Untersuchungen bei Erwachsenen zeigen, daß wir um diejenigen herumschwänzeln, die wir schön finden, daß wir uns um sie gruppieren, ihre Intelligenz überschätzen und begierig sind, ihre Freunde zu werden. Wie die Motten vom Licht werden wir von der lebendigen Verkörperung des Typischen angezogen.
Die Neigung zur Moralität
Wichtiger als die Maßnahmen der kollektiven Intelligenz ist ein ebenso mächtiger Verstärker, der uns nur handeln, sehen und glauben läßt, was für die Herde akzeptabel ist. Man könnte das Ergebnis eine "perzeptuelle Kalibririerung" nennen, da dies die Mitglieder der Herde so verbindet, daß sie mit einer massenhaften Effizienz handeln können. Im ersten Jahr des menschlichen Lebens haben wir bereits das Aufblühen des Herdeninstinkts untersucht: von der Empathie bis zur Fixierung auf das Gesicht der Mutter und dem Folgen des Blicks eines anderen. Während des zweiten Jahrs legen sich die Kinder auf die von ihren Eltern zugrundegelegten Standards fest, vergleichen die Dinge um sie herum mit einem sozialen Standard und werden zornig, wenn sie von diesem gemeinsamen Ideal abweichen. Obgleich Kleinkinder mit 14 Monaten noch nicht von Beschädigungen an ihrem Eigentum beunruhigt werden, zeigen solche mit 19 Monaten anklagend auf die geringste Beschädigung: auf ein Loch in Kleidern, einen Kratzer in der Farbe eines Spielzeugs, einen Schmutzfleck auf der Wand oder, was am Wichigsten ist, das "schlechte" Verhalten von einem anderen. Mit 20 Monaten besitzen Kleinkinder ein großes Vokabular, um Abweichendes zu verunglimpfen: sie sind aufgebracht, wenn etwas "eklig", "zerbrochen", "pfui" und "schmutzig" ist. Kurz: mindestens ab dem zweiten Lebensalter zeigen Kinder nicht nur die Instinkte, die Konformität in ihnen selbst überwachen, sondern auch die Waffen, die ihnen helfen, diese anderen aufzuzwingen.
Proteste gegen das Nicht-Vollkommene sind nicht nur anale Merkmale von Mittelklassebabies aus dem Westen. Auch Kinder der Fidschi-Inseln und seit kurzem in die USA gekommene Immigrantenbabies aus Vietnam zeigen solche Äußerungen. 1896 faßte James Sully derartige Phänomene durch die Beobachtung zusammen, daß ein Kind eine "angeborene Wertschätzung des Gewohnten und eine angeborene Neigung besitzt, dem Vertrauten und der Regel zu folgen ..." Der Psychologe Jerome Kagan fragt sich, welchen evolutionären Vorteil eine solche Neigung zur "Moralität" haben könnte. Sie ist, so seine Antwort, einer dieser Instinkte, die Zusammenhalt ermöglichen und dem Menschen sein wichtigstes Werkzeug in die Hand geben: die Gesellschaft.
Kinder reagieren äußerst empfindlich darauf, aus dem Tritt zu geraten. Die Strafen, die ihre Spielkameraden austeilen, sind oft entsetzlich. Fünf bis zehn Prozent der Kinder haben keine Freunde. In einem amerikanischen Klassenzimmer ging eine Unterschriftenliste herum, "ein Zeichen zu machen, wenn du Graham nicht magst." Der Lehrer schritt ein, bevor die Liste zu Graham kam. Dann gibt es Schlägereien, Verbannungen, Spötteleien, das Klauen von Kleidern und Büchern sowie andere Quälereien, die von Kindergruppen ab dem Alter von vier oder fünf Jahren gegenüber jenen ausgeübt werden, die nicht dazu passen.
Unattraktive Kinder oder solche mit einem fremdartigen religiösen Hintergrund, seltsamen Namen und ungewöhnlicher ethnischer Herkunft sind besondere Ziele solcher Quälereien. Kinder strafen diejenigen, die in der Schule viel besser oder viel schlechter als der Durchschnitt sind. Eine Drittklässlerin war begabt und beim Klavierspielen, beim Ballett und beim Lesen herausragend gut. Ihre Klassenkameradinnen haßten sie. Sie versuchte, zu jedem freundlich zu sein, aber sie galt als Snob und wurde mit dem Spott überzogen, den sie "verdiente". In Japan , wo das Ideal der Harmonie über allem steht, wird die Überwachung der Konformiträt zu einer besonderen Bösartigkeit. Ijime, das Schikanieren oder Herumstoßen von denjenigen, die herausfallen, wird oft vom Lehrer angeführt.
Ritch Savin Williams untersuchte Sommerlager in den USA und stellte fest, daß jugendliche Leiter besonders gerne andere lächerlich machten. Weibliche Trendsetter in Camps, die von feministischen Wissenschaftlerinnen der post-Carol Gilligan School für die Wärme ihrer freundlichen Kooperation gepriesen wurden, waren besonders niederträchtige Konformitätsverstärker, die mit Zuckerbrot und Peitsche arbeiteten. Eine dominante Camperin bot etwa einem anderen Mädchen an, deren Haare zu richten oder ihr bei der Auswahl der Kleider zu helfen - beides stille Möglichkeiten, ihr Erscheinen der Masse anzupassen. Doch die verbalen Beschimpfungen, die diese Anführerinnen im Teenageralter austeilen konnten, waren so schlimm, daß sie selbst die Wissenschaftler erstarren ließen, die sie beobachteten. Wenn Mädchen über Herrschaft befragt wurden, behaupteten sie, daß sie diese verabscheuen, obwohl einige ganz deutlich andere in zweifelsfreier Weise dominierten. Bezeichnenderweise waren sie von diesem Begriff abgestoßen, weil Herrschaft für sie bedeutete, ein Außenseiter und anders zu sein.
Jugendliche, die Angriffe auf Sonderlinge anführen, werden oft zu Anführern von Tiergruppen oder Staaten. Der pubertierende Oliver Cromwell streifte durch die Straßen seiner britischen Heimatstadt und schlug mit einem übergroßen Gehstock auf Erwachsene ein, vor denen er keine Angst hatte. Dann führte er die Englische Revolution von 1648 an und wurde schließlich zu einem frommen puritanischen Diktator. Als Kind war Fidel Castro ein Schläger, und er war stolz darauf. Als er fünzig oder sechzig Jahre alt war, ergötzte er sich noch immer an Erzählungen, wie er einmal einen anderen Schüler zusammengeschlagen hatte, weil dieser der Liebling des Lehrers gewesen war. Bei dem Versuch, die Schlägerei zu beenden, schlug der katholische Lehrer Castro auf seinen Kopf. Der Jugendliche wandte sich um und prügelte mit allen Leibeskräften auf den Pädagogen ein. Fidel brüstete sich, daß ihn dieser Vorfall zu einem Schulhelden werden ließ. Schläger fungieren als Konformitätsverstärker, solange sie Kinder sind, und werden manchmal als Erwachsene wieder zu Konformitätsverstärkern. Fidel erlaubt beispielsweise keine Abweichung von den Normen, die er für die kubanischen Bürger festgesetzt hat. Dasselbe gilt für Oliver Cromwell, der John Milton, den Autor eines berühmten Buches über die Meinungsfreiheit der Presse (Areopagitica, 1644), dazu überredete, sein Zensor zu werden und dabei streng zu sein.
Die Neigung von Kindern und Jugendlichen, andersartige Menschen in Reih' und Glied zu peitschen, erhält bei Erwachsenen noch einen besseren Schliff. Als Max Weber das Amerika der 20er Jahre beschrieb, sagte er, daß man in der richtigen Straße leben, die richtige Kleidung tragen, über die richtige Kunst schwärmen und sich in der richtigen Weise verhalten müsse, um zur herrschenden Elite zu gehören, da man sonst nicht eingeladen und niemand einen besuchen würde. Die Androhung des sozialen Ausschlußes trieb die Oberklasse der USA in die Konformität mit der Norm. Im vorrevolutionären China wurden, wie die Anthropologen Allen Johnson und Timothy Earle schrieben, "die allgemeinen Standards vor allem durch das Tratschen, durch die Angst, 'das Gesicht' (das Ansehen) zu verlieren und durch Ächtung" aufrechterhalten.
Auch die Utku-Eskimos setzten sozialen Ausschluß zur Konformitätsbildung ein. Sie unterdrückten zornige Gedanken, die, wie sie glaubten, töten können. Beim Kampf ums Überleben waren Nähe und Kooperation lebenswichtig. Ärger galt als kindliches Gefühl, und die Erwachsenen lernten, es zurückzuhalten. Wer seinen Ärger nicht zu kontrollieren vermochte, wurde gehänselt, ignoriert oder aus der Gruppe verstoßen.
In der modernen wissenschaftlichen Gemeinschaft geht das nicht ganz anders zu. Soziologen setzen eine Maske der Objektivität auf, aber hinter dieser Maske verfolgen manche Schulen ideologische Ziele. Wenn Studenten in diesen Gruppen Tatsachen berichten, die den Grundsätzen des Glaubensbekenntnisses widersprechen, werden sie nicht wegen der Objektivität ihrer Arbeit gepriesen, sondern wegen ihrer Häresie bestraft. Sie werden verspottet, ihre Texte werden von Zeitschriften zurückgewiesen und sie werden von wichtigen Symposien ausgeschlossen: alles ein indirekter Zwang, "die Gruppe zu verlassen". Einen ähnlichen Unterdrückungsmechanismus gibt es in jeder wissenschaftlichen Disziplin, die ich kenne. Der Mathematiker Peter Nyikos berichtet von einem typischen Fall:
"Clifford Grobstein, ein Embryologe für Amphibien, hat viele falsche Behauptungen über menschliche Embryonen veröffentlicht und besaß dennoch einen großen Einfluß. Er wurde bei juristischen Auseinandersetzungen über den Schutz menschlicher Embryonen zitiert, und seine Schwindelembryologie beeinflußte trotz der Gegenargumente von Experten für menschliche Embryologie die Gerichtshöfe ... Grobstein übte eine große Macht bei der Verteilung von Stipendien aus, so daß viele Menschen, als die philosophische Biologin Dianne Irving während einer Konferenz nach dem Vortrag von Grobstein fünf Sachfehler richtig stellte, ihr im privaten Gespräch zustimmten, aber ihr sagten, daß sie niemals so etwas in der Öffentlichkeit zu sagen wagten."
Für viele Wissenschaftler ist der akademische Selbstmord die Gefahr, wenn sie gegen die Strömung schwimmen.
In den 80er Jahren zwangen die Neokonservativen ihre Mitglieder auf verstohlene Weise, ihrer Parteirichtung zu folgen. Paul Weaver war ein neokonservativer Anhänger des freien Marktes, der leidenschaftlich vom beherrschenden Dogma seiner Gruppe überzeugt war: daß die Unternehmen das Heil Amerikas seien. Nach zwei Jahren bei der Ford Motor Company kam er zur Einsicht, daß das Unternehmen ein selbstzerstörerisches Ungeheuer sein könnte. Als Weaver mit seinen neuen Beobachtungen nach New York zurückkehrte, stießen ihn seine neokonservativen Freunde zurück. Seine Kritik am Unternehmen war ein Angriff auf ihren Glauben.
Selbst der Humor ist ein in das Gewand der entspannten Atmosphäre gehüllter Konformitätsverstärker. Er konzentriert sich auf die Schwächen, Katastrophen, Dummheiten und Abnormalitäten der anderen. Charles Darwin berichtet, daß die australischen Aborigines in der Mitte des 19. Jahrhunderts "die Eigentümlichkeiten eines abwesenden Stammesmitglieds nachäffen" würden und in unkontrollierbare Lachanfälle ausbrächen. Selbst im "freundlichen" Tibet vor der Besetzung durch China berichtete Heinrich Harrer , der einzige westliche Mensch, der sich lange in der Hauptstadt Lhasa aufhalten durfte, daß die Menschen sich stundenlang lustig über jemanden machen konnten, der stammelt oder lispelt: "Sie spotten über alles und jedes. Weil sie keine Zeitungen haben, drücken sie ihre Kritik an unglücklichen Geschehnissen oder störenden Personen durch Gesänge und Satire aus. Jungen und Mädchen gehen am Abend umher und singen die neuesten Verse. Selbst die am höchsten gestellten Personen müssen damit rechnen, in Stücke zerrissen zu werden."
Thomas Hobbes sagte, daß der Mensch, der zuviel lacht, sich seiner vielen Schwächen bewußt ist und eine hohe Meinung über sich selbst aufrechterhält, indem er sich auf die Unvollkommenheiten der anderen konzentriert. Und der Kartoonist Al Capp beobachtete in der Mitte des 20. Jahrhunderts bitter, daß "jede Komödie auf dem Vergnügen an der Unmenschlichkeit der Menschen gegenüber Menschen basiert."
Wunsch nach Anerkennung, Angst vor Ächtung
Doch vielleicht ist das Wort "Unmenschlichkeit" ein wenig zu sehr auf den Menschen bezogen. Der Humor wird vom tierischen Gehirn gesteuert, vom Thalamus und Hypothalamus. Gorillas benutzen wie Menschen Spott, um diejenigen zu bestrafen, die ihre Konformitätsanstrengungen stören. Zwei Gruppen jagten einander durch den Wald. Die Männchen stolzierten angeberisch, um ihre Macht zu zeigen. Ein Gorilla war jung und unerfahren. Er beschloß, seine Tapferkeit zu demonstrieren, aber vollzog sein Manöver schlampig. Ein älterer Rivale spielte seine Rolle mit Vertrauen und Perfektion. Die Jugendlichen aus der Gruppe des unerfahrenen Männchens folgten ihm und "verspotteten seine mißglückte Zurschaustellung von Tapferkeit in übertriebener Weise".
Aber die Zurückweisung ist oft genug nicht so harmlos. Wie jugendliche Schimpansen verabscheuen wir die Mißgestalteten und Andersartigen. In Experimenten , bei denen ein Schauspieler auf dramatische Weise in der Mitte eines U-Bahnwaggons zusammenbrach, stellte sich heraus, daß weitaus weniger Hilfe erwarten konnte, wenn er ein großes Geburtsmal hatte. Die Befragung eines Psychologen aus dem Jahr 1894 zeigte, daß kleine Verletzungen des Gewohnten - Männer, die Ohrringe trugen, Menschen, die einen Ring am Daumen trugen oder mit modischem Schmuck überladen waren, die aufzufallen versuchten oder die sich von der Masse absonderten - Wut auslösten. Einer Gruppe wurde in einem anderen Experiment die Aufgabe gestellt, anderen Arbeiten zuzuweisen, die entweder mit Geld bezahlt wurden oder die Austeilung eines Elektroschocks nach sich zogen. Sie gaben die bezahlte Arbeit jenen, deren Persönlichkeit mit der Mehrheit übereinstimmte, und teilten die schmerzvollen Schocks denen zu, die nicht ganz dazu paßten.
Die Bereitschaft, Schmerzen zuzufügen, ist nicht auf Experimente im Laboratorium beschränkt. Wenn in den 60er und 70er Jahren ein amerikanischer Arbeiter schneller als der Rest seiner Gruppe arbeitete, machten die anderen ihn darauf aufmerksam, indem sie ihre Finger in seinen Arm krallten. Eine unglaublich große Anzahl von Kulturen glaubt an Hexerei und an den bösen Blick. Hier kann ein Mißgeschick tödlich werden. Für die Bantus wird das Böse von einer Hexe verursacht, von einer unschuldigen Seele, in die sich ohne ihr Wissen ein Dämon eingenistet hat. Um den Träger des Bösen zu entdecken, stellen sich die Bantus in einem Kreis auf und singen leise, während der Medizinmann von einem zum anderen geht und an ihnen schnüffelt. Die Stammesmitglieder glauben, daß die Lautstärke ihres Gesanges von übernatürlichen Kräften gesteuert wird. Der Medizinmann wählt denjenigen als Behälter des Dämons aus, vor dem er die Luft prüft, wenn der Gesang am lautesten wird. Der unwissende Träger der Bösen wird herausgezogen und von der Erde gestoßen, indem man durch seinen Anus einen Stock hinaufschiebt. Sein Kraal wird verbrannt, seine Familie ausgelöscht, sein Vieh dem Häuptling gegeben und ein Teil der Kühe und Bullen dem Medizinmann als Geschenk überreicht. In Wirklichkeit aber ist der Gesang ein Popularitätstest. Und wie bei den Hexenjagden im Amerika des 16. Jahrhunderts fällt der Verdacht auf die Person, die sich am weitesten von der Norm entfernt hat.
In dieser Hinsicht unterscheiden wir uns kaum von unseren tierischen Verwandten. Der soziale Ausschluß bei den Schimpansen setzt eine verwirrende Bereitschaft voraus, Schmerzen auszuteilen. Im Zoo von Arnheim wurde ein männlicher Schimpanse von zwei anderen so wild angegriffen, daß sie seine Hoden zerdrückten, auf seinen Kopf, Rücken und Hinterteil einschlugen, einige seiner Zehen abbissen und seine Hände verletzten. Am nächsten Morgen jedoch wollte er nicht von seinen Angreifern getrennt werden: von den dominanten Männchen seiner Gruppe, in der die meiste Zeit seines Lebens verbracht hat. Zwölf Stunden später ist er an seinen Wunden gestorben.
Aber was ist wirklich die Ursache des Todes: die körperliche Verletzung oder die soziale Mißachtung? Wenn Vervetaffen von ihren Kollegen angegriffen werden, sind die Bisse, die sie erhalten, oft kaum der Rede wert. Viele verletzten nicht einmal die Haut. Doch der bestrafte Affe kann einen Schock erleiden und sterben. Menschenkinder werden sehr viel öfter durch die Demütigung von anderen verletzt, die sie für andersartig halten, als durch Angriffe auf den Körper. Erwachsene gehen davon aus, daß die Kinder mit Problemen wie der Geburt eines Bruders, der Aussicht auf eine Operation oder dem Gang zum Zahnarzt beschäftigt sind. Doch eine Befragung von 1814 Kindern durch Kaoreu Yamamoto von der University of Colorada im Jahre 1988 zeigte, daß die primären Ängste der neun- bis vierzehnjährigen in den USA, in Australien, Kanada, Ägypten, Japan und den Philippinen darum kreisten, im Beisein von Freunden gedemütigt oder verspottet zu werden. Ja, die Kinder hatten vor den erwarteten Schrecken Furcht: vor dem Tod des Vaters oder der Mutter, vor dem Blindwerden oder vor dem Anblick der streitenden Eltern. Aber ihre Sorgen waren auch, nicht in die nächste Klasse zu kommen oder im Klassenzimmer in ihre Hosen zu pinkeln.
Die Untersuchung Yamamotos wies darauf hin, daß selbst die Fachleute normalerweise nicht die Bedeutung dieser Ängste richtig einschätzen. Ann Epstein von der Harvard Medical School machte auf den beunruhigendsten Sachverhalt aufmerksam, nämlich daß Demütigung eine der am weitesten verbreitenden Ursachen für Selbstmord bei Kindern und Jugendlichen ist. Anerkennung ist für soziale Tiere so wichtig wie Sauerstoff und Nahrung. Wenn wir auf die Nutzensortierer des komplexen adaptiven Systems zu sprechen kommen, werden wir sehen, warum dies so ist.
Menschen wollten lieber verhungern, als ihre sozialen Bande aufgeben. Die Japaner haben diese den Menschen einwohnende Tatsache weit offensichtlicher als wir in ihre Kultur eingebaut. Die meisten westlichen Menschen kennen eines der bekanntesten japanischen Sprichworte: "Der herausstehende Nagel wird eingeschlagen." Der herausragende Fachmann für die japanische Kultur, Edwin Reischauer, schrieb vor zwanzig Jahren, daß die Japaner ganz genau darauf achten, was andere über sie denken. Die schlimmste Drohung, die Eltern ihren ungezogenen Kindern sagen, ist: "Die Leute werden dich auslachen." Die Wirkung ist nach Reischauer "vernichtend".
Die größte Strafe in einem japanischen Dorf war, so Reischauer , die Ächtung. Wenn man mit seinen Nachbarn nicht Nahrungsmittel und anderes Lebenswichtiges tauschen konnte, dann konnte das die Existenz auf dieser Erde ernsthaft bedrohen. Etwas ganz Ähnliches spielte einmal eine entscheidende Rolle dabei, die nordamerikanischen Kolonisateure zusammenzuhalten. Während des 16. und 17. Jahrhunderts wurde das Verhalten durch den Umstand überwacht, daß der einzelne in einer kleinen Gemeinschaft lebte. Das ganze Dorf nahm am Hochzeitsritual teil. Es vereinigte sich aber auch, wenn es um die Bestrafung einer Anomalie ging. Die puritanischen Siedler waren hinsichtlich ihrer Nahrung und ihrer Selbstwertgefühle auf die zwei- oder dreihundert Nachbarn angewiesen, mit denen sie in der Isolation einer gefährlichen Wildnis zusammen ihrer Arbeit nachgingen. Wie in Japan konnte der Ausschluß aus der Gemeinschaft die Todeserwartung dramatisch erhöhen.
Im 19. Jahrhundert war andererseits der Nordosten von Indianern und wilden Tieren gesäubert. Man konnte ohne weiteres eine Stadt verlassen und in eine andere gehen, oder, noch besser, in die Menschenmengen einer großen Stadt untertauchen. Neue Umweltbedingungen lassen neue Konformitätsverstärker notwendig werden, die überallhin mitgenommen werden können. Auf der positiven Seite standen leidenschaftliche Gefühle wie die Liebe, die den Zwang zur Heirat seitens der Nachbarn, Eltern und der weiteren Umgebung ersetzte. Auf der negativen Seite entstand das Schuldgefühl. Die Eltern demütigten einen nicht mehr in der Öffentlichkeit, sondern schickten einen in sein Zimmer, damit einen das Gewissen quälte. Die Regierung steckte einen in eine Strafanstalt, wo die Reuegefühle einen theoretisch gnadenlos piesackten. Doch die öffentlich erzeugte Scham des Dorflebens und das "privatere" Gewissen, das einen in der anonymen Metropole plagt, führen zum gleichen Ziel, nämlich daß die Menschen, die einem am wichtigsten waren, einen manchmal auf schreckliche Weise zurückweisen. Die Agonie der antizipierten Scham treibt uns die nonkonformistischen Neigungen aus und zwingt uns dazu, uns in die Herde einzureihen.
Die instinktiv ausgeübte Grausamkeit stößt nicht-konforme Individuen an den Rand und vertreibt sie manchmal ganz. Sie zwingt uns genauso in die sozialen Bande, wie die Termiten beim Anblick von verstreutem Kot sich unbehaglich fühlen und gezwungen sind, die Exkremente in Architektur zu verwandeln. Die Termitenhügel aus Exkrementen bilden schließlich Städte mit bis zu 20 Millionen Bewohnern. Unsere Gruppen von boshaften Kindern und Jugendlichen formen allmählich die sozialen Komplexe, die wir Religionen, Wissenschaften, Unternehmen und Nationen nennen. Die Werkzeuge, die uns zusammenhalten, sind Lächerlichkeit, Isolation, Körperverletzung und Tod durch Steinigen, durch letale Injektionen oder durch die Schlinge. Von einem kollektiven Gehirn zu sprechen, kann warm und irgendwie nach New Age klingen, aber einige der Kräfte, die es verknoten, sind weit weniger liebevoll, als wir uns das vielleicht vorstellen.
Aus dem Englischen übersetzt von Florian Rötzer