Die Lady mit dem Lampenschirm
Seite 3: Rothaarig-blondierte und ergraute Hexe
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Tattoo ist ein Beleg dafür, wie lebendig (und in andere Milieus übertragbar) die mit Ilse Koch verbundenen Phantasien noch sind. Dazu muss gesagt werden, dass die gegerbten Menschenhäute, die Auspeitschungen auf dem Appellplatz von Buchenwald und die Folterungen im Arrestbau sehr real waren und keineswegs die Versatzstücke eines Horrorfilms. Durch das Hinzufügen einer bösen Hexe kann man die Geschichte als die schaurige Mär von einigen wenigen Perversen und Sadisten erzählen, die furchtbare Verbrechen begingen, wovon die übergroße Mehrheit der anständigen Deutschen gar nichts ahnte. Oder aber man erzählt sie so, dass sie ein - in diesem Fall besonders grelles - Schlaglicht auf ein Mord-, Unterdrückungs- und Ausbeutungssystem wirft, bei dem viele mitmachten und das keine Perversen brauchte, um zu funktionieren, sondern Pflichterfüller, die jeden Tag ihrer Arbeit nachgingen und dann als brave Familienväter mit Frau und Kindern ihr Abendbrot verspeisten. Wenn sich KZ-Überlebende bewusst oder unbewusst für die Monster entschieden, kann ich das sehr gut nachvollziehen.
Um ausnahmsweise etwas Küchenpsychologie zu bemühen: Die Überführung eines industrialisierten, auf moderne Technik und Logistik gestützten Massenmords in eine atavistisch anmutende Gruselgeschichte rund um die finsteren Triebe einer allmächtigen, plötzlich auftauchenden und neue Opfer fordernden Schreckgestalt konnte den befreiten Häftlingen als Krücke für den Umgang mit bis dahin unvorstellbaren Erlebnissen dienen und bei der Rückkehr in die Welt außerhalb der Lager helfen, wo sie auf Menschen trafen, die ihre Verschleppung hingenommen oder sogar gebilligt und befördert hatten. Problematisch wird es da, wo sich die Täter, Mitläufer und Wegschauer der Phantasmagorie von der halbnackt durch das Lager reitenden Lampenschirm-Ilse bemächtigen, um sich vor der eigenen Verantwortung zu drücken.
Wollte man über Ilse Koch schreiben und sich auf die gesicherten Fakten beschränken, würde man wenig Text und viele Lücken erhalten. Das ist unbefriedigend. Die unterschiedlichsten Autoren haben die Lücken daher mit Mutmaßungen und gelegentlich auch mit bizarren Phantasien gefüllt, einige auf die Fakten gleich ganz verzichtet. Wenn man sich genauer mit der Frau beschäftigt, weiß man bald nicht einmal mehr, ob sie wenigstens rote Haare und grüne Augen hatte wie zumeist behauptet. Laut Befehl des Reichsführers-SS Heinrich Himmler vom 31. Dezember 1931 brauchten die Mitglieder seines "Verbandes deutscher Nordisch-bestimmter Männer" vor der Eheschließung eine vom Rasse- und Siedlungshauptamt der SS (RuSHA) auszustellende "Heiratsgenehmigung". "Das erstrebte Ziel", so der Befehl, "ist die erbgesundheitlich wertvolle Sippe deutscher Nordisch-bestimmter Art." Damit die Verbreitung des Germanentums nicht eines Tages an einem Mangel an Germanen scheitern würde, sollten sich die SS-Männer fortpflanzen, und dies mehrfach, aber nicht mit "minderwertigen" Frauen. Darum wurde die Braut gynäkologisch und auf ihre "arische" Abstammung hin untersucht, bevor sie ihren Karl Otto 1937 heiraten durfte. Der RuSHA-Akte zufolge war Ilse 1 Meter 67 groß, wog ungefähr 60 Kilogramm, hatte graublaue Augen und hellblonde Haare. Hatte Himmlers Rasseamt also geschlampt oder ein Gefälligkeitsgutachten für Koch erstellt, damit die nun erblondete Ilse, die er bereits geschwängert hatte, besser in die nordische Sippe passte? Oder wurden ihre Haare rot, als sie ihre Medienkarriere als "Hexe von Buchenwald" begann? Schwer zu sagen bei einer Frau, von der nur schwarzweiße Photographien und Filmaufnahmen zu finden sind.
Ein gewisser August Heinrich Bender war von 1938 bis 1939 und dann wieder ab August 1944 Lagerarzt in Buchenwald und saß eine Weile lang wie Ilse Koch im Kriegsverbrechergefängnis in Landsberg ein, wo er sie, seinen Angaben nach, medizinisch betreute. 1947 zu zehn Jahren Haft verurteilt, wurde Benders Strafe bald auf drei Jahre verkürzt. Weil die Untersuchungshaft mit angerechnet wurde, kam er 1948 frei. 1949 ließ er sich in seinem Heimatort Kelz, einem Dorf in der Nähe von Düren (NRW), als Landarzt nieder. Dort praktizierte er bis 1988. 1993 schrieb er auf, woran er sich aus seiner Zeit in Buchenwald noch zu erinnern glaubte, oder was er der Nachwelt darüber hinterlassen wollte. Im Dezember 2005 starb er, im Alter von 96 Jahren.
Einer breiteren Öffentlichkeit wurde die SS-Vergangenheit von Landarzt Bender bekannt, als der MDR in seiner Reihe "Geschichte Mitteldeutschlands" 2012 die Episode über Ilse Koch ausstrahlte. Die Filmemacher hatten die im Bundesarchiv liegenden Aufzeichnungen Dr. Benders ausgewertet und präsentierten den ehemaligen SS-Sturmbannführer nun als wichtige, von ihnen entdeckte Quelle. "Rötliche lange blonde Locken" habe die Kommandeuse gehabt, schrieb Bender 1993. Für die Literatur zu Ilse Koch - seien es Bücher, Aufsätze, Gerichtsprotokolle oder die Manuskripte alter Männer - ist das recht typisch. Bei widersprüchlichen Angaben nimmt man gern mal beides. War sie also blond, rothaarig oder rotblond, die Hexe von Buchenwald? Hatte Dr. Bender sie als Blondine in Erinnerung, aber gehört oder gelesen, dass sie rote Haare hatte, und entschied er sich deshalb für rötlich-blond, als er 1993 seine Memoiren zu Papier brachte? Ich habe keine Ahnung.
1950, als Ilse Koch - jetzt in Augsburg - ein drittes Mal vor Gericht stand, scheint manch ein Prozessbeobachter eine Blondine gesehen zu haben. Hin und wieder kann man lesen, dass sie sich die roten Haare blond gefärbt habe, was eine doppelte Funktion erfüllte: die gefärbte Ilse war eine, die ihr wahres Wesen zu verbergen suchte und passte gut zum Bild der Frau, die angeblich schon die Richter der SS mit ihrem Sex Appeal becirct hatte. Andere mutmaßten, sie sei vorzeitig ergraut. Sie blieben in der Minderheit, weil das irgendwie leidvolle Erfahrungen suggerierte, die man der Hexe nicht zugestehen wollte, obwohl auch böse Menschen solche machen können. Seit Sommer 1943 hatte Ilse Koch die meiste Zeit hinter Gittern verbracht: bei der Gestapo, in Internierungslagern, in Landsberg, in Aichach.
Femme fatale mit Schönheitsfehlern
Margarete Ilse Köhler wurde am 22. September 1906 als drittes und letztes Kind von Anna und Eduard Köhler in Dresden geboren. Ihr Vater war Werkmeister, die Mutter Hausfrau. 1947, im Buchenwaldprozess, machte sie nur sehr spärliche Angaben zur Person. Sie habe ein Gymnasium besucht und danach eine Berufsschule, anschließend sei sie zur Bibliothekarin ausgebildet worden, dann habe sie bei mehreren führenden Industriekonzernen als Sekretärin gearbeitet. Die aus einfachen Verhältnissen stammende Frau, darf man daraus wohl ableiten, wollte gern mehr sein, als sie war. Die Augsburger Staatsanwaltschaft forschte später nach und kam zu dem Ergebnis, dass Ilse nach acht Jahren Volksschule zwei Jahre lang eine Handelsschule besucht hatte, aber kein Gymnasium. Sie hatte Stenographie und Maschineschreiben gelernt, am Ende ihrer beruflichen Tätigkeit als Tippse und Stenotypistin beim Tabakkonzern Reemtsma in Dresden gearbeitet.
Interessant ist die Ausbildung zur Bibliothekarin. Die Anklagebehörde in Augsburg glaubte ihr das nicht und machte ein Volontariat in einer Buchhandlung daraus. Seither mühen sich die Ilse-Koch-Experten mit diesem Detail aus ihrem Leben ab. Alles weist darauf hin, dass sie eine skrupellose, an materiellen Gütern orientierte Aufsteigerin war, die vom Leid der Häftlinge von Buchenwald profitierte und kein Problem damit hatte, dass ihr Gatte Kommandant eines Konzentrationslagers war, weil ihr das ein luxuriöses Leben garantierte. Und so eine, denkt man sich, wollte früher Bibliothekarin werden, in der Welt der Bücher heimisch sein und der Bildung dienen? Bereits das Augsburger Gericht scheint sich über diesen vermeintlichen Bruch in der Biographie der Ilse Koch gewundert zu haben und versuchte, ihn wenigstens durch einen überleitenden Kommentar zu glätten. Nach dem Volontariat in der Buchhandlung, steht im Urteil vom Januar 1951, habe die Angeklagte "sich mehr auf das kaufmännische Gebiet" verlegt. Hier spricht das sich von den Nazis distanzierende Bildungsbürgertum. Das Gericht will uns damit sagen, dass es in der Buchhandlung primär um Geist und Kultur geht und nur nebenbei um kaufmännische Belange und um Geld.
Dem MDR, seiner Doku und den Aufzeichnungen von Dr. Bender verdanken wir die Erkenntnis, dass Ilse Koch sich doch viel mehr in die Bücher vertiefte als bis dahin angenommen. "Was Bender hier zu Papier bringt", sagt der Erzähler über das Manuskript, "sind bislang völlig unbekannte Details aus dem Lagerleben der Ilse Koch." Weil die übrigen in der Dokumentation genannten Einzelheiten - mit Verlaub - ein alter Hut sind (alles vor der Niederschrift im Jahre 1993 bei anderen Autoren nachzulesen), kann es sich beim völlig Unbekannten nur um die Information handeln, dass Ilse Koch "hoch gebildet" war. Das hat der MDR tatsächlich exklusiv. Gut wäre es gewesen, die bei solchen TV-Formaten leider unvermeidlichen Spielszenen auf dieses von Dr. Bender überlieferte Detail aus dem Lagerleben abzustimmen. Muriel Baumeister, die eine talentierte Darstellerin sein soll und somit keine Lust oder einen schlechten Tag hatte, als das gedreht wurde, spielt Ilse Koch als ordinäre, unkultivierte und leicht hysterische Zicke mit dem Hang zu Wutausbrüchen - mehr weibliches Rumpelstilzchen als Intellektuelle vom Ettersberg.
Die Maske hat Frau Baumeister eine Perücke aufgesetzt, die ich als "rotblond" bezeichnen würde - mehr rot als blond, was auch so sein muss, weil die Doku Ilse Koch - Die Hexe von Buchenwald heißt und Hexen rote Haare haben. Ohne die persönlichen Vorlieben des von Ilses blendendem Aussehen und toller Figur schwärmenden Doktors zu kennen, würde ich behaupten, dass er vor seinem geistigen Auge eine Blondine sah (die schlanke Marlene Dietrich oder die üppige Marilyn Monroe?), als er schrieb: "Sie hätte beim Film Karriere machen können." Oder sollte Dr. Bender an die rothaarige Maureen O’Hara in The Quiet Man gedacht haben? Nach dem Krieg jedenfalls, als durch gezielte Indiskretionen Photos aus den von den Amerikanern beschlagnahmten Familienalben der Kochs an die Öffentlichkeit gelangten (hier zum Durchklicken), sahen die Zeitgenossen keine Filmschönheit, sondern eine etwas plump wirkende deutsche Hausfrau.
Eine Nazi-Femme-fatale hatte man sich anders vorgestellt. Wenn es nicht ihre Schönheit war, deretwegen die Männer ihr zu Füßen lagen - was dann? Was fand ihr Mann, der KZ-Kommandant, an Ilse? Prompt tauchte das Gerücht auf, dass er der "Hexe von Buchenwald" hörig gewesen sei. Irgendwie mussten da sexuelle Ausschweifungen stattgefunden haben, an die der Normalbürger noch nicht einmal zu denken wagte und die es ihm erlaubten, sich von einer vermeintlich kleinen Tätergruppe zu distanzieren. In Stanley Kramers Film Judgment at Nuremberg gibt es eine schöne Szene, in der Richard Widmark - als Ankläger der US-Armee - darüber in Wut gerät, dass die Deutschen immerzu behaupten, von den NS-Verbrechen nichts gewusst und nichts damit zu tun gehabt zu haben. Dann waren es also die Eskimos, sagt er. Sie haben die Verbrechen begangen, wenn es die Deutschen nicht gewesen sind. Das ist falsch. Es waren die Perversen.
Welt der Bücher
Im englischen Sprachraum wurde aus der Hexe die "Bitch of Buchenwald", weil Bitch (Hündin, Schlampe) durch die Alliteration besser klingt als Witch (Hexe) of Buchenwald und die Bestie zu Verwechslungen mit Irma Grese geführt hätte, dem "Beast of Belsen". Pierre Durand war Kommunist und Mitglied der Résistance, als ihn die deutschen Besatzer 1944 auf den Ettersberg verschleppten. 1982 veröffentlichte er ein Werk mit dem Titel La chienne de Buchenwald, übersetzte also die Bitch ins Französische. Hündinnen lesen keine Bücher. Durand ließ das Detail mit der Buchhandlung bzw. Bibliothekarin weg. Die deutsche Ausgabe seiner Studie, Die Bestie von Buchenwald, erschien ab 1985 in mehreren Auflagen beim Militärverlag der DDR, wo man sich an die bald nach Kriegsende gehängte "Bestie von Belsen" kaum noch erinnerte. Die Hündin gefiel dem Verlag wohl nicht, und die Hexe, mit der das Ganze einmal angefangen hatte, war vergeben, seit 1983 in der BRD Die "Hexe von Buchenwald": Der Fall Ilse Koch von Arthur L. Smith Jr. herausgekommen war.
Von der Ausbildung zur Bibliothekarin will Smith nichts wissen. Er erinnert an die wirtschaftliche Not vieler Deutscher in den 1920ern und schreibt (ohne es zu belegen), Ilse Koch habe als Praktikantin in einer Buchhandlung gearbeitet, weil sie dafür zwar kein Geld, wohl aber ein warmes Mittagessen erhielt. Demnach waren es die animalischen Bedürfnisse, die sie in die Buchhandlung führten, nicht die geistigen. Falk Pflücker hat ein eBook verfasst, bei dem schon der Titel verrät, dass dieser Autor kein Entweder-Oder mag, sondern sich im Zweifel lieber an einer Synthese versucht: Bestie, Hexe, Kommandeuse von Buchenwald: Wer war Ilse Koch? (die Hündin hat er vergessen). "Im Alter von 16 Jahren", so Pflücker, "machte sie eine unbezahlte Lehre zur Bibliothekarin in einem städtischen Buchgeschäft." So hat man beides: die Buchhandlung und die Bibliothek (was mit "städtisch" gemeint ist, weiß ich nicht - auch Pflücker gibt keine Quelle an). Konsequent wäre allerdings ein Satz wie dieser hier gewesen: Ilse Koch wollte sich in einer Buchhandlung zur Bibliothekarin ausbilden lassen, half dann aber in der Buchhaltung aus und verlegte sich von da an mehr auf das kaufmännische Gebiet. Man muss nämlich hinzufügen, dass ein Teil der Koch-Forschung von der Annahme ausgeht, dass Ilse nicht in einem Buchgeschäft, sondern in einer Buchhaltungsabteilung arbeitete.
Ich schlage vor, wir geben den Amis die Schuld an der ganzen Konfusion. Gerichtssprache bei den Dachauer Prozessen war Englisch (nicht Deutsch mit amerikanischem TV-Akzent wie beim um Authentizität bemühten MDR). Bei der Vielzahl der Verfahren ist nicht anzunehmen, dass dort erfahrene Dolmetscher zum Einsatz kamen. Buchhaltung/bookkeeping und Buchhandlung/bookstore sind da schnell mal verwechselt, und im deutschen Wort für library (Bücherei) ist gemeinerweise schon wieder das Buch mit drin. Mir persönlich, obwohl ein Freund der Bücher, gefällt die Buchhaltung besser als die Buchhandlung - nicht, weil ich Belege dafür nennen könnte, sondern weil es besser zu meinem Bild von Ilse Koch passt: einer Frau aus der Arbeiterschicht, ohne besondere Schulbildung und ohne große Aufstiegschancen, die von sich behauptet, das Gymnasium besucht zu haben, mehr sein will als sie ist und einen ehemaligen Buchhalter heiratet, der als KZ-Kommandant Karriere macht, durch doppelte Buchführung die Unterschlagungen vertuscht, mit denen er in die eigene Tasche wirtschaftet und so die finanziellen Grundlagen dafür legt, dass seine Gattin die große Dame spielen kann, oder was sie dafür hält. Das ergibt eine in sich stimmige Geschichte, was nicht bedeutet, dass sie deshalb richtig ist.
Von der Statistik zum Horrorfilm
Der Hang zum Kompilieren prägte die Ilse-Koch-Story von Anfang an. Als warnendes Beispiel kann der berüchtigte Lampenschirm dienen. Am 16. April 1945, als die Bürger von Weimar Buchenwald besichtigen mussten (waren das wirklich tausend Leute, oder wurde die Zahl nur genannt, weil sie besser zum "Tausendjährigen Reich" passte als 573 oder 721?), wurde das Ding zusammen mit gegerbter Menschenhaut präsentiert, die - so die bald verbreitete Mutmaßung - die Nazis tätowierten Häftlingen abgezogen hatten. Es dauerte nicht lange, bis aus dem - inzwischen verschwundenen - Lampenschirm aus Menschenhaut ein Lampenschirm aus tätowierter Menschenhaut geworden war. Heute dienen die in Nazi Concentration Camps enthaltenen Filmaufnahmen von diesem Lampenschirm den Holocaust-Leugnern als Beleg dafür, dass die NS-Verbrechen von zionistisch-jüdisch-amerikanischen Verschwörern schamlos aufgebauscht oder gleich ganz erfunden wurden. Auf dem Lampenschirm im Atrocity-Film sind nämlich keine Tätowierungen zu erkennen, nur auf den ebenfalls ausgestellten Hautstücken (die der Off-Kommentar zu Nazi Concentration Camps noch als nachträglich bemalte, nicht tätowierte Menschenhaut bezeichnet).
Auch die DDR wusste um den Schauwert des Lampenschirms. Nicht der, den die Amerikaner vom 16. bis 21. April 1945 im befreiten Lager Buchenwald zeigten, sondern der Schirm einer Nachttischlampe war ab 1954 - als "Lampenschirm aus Menschenhaut" - fester Bestandteil der diversen Ausstellungen zur Geschichte des Konzentrationslagers, mehr als dreißig Jahre lang. Erst nach dem Ende der DDR wurde er auf seine Echtheit untersucht. Laut einem Gutachten des Instituts für Gerichtliche Medizin der Medizinischen Akademie Erfurt von 1992 ist die Nachttischlampe nicht aus Menschenhaut, sondern aus handelsüblichem Kunststoff hergestellt. Der Schirm wird jetzt als Falsifikat im Depot der Gedenkstätte Buchenwald aufbewahrt und nicht mehr gezeigt. Auch das hat zur Legendenbildung beigetragen. Manchen DDR-Nostalgikern gilt das Verschwinden der Nachttischlampe aus der Ausstellung als Beleg dafür, dass seit der Wiedervereinigung systematisch die faschistische Vergangenheit beschönigt wird. Aus diesem Grund, heißt es, werden Beweise für die Nazibarbarei wie diese "Nachttischlampe aus Menschenhaut" entfernt.
"Der Tod eines Mannes", sagte Josef Stalin, "ist eine Tragödie, aber der Tod von Millionen nur eine Statistik." Das ist zynisch und doch nicht von der Hand zu weisen. Ed Murrow sah gar keinen Lampenschirm, weder mit noch ohne Tätowierungen, als er in Buchenwald war. Murrow sah einen Haufen mit etwa dreihundert Leichen (der SS war der Brennstoff für das Krematorium ausgegangen) und nicht weit davon einen Berg mit Schuhen und Kleidungsstücken. Den Bericht, den er drei Tage später für das Radio aufnahm, hielt er für misslungen. Drei Paar von diesen Schuhen, meinte er, hätte er beschreiben können. Hunderte von Schuhen zeugten von einer Tragödie, für die ihm die Worte fehlten. Wer kann sich sechs Millionen ermordete Juden vorstellen, oder auch "nur" die mehr als 50.000 Menschen, die in Buchenwald getötet wurden? Ab einer bestimmten Größenordnung verschwinden die Opfer hinter einer abstrakten Zahl. In so einer Situation ist es sehr wirkungsvoll, wenn man etwas Konkretes, Greifbares vorzeigen kann.
Das wussten die Amerikaner, als sie gruselige Artefakte auf den Buchenwald-Tisch stellten (gut beraten waren sie trotzdem nicht, als sie es taten), und die Holocaust-Leugner wissen es genauso, wenn sie heute den Film mit dem Lampenschirm präsentieren, um das Gegenteil von dem zu "beweisen", was einst die US-Armee dokumentieren wollte. Beim Nürnberger Hauptkriegsverbrecherprozess war es nicht viel anders. Zuerst die Briten und dann die Amerikaner mühten sich ab, den Angeklagten Pläne für einen Angriffskrieg nachzuweisen. Am achten Verhandlungstag hatten sie bei ihrer chronologischen Aufbereitung der Ereignisse den Anschluss Österreichs erreicht. Der Logik der Beweisführung nach wäre die Tschechoslowakei an der Reihe gewesen, als plötzlich Nazi Concentration Camps gezeigt wurde, die einstündige Aneinanderreihung schrecklicher Bilder aus den befreiten Lagern.
Janet Flanner, die erfrischend direkte Korrespondentin des New Yorker (5.1.1946), kommentierte das mit der für sie charakteristischen Trockenheit: "Wir Amerikaner brauchten fünf Tage allein für die Fälle Österreich und Tschechoslowakei, und die daraus resultierende Langeweile im Gerichtssaal unterbrachen wir nur, indem wir zum irrelevanten Zeitvertreib Horrorfilme aus Belsen, Dachau und Buchenwald zeigten, die in keinem dieser Länder liegen." Tatsächlich scheint die Filmvorführung in erster Linie für die zahlreich angereiste (und sich langweilende) Weltpresse gedacht gewesen zu sein. Die Anklage brachte so etwas Dramatik in einen Ablauf, der vom Verlesen dröger Schriftstücke bestimmt war. Der Film machte anschaulich, was Göring und den anderen Beschuldigten zur Last gelegt wurde. Seine Beweiskraft war gering, weil die Folgen der Verbrechen zu sehen waren, nicht deren Planung und Ausführung. Auf die Reporter scheint Nazi Concentration Camps großen Eindruck gemacht zu haben. In dieser Häufung, ein Lager nach dem anderen, mit immer neuen Gräuelbildern, hatte man so etwas noch nie gesehen. Andererseits war es weder das erste noch das letzte Mal, dass Aufnahmen vom Buchenwald-Tisch dazu beitrugen, die NS-Verbrechen in einem Kontext von Atavismus, Barbarei und Fetischismus zu verorten. Das meinte die scharfsichtige Janet Flanner wohl damit, als sie von irrelevanten Horrorfilmen sprach.
Ein Lampenschirm für den Arbeiter- und Bauernstaat
1937, als das Konzentrationslager Buchenwald errichtet wurde, sollte es - weil auf dem Ettersberg gebaut - den Namen "KL Ettersberg" erhalten ("KL" war die damals gebräuchlichere Abkürzung, nicht "KZ"). Benannt wurde es schließlich nach den auf dem Hügel wachsenden Buchen, weil die SS keinen Ärger mit der Nachbarschaft wollte. Die Weimarer Ortsgruppe der "Nationalsozialistischen Kulturgemeinde" hatte mit der Begründung Einspruch eingelegt, dass der Name "Ettersberg" von jeher mit der Weimarer Klassik assoziiert worden sei. Goethe war hier gern spazieren gegangen (man lese dazu Johann Peter Eckermann, etwa die Eintragung vom 26. September 1827) und hatte sich von der Ruhe im Schatten des Waldes zu dem einen oder anderen seiner Werke inspirieren lassen. Die deutsche Kultur, fand der Kulturverein, musste vom deutschen KL-System fein säuberlich getrennt bleiben. Die Sinnlosigkeit dieses Unterfangens symbolisiert die damals auf dem Ettersberg stehende "Goethe-Eiche", unter der Deutschlands Dichterfürst die Walpurgisnacht-Szene im Faust geschrieben haben soll. Um die Eiche herum baute die SS den elektrischen Stacheldrahtzaun um das Häftlingslager, nachdem ein Teil des Buchenwalds gerodet war. (Im August 1944, bei einem amerikanischen Luftangriff auf die Rüstungswerke des Lagers, geriet die Eiche in Brand, der verkohlte Stamm wurde gefällt; es blieb nur ein Stumpf.)
Auch wenn man nicht glaubt, dass Gut und Böse davon abhängen, welche Bücher jemand liest (und ob überhaupt), ist das Gedankenspiel sehr verlockend, weil es im Kern so tröstlich ist. Die Kultur schützt einen vor der Barbarei. Als ich darauf stieß, dass Ilse Koch - je nachdem, von wo man seine Informationen bezieht - in der Buchhaltung einer Dresdner Firma arbeitete, oder in einer Buchhandlung, oder dass sie sich in einer Buchhandlung zur Bibliothekarin ausbilden lassen wollte (etc.), überlegte ich mir, dass das ein guter Ausgangspunkt für eine Annäherung an die Hexe alias Bestie alias Kommandeuse von Buchenwald sein könnte. Man könnte eine Geschichte mit einer Hauptfigur schreiben, deren Verstrickung oder Nicht-Verstrickung in die NS-Verbrechen davon abhängt, ob sie - die Klischees sehe man mir bitte nach, bei lesenden Buchhaltern entschuldige ich mich ausdrücklich - den Zugang zur Welt der Bücher findet (höhere Werte) oder in einer Welt des Materiellen, des Geldes und der Zahlen (die Buchführung) stecken bleibt. Als ich noch darüber nachdachte, ob das ein tragfähiges Modell sein könnte, fiel mir ein, dass es etwas in der Art schon gibt: Bernhard Schlinks Roman Der Vorleser.
Schlink verstellt seiner Heldin den Zugang zur Welt der Bücher, indem er sie zur Analphabetin macht. Hanna Schmitz war KZ-Aufseherin, wird in der BRD zu einer lebenslangen Freiheitsstrafe verurteilt, lernt im Gefängnis lesen und begeht nach 18 Jahren Haft, in der Nacht vor ihrer Entlassung, Suizid. Die naheliegende Interpretation ist die, dass sie sich erst durch das Lesen der ganzen Tragweite der NS-Verbrechen und ihrer Beteiligung daran bewusst wurde und sich erhängt hat, weil sie sich nicht vorstellen konnte, wie sie mit dieser Schuld in der bundesrepublikanischen Gesellschaft leben sollte. Dieses Ende ist traurig und enthält doch eine hoffnungsfrohe Botschaft. Wie wäre es umgekehrt gewesen, darf sich der Leser des Romans fragen (auch wenn der Autor das in Interviews zurückweist)? Wie hätte Hanna sich im Dritten Reich verhalten, wenn sie keine Analphabetin gewesen wäre? Daraus lässt sich ein starkes Plädoyer für Bildung und Kultur ableiten.
David Hare, würde ich vermuten, fand das - gepaart mit der von Schlink beigegebenen Liebesgeschichte - auf eine Weise bittersüß, die ihm widerstrebte. Von Hare stammt das Drehbuch zur Verfilmung mit Kate Winslet. Lena Olin spielt darin die Jüdin, die als Kind einen von Hanna und anderen beaufsichtigten Todesmarsch überlebt hat. Sie sagt Sätze, die es im Roman nicht gibt - Sätze darüber, dass der Holocaust und die Lagererfahrung für keinerlei Lektion taugen, dass sich durch sie weder etwas lernen noch irgendeine Form von Trost aus ihnen ziehen lässt. Wer Katharsis wolle, meint sie (inzwischen Hares und nicht mehr Schlinks Figur), solle ins Theater gehen oder ein Buch (wie Der Vorleser?) lesen. Ob Oprah Winfrey ihren Fans den Roman auch empfohlen hätte, wenn er mit einer so radikalen Absage an alle Sinnstiftungsversuche enden würde, weiß ich nicht. Zweifel sind erlaubt.
Während zu beiden Seiten des Atlantiks debattiert wurde, ob Schlinks Bestseller ein Meisterwerk der deutschen Literatur sei, Gefühlskitsch für sexuell frustrierte Hausfrauen oder gar Holocaust-Pornographie, meldete sich ein Professor aus Nottingham zu Wort, der angab, das reale Vorbild für Hanna Schmitz zu kennen und vom Observer als Autorität in Sachen Schlink und Der Vorleser eingeführt wurde, was andere dann fleißig abschrieben, weil Kate Winslet ein halbes Dutzend Filmpreise abräumte, was für immer neue Artikel über die Rolle und die "echte" Hanna gut war. Bill Niven, so der Name des Experten (Autor bzw. Herausgeber mehrerer Bücher über die Auseinandersetzung der Deutschen mit der NS-Vergangenheit), hatte sich im Jahr davor ein Wortgefecht mit Günter Ackerman geliefert, dem "Roten Webmaster" der "Kommunistischen Internet-Zeitung", und den Nicht-Dialog für beendet erklärt, als ihn Ackerman per suggestiver Fußnote in die Nähe des Holocaust-Leugners David Irving rückte. Der "Rote Webmaster" hatte damals die Gelegenheit nicht ungenutzt verstreichen lassen, wieder einmal an die angeblichen, aus der Ausstellung in der Gedenkstätte Buchenwald entfernten "Liebhaberstücke" der Ilse Koch zu erinnern. Der Lampenschirm, Herrn Ackerman zufolge "aus Menschenhaut gemacht […] und mit besonders schönen Tätowierungen versehen", durfte dabei selbstverständlich nicht fehlen. Merke: Ein Lampenschirm aus Menschenhaut ist gut. Ein Lampenschirm aus Menschenhaut mit bunten Tätowierungen ist noch viel besser. So wird aus einer Gedenkstätte ein Horrorkabinett. Und sogar die DDR, mir als triste Veranstaltung mit Grauschleier erinnerlich, kriegt im Rückblick etwas Farbe.
"Keine andere bekannte KZ-Aufseherin", teilte Professor Niven dem Observer ein paar Monate nach dem Scharmützel mit dem "Roten Webmaster" mit, weise so viele biographische Übereinstimmungen mit Hanna Schmitz auf wie Ilse Koch. Dem Experten bescherte das viel Publicity, und natürlich wurde wieder der mit Menschenhaut bespannte Lampenschirm hervorgekramt, den es im Roman und in der Verfilmung nicht gibt, wohl aber in den Archiven der Zeitungen, die ihren Lesern nun berichteten, wer Hanna Schmitz in Wirklichkeit gewesen sei. Schlink hat seiner Kunstfigur ein paar Attribute beigegeben, bei denen man durchaus an Ilse Koch denken kann. Eindeutig falsch ist die Behauptung von Experte Niven, dass diese Aufseherin gewesen sei. Sie war die Ehefrau eines KZ-Kommandanten und die Mutter seiner Kinder. Eben das wurde ihr zum Verhängnis. Wäre sie Aufseherin in einem Konzentrations- oder Vernichtungslager gewesen, mit klar umrissener Funktion und ihr zweifelsfrei nachgewiesenen Verbrechen, hätte man sie mit an Sicherheit grenzender Wahrscheinlichkeit spätestens Mitte der 1950er aus der Haft entlassen. Als Kommandantengattin starb sie hinter Gittern. Die Lampenschirm-Ilse passte vielen in den Kram, weil man so tun konnte, als nähere man sich in der mit Monstern und tätowierter Menschenhaut ausgestatteten Geisterbahn dem Dritten Reich an. Tatsächlich war ein Schreckgespenst wie "Die Hexe von Buchenwald" dabei behilflich, sich von den NS-Verbrechen und den Tätern zu entfernen, damit man sich neuen Zielen (und neuen Feinden) zuwenden konnte.
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