Die Macht des Case-Managers beim ALGII

Sozial ist, was Arbeit schafft - Teil 5: Von positiven und negativen Ermessensspielräumen

Der folgende Beitrag ist vor 2021 erschienen. Unsere Redaktion hat seither ein neues Leitbild und redaktionelle Standards. Weitere Informationen finden Sie hier.

Bei der Diskussion um die Höhe der Leistungen nach der ALGII-Gesetzgebung wird oft angemerkt, dass Studenten beispielsweise auch keine höheren Geldbeträge zur Verfügung haben. Das Ergebnis dieser Überlegung ist dann, dass demzufolge der Regelsatz gar nicht zu knapp bemessen sein kann, wenn denn auch Studenten mit diesem Geld scheinbar problemlos über die Runden kommen. Dabei wird vergessen, dass sich die Lebenssituation des Studenten und die des Leistungsempfängers erheblich unterscheiden. Auf der einen Seite derjenige, der sich aus freiem Willen entscheidet, temporär mit wenig Geld auszukommen, um nach dieser "mageren Zeit" dann die "fette Zeit" mit einem hoffentlich gut bezahlten Arbeitsplatz zu ersetzen; auf der anderen Seite derjenige, der sich die Arbeitslosigkeit in vielen Fällen nicht aussuchte, der teilweise auch bereits viele Jahre gearbeitet hat und nun als Folge von Einsparungsmaßnahmen oder Automatisierung gezwungen ist, mit diesem geringen Betrag auszukommen, ohne dass eine Aussicht auf künftige "fette Jahre" überhaupt vorhanden ist.

Die ALGII-Gesetzgebung hat mit dem Regelsatz dieses "Über-einen-Kamm-Scheren" zum Prinzip erhoben. Zyniker kommentierten den Regelsatz sowie den Wegfall vieler Beihilfen bereits mit dem Witz über den Nagelschneideautomaten, der für 1 Euro die Nägel schneidet. Darauf angesprochen, dass doch die Hände und Nägel bei jedem verschieden sind, antwortet der Erfinder lässig: Aber nur vor dem Nagelschneiden.

ALGII funktioniert insofern ähnlich, als dass der Leistungsbeantragende/-empfänger bei Antragstellung noch als Individuum fungiert, welches z.B. auch über seine intimen Angelegenheiten Auskunft geben muss damit die spezifischen "Vermittlungshemmnisse" aufgedeckt und abgeschafft werden können. Geht es jedoch um die Leistung an sich, so wird aus dem Individuum der Leistungsempfänger nach Schema F.

Ein Regelsatz für alle

Wer sich die Zusammensetzung des Regelsatzes ansieht, findet beispielsweise den Posten Versicherungen, der 2,18 Euro ausmacht. Legt man die Versicherungen zu Grunde, die man schon aus praktischen und sozialen Gründen haben sollte (private Haftpflicht für den Fall, dass man einen Schaden verursacht und nicht will, dass der Geschädigte auf diesem Schaden "sitzenbleibt", Hausratversicherung), so ist klar, dass der vorgenannte Betrag die Leistungen nicht abdecken kann. Eine Einzelfallentscheidung, bei der der Sachbearbeiter sich jede einzelne Versicherung begründen lässt und dann an Hand von Richtlinien entscheidet, ist aber nicht mehr möglich, der Regelsatz ist die Obergrenze, nicht jedoch die Untergrenze. Für denjenigen, der nach 10 Jahren seine Arbeit verliert und nach 1 Jahr in den ALGII-Bezug rutscht, bedeutet dies somit entweder seine Versicherungen zu kündigen oder aber bei anderen Posten des Regelsatzes zu sparen. Rechnet man die Posten einmal durch, ergibt sich jedoch kaum Spielraum.

Hinsichtlich der Wohnungseinrichtung liegt beispielsweise die Problematik vor, dass nach etlichen Jahren der Beschäftigung ganz andere "Werte" vorhanden sind als bei jenem, der noch nie gearbeitet hat. Statt der Bananenkiste und dem Umzugskarton für die Bücher sind Regale angeschafft worden, der Heißwasserbereiter steht nicht mehr auf dem Hocker aus dem Sperrmüll, sondern in der Einbauküche usw. (es wurden betont einfache Beispiele zur Veranschaulichung gewählt). Für den Leistungsempfänger ist also eine Hausratversicherung schon deshalb sinnvoll, um nicht bei einem Brand o.ä. vor dem Nichts zu stehen. Denn ob dann eine Beihilfe für eine Neu-/Erstausstattung der Wohnung gezahlt wird, liegt im Ermessen des Sachbearbeiters, eine einheitliche Regelung oder gar ein Anspruch besteht nicht. Die Eigenverantwortung des Betroffenen wird hier aber nicht dadurch honoriert, dass die Hausratversicherung ggf. zusätzlich übernommen wird, vielmehr werden im Regelsatz 27,70 Euro monatlich für Möbel und ähnliches eingerechnet, die der Betroffene monatlich zurücklegen soll, um für Neuanschaffungen vorbereitet zu sein. Wie ein Betroffener nach einem Wohnungsbrand ohne Hausratversicherung von jährlich zurückgelegten 332,40 Euro seine Wohnung neu einrichten soll, ist nicht dokumentiert.

Hier zeigen sich deutlich die Unterschiede zwischen jenen, die schon jahrelang im Arbeitsleben standen, und jenen, die sich darauf vorbereiten, nach einer "Durststrecke" dieses zu betreten.

Warum Versicherungen zahlen, wenn diese nicht vorhanden sind?

Theoretisch müssten solche Überlegungen, wenn auch aus einer anderen Warte betrachtet, selbst denjenigen einleuchten, die den Regelsatz für ausreichend oder zu hoch einstufen. Denn warum sollte der, der keinerlei Versicherungen hat, dennoch monatlich 2,18 Euro für Versicherungen erhalten, während demjenigen, der monatlich 5,36 Euro Versicherungskosten abgelten muss, diese 2,18 Euro fehlen?

Offiziell wurden die Regelsätze als eine Möglichkeit für Leistungsempfänger bezeichnet, eigenverantwortlich zu handeln. Tatsächlich stellt sich die Situation so dar, dass es bezüglich der Eigenverantwortung lediglich negative Ermessensspielräume gibt. Neben den Versicherungen sind die im Regelsatz enthaltenen Stromkosten dafür ein Paradebeispiel. Diese werden auf monatlich 20,74 Euro festgesetzt. Nehmen wir jetzt an, dass die Wohnung vorher von zwei Personen bewohnt wurde, so dass der Abschlag nun bis zur ersten Abrechnung höher ist. In der Eigenverantwortung des Leistungsempfängers liegt es nun, diese höheren Stromkosten durch Einsparungen bei anderen Posten auszugleichen, denn ein vorübergehendes Darlehen oder ähnliche temporäre Leistungen um den erhöhten Satz auszugleichen, sind im Gesetz nicht vorgesehen. Anders ist dies aber, wenn dem Betroffenen keine Stromkosten entstehen, weil er in einem Heim lebt, in dem die Stromkosten bereits abgegolten sind. Hier liegt es nicht in der Eigenverantwortung, durch die im Regelsatz enthaltenen Beträge andere Posten abzugelten (z.B. die eingangs erwähnten Versicherungen), so dass der Regelsatz vielmehr um die für Strom vorgesehenen Kosten reduziert werden kann. Selbst die Ernährungskosten können theoretisch gekürzt werden, wenn z.B. durch Tafeln ein Teil der Kosten durch den Betroffenen eingespart wird.

Krank oder gesund?

Eine ähnliche Betrachtung ergibt sich bei den Kosten für die Gesundheit. 13,17 Euro sind monatlich hierfür vorgehen, da die Befreiung von Zuzahlungen für ALGII-Bezieher nicht mehr vorgesehen ist und z.B. eine Brille nicht mehr von der Krankenkasse gezahlt wird, reißt schon eine Brille ein monatelang andauerndes Loch in die ALGII-Kasse des Betroffenen. Laut offizieller Rechtssprechung ist es dem ALGII-Empfänger zuzumuten, einen Monat lang lediglich mit 245 Euro auszukommen, um von den 100 Euro eine Brille zu finanzieren. Als Begründung galt hier übrigens, dass auch Asylbewerber nicht mehr als 224,97 Euro zur Verfügung haben.

3 Euro sind, auf den Monat umgelegt, schon für die Praxisgebühr zu veranschlagen. Auch hier sind Mehrbedarfsregelungen nicht vorgesehen, diese gibt es lediglich für Schwangere, für allein erziehende Arbeitslose, gestaffelt nach der Kinderzahl, für erwerbsfähige behinderte Menschen, die Leistungen der Eingliederungshilfe erhalten, und für erwerbsfähige Bedürftige, die einer kostenaufwändigen Ernährung bedürfen. Wer also beispielsweise ein Rückenleiden hat und sich Krankengymnastik oder Massagen leisten muss, um die Schmerzen zu lindern, wird diesen Posten nicht nur komplett aufbrauchen, sondern auch an anderen Stellen sparen müssen, um nicht auf diese Gesundheitsförderungsmaßnahmen verzichten zu müssen. Wer jedoch nur selten den Arzt aufsuchen muss und sich einer guten Gesundheit erfreut, kann die im Regelsatz enthaltenen Kosten für die Gesundheit anderweitig ausgeben.

Hier werden kranke, gesunde, alte und junge Menschen, unabhängig von ihrer spezifischen Lebenssituation, gleichbehandelt, begründet durch die vermeintliche Eigenverantwortung, die durch den Regelsatz gefördert wird.

Der Wegfall der Beihilfen bzw. deren Integration in den Regelsatz wurde unter anderem auch als ein Beitrag zum Bürokratieabbau gesehen. Die Leistungsempfänger sollten so nicht dauernd mühsam Beihilfen beantragen und Auskunft über ihre Lebenssituation geben müssen. Dies würde auch dazu führen, dass die Leistungsempfänger sich weniger wie Bittsteller, denn wie selbständige Kunden fühlen. Herausgekommen ist jedoch eine Situation, die zu extremen finanziellen Einbußen führen kann (und meist wird), zudem ist auch der positive Ermessensspielraum durch die Gesetzgebung, die finanziell alles wasserdicht absichern wollte, quasi abgeschafft worden.

Das Ermessen des Sachbearbeiters

Anders sieht es mit den negativen Ermessensspielräumen aus, die der Sachbearbeiter, neudeutsch Case Manager genannt, weiterhin besitzt. Diese wurden sogar noch ausgebaut. Der Case Manager entscheidet eigenverantwortlich über Kürzungen der Leistung z.B. bei einer nicht angetretenen oder einer selbst gekündigten Anstellung. Die Probezeit beispielsweise, die normalerweise dazu dient, sowohl dem Arbeitgeber als auch dem Arbeitnehmer die Möglichkeit einer unbürokratischen Trennung zu geben, ist für ALGII-Bezieher mittlerweile ein Vabanque-Spiel mit dem Case Manager. Dies gilt auch bei Zuverdiensttätigkeiten, so dass derjenige, der beispielsweise einen 400-Euro-Job ausübt, bei einer Aufgabe dieser Tätigkeit ohne vom Case Manager als stichhaltig anerkannte Gründe (z.B. gesundheitliche Gründe) mit Kürzungen seiner Leistungen rechnen muss, weil er eigenverantwortlich seine Bedürftigkeit erhöht hat. Wer sich also einmal für einen Zuverdienst entschieden hat, muss diesen weiterführen, um nicht mit Kürzungen rechnen zu müssen. Oder er muss sehr gute Gründe haben, die den Case Manager überzeugen, dass eine Sanktion nicht notwendig ist.

Auch die Ablehnung eines ggf. sittenwidrig oder gegen Gesetze verstoßenden Arbeitsangebotes (z.B. die Tätigkeit in einem Callcenter, welches eindeutig gegen das UWG verstößt, indem es Coldcalls bei Privatmenschen mit Hilfe des Telefonbuches tätigt) kann vom Case Manager mit Sanktionen beantwortet werden, hierbei hat der Betroffene dann die Möglichkeit, Widerspruch einzulegen oder zu klagen. Bis zur Entscheidung tritt die Kürzung in Kraft. Da das ALGII die Grundsicherung darstellt, werden die entstehenden finanziellen Einbußen durch keine vorübergehende Leistung oder ein Darlehen etc. kompensiert.

HartzIV, wie die ALGII-Gesetzgebung weiterhin genannt wird, begann mit Zielen, die sich insbesondere für die Betroffenen als positiv darstellten. Nunmehr jedoch ist es zu einem finanziellen und gesellschaftspolitischen Fiasko geworden, was von Politikern weiterhin dafür genutzt wird, Bevölkerungsgruppen gegeneinander auszuspielen. Die Zahlen und Fakten sind für jedermann nachprüfbar, dennoch werden nicht zuletzt etliche Massenmedien dafür sorgen, dass sich die falschen Zahlen weiterhin stärker verbreiten als die richtigen. Eine Missbrauchsquote von 20-25%, beim Talk mit Sabine Christiansen erwähnt, verbreitet sich schneller als die kleinen Richtigstellungen und dergleichen. Es bedarf einer sehr sachlichen und intensiven Auseinandersetzung mit dem Thema, gerade auch in den kleineren Zeitungen usw, so dass es möglich wäre, die zunehmende Desinformation und die daraus folgende Wut auf die ALGII-Empfänger zu beenden. Doch an dieser besteht wenig Interesse.

Etwas Positives am Schluss

Wenigstens für einen hat sich diese Artikelserie auf jeden Fall gelohnt: Arndt, der arbeitslose Softwareentwickler aus dem ersten Teil hat nach diesem Artikel diverse Stellenangebote erhalten und wird in Kürze seine neue Tätigkeit beginnen. "Ich bin den Leuten sehr dankbar, die mir geholfen haben", sagt er. "Ich fühle mich schon fast wieder wie ein Mensch nach so vielen Jahren."