Die NATO im Kalten Krieg

Seite 2: NATO-Doppelbeschluss und INF-Vertrag

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Vielleicht auch aufgrund des sich abzeichnenden Scheiterns in Vietnam, auf jeden Fall aber provoziert durch die nukleare Aufrüstung der Sowjetunion, die zu einer Patt-Situation geführt hatte, entwickelte die NATO ab Ende der 1960er Jahre eine Zwei-Pfeiler-Strategie, die ein Jahrzehnt später im sogenannten "Doppelbeschluss" ihren Höhepunkt erfahren sollte: Zur Verringerung nuklearer Risiken wurde die Strategie der "massiven Vergeltung" durch ein duales System ersetzt, das einerseits aus Aufrüstung im Bereich sogenannter taktischer Nuklearwaffen und im konventionellen Bereich bestand und andererseits auf Entspannungspolitik setzte. Sicherheit wurde fortan definiert als Kombination aus Verteidigung und Entspannung. Die vordergründig widersprüchlichen Vorgehensweisen sollten sich als eine Art Zuckerbrot und Peitsche ergänzen.

In diesem Geist wurde schließlich am 12. Dezember 1979 der NATO-Doppelbeschluss gefällt: Vorausgegangen war eine Aufrüstung der UdSSR durch SS-20-Mittelstreckenraketen. Moskau rechtfertigte dies als "Nachrüstung", um das atomare Gleichgewicht wiederherzustellen, während die NATO sich nun wieder im Hintertreffen sah - ein "Spiel", das die beiden Supermächte abwechselnd immer wieder spielten.

Startbereite Pershing-II-Raketen. Bild: Frank Trevino / Department of Defense

Als Reaktion beschloss die NATO, mit Atomsprengköpfen bestückte Raketen (Pershing II und BGM-109-Tomahawk) in Westeuropa aufzustellen. Gleichzeitig verlangte sie bilaterale Abrüstungsverhandlungen der Supermächte, um ihre atomaren Mittelstreckenraketen mit einer Reichweite zwischen 1.000 und 5.500 km zu begrenzen, wobei die französischen und ein Teil der britischen Atomraketen davon ausgeklammert blieben.

"Nachrüstung" und Rüstungskontrolle sollten sich also ergänzen, doch die entsprechenden Verhandlungen in Genf scheiterten im November 1982. Ungeachtet riesiger Proteste der Bevölkerung und des großen Einsatzes der Friedensbewegung beschloss der Deutsche Bundestag am 22. November 1983 die Stationierung neuer Atomraketen. Erst als 1985 Michail Gorbatschow den USA weitreichende atomare Abrüstung anbot, kam wieder etwas Bewegung in das Ganze. Im Dezember 1987 unterzeichneten Gorbatschow und Ronald Reagan den INF-Vertrag und erreichten dadurch einen schrittweisen Abzug der Raketen aus Mitteleuropa.

Etwas mehr als 30 Jahre hielt der INF-Vertrag, bis Ende 2018 US-Präsident Donald Trump den Ausstieg aus dem Papier verkündete. Wechselseitige Schuldzuweisungen erinnern an den Kalten Krieg: Russland "rüstet auf" (oder, aus eigener Sicht, "nach"), die USA müssen (aus ihrer Sicht) "nachrüsten" (oder aufrüsten). Die ganze Dimension des INF-Ausstiegs der USA erstreckt sich jedoch nicht nur auf Europa, sondern spielt sich vermehrt im pazifischen Raum ab, da ein großer Teil der Raketen Chinas unter den INF-Vertrag fallen würden. Weil Peking nicht Vertragspartner ist, muss es sich diesbezüglich an keine Begrenzungen halten. Aus diesem Grund war der INF-Vertrag Washington zunehmend nur noch ein Klotz am Bein.

Ronald Reagan und Michail Gorbatschow unterzeichnen den INF-Vertrag (1987). Bild: White House Photographic Office

Inmitten der Kriege, Krisen und Spannungen des Kalten Kriegs gab es zugleich mit der ersten Konferenz über Sicherheit und Zusammenarbeit in Europa (KSZE) in Helsinki ab 3. Juli 1973 eine wichtige Initiative der Entspannung und Abrüstung. Weitere Treffen der KSZE folgten, bis sie schließlich 1995 zur Organisation für Sicherheit und Zusammenarbeit in Europa (OSZE) umgewandelt wurde.

Wie verhielt sich in dieser Zeit der Nordatlantikpakt? Lange Zeit hatte er kein weiteres Mitglied mehr aufgenommen - nach den zwölf Gründungsmitgliedern von 1949 waren 1952 nur noch Griechenland und die Türkei sowie 1955 die BRD beigetreten. 1982 wurde Spanien das 16. Mitglied der NATO. Die nächste Erweiterung sollte erst ab 1999 stattfinden - Jahre nach dem Ende des Kalten Kriegs und mit schwerwiegenden Folgen für das Verhältnis zu Russland.

Hatte die Friedensbewegung anfangs der 1980er Jahre mit ihren Ostermärschen für großes Aufsehen gesorgt, so gelang es ihr dennoch nicht, die Stationierung neuer atomarer Mittelstreckenraketen zu verhindern. Ungeachtet massiver Proteste der Bürgerinnen und Bürger der Mitgliedstaaten trainierte das Transatlantische Bündnis den Atomkrieg und führte ab 2. November 1983 europaweit ein Able Archer 83 genanntes zehntägiges Manöver durch.

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Besonders bitter erscheint aus der Sicht der Friedensbewegung, dass es dieser nicht nur nicht gelang, Abrüstungsverhandlungen zu erreichen, sondern dass letzten Endes die Strategie von US-Präsident Ronald Reagan, durch massive Erhöhung der Verteidigungsausgaben die UdSSR quasi bankrott zu rüsten und sie so zu Verhandlungen zu zwingen, vordergründig aufging. Doch während Reagan von SDI (Strategic Defense Initiative, auch Star Wars genannt, einem Vorgänger des gegen Russland gerichteten Raketenschilds in Osteuropa) träumte und die Zivilgesellschaft ihre Ohnmacht auch innerhalb einer liberalen Demokratie erkennen musste, blieb es dem neuen Generalsekretär der KPdSU, Michail Gorbatschow, vorbehalten, endlich Bewegung in die Abrüstungsverhandlungen zu bringen.

Doch die größte Herausforderung für die Existenz der NATO sollte erst noch kommen: das Ende des Kalten Kriegs durch die Selbstauflösung von UdSSR und Warschauer Pakt. Damit verlor das westliche Bündnis quasi über Nacht seinen Kontrahenten und damit auch die entscheidende Legitimationsquelle für die eigene Existenz. Angesichts fehlender sicherheitspolitischer Aufgabenstellungen und konfrontiert mit drohender Irrelevanz, beschloss die NATO deshalb anfangs der 1990er Jahre, sich neue Ziele zu stecken.

Angetrieben von den USA, die das Transatlantische Bündnis nun immer offener sichtbar als ihren verlängerten Arm und für ihren Einfluss auf Europa verwendeten, beschloss der Nordatlantik-Pakt, zukünftig "Out-of-Area" zu intervenieren. Die größte dieser militärischen Interventionen war der Kosovo-Krieg 1999, auf dessen Höhepunkt sich die NATO auch formal vom Verteidigungs- zum Interventionsbündnis wandelte. Es war zugleich das Geschenk zum fünfzigsten Geburtstag - ein Geschenk, das dem Bündnis vor allem seinen Fortbestand sichern sollte. NATO-Oberkommandierender General Wesley Clark meinte <2 dazu:

This conflict about Kosovo became a test of NATO's role in post-Cold War Europe. NATO itself was at risk of irrelevance or simply falling apart following a defeat.

Wesley Clarkj

Teil 3: Die NATO seit dem Ende des Kalten Kriegs. Von Osterweiterung, Transformation zu Einsätzen außerhalb des Bündnisgebiets, Ressourcenkampf, neuen Kriegen und Dauerrivalität mit Russland: die NATO als Sicherheitsrisiko in Europa.