Die Partei der Alternativlosigkeit sucht einen neuen Vorsitzenden

Foto (September 2017): Sven Mandel/CC BY-SA 4.0

Zwischen Bauch, Herz und Kopf: Die Anatomie der CDU

Es ist in der Politik nichts und niemand alternativlos.

Friedrich Merz

Politik kann nicht die Abschaffung jeder Ungerechtigkeit bringen.

Armin Laschet

Wer zuletzt lacht, lacht am Röttgen.

Jan Böhmermann

"Hör' auf dein Bauchgefühl!" Wäre die CDU ein Mensch, und würde sie diesen Ratschlag befolgen, dann müsste sie sich bei ihrem Parteitag am 16. Januar vermutlich für Friedrich Merz entscheiden. Denn der verkörpert seit langem das Unterbewusstsein der Mehrheit der CDU-Mitglieder in den Jahren der Physikerin des Meinungsausgleichs und der Machtmechanik auf dem Kanzlerstuhl.

Aber noch wichtiger als die Begeisterung auf Parteitagen ist der CDU der Machterhalt, da bleibt sie der alte Kanzlerwahlverein aus Adenauers Zeiten. Und darum dürften sich am Ende viele CDU-Parteitagsdelegierte aus Rationalität und Interessensabwägung doch nicht für den politischen Büttenredner Friedrich Merz entscheiden und stattdessen eine Lösung bevorzugen, die möglichst viele Wechselwähler anzieht und möglichst wenig "Merkel-Christdemokraten" abschreckt, die aus Sympathie für die Kanzlerin und gegen deren Partei ihr Wahlkreuz bei der Union gemacht haben.

Kein Favorit

In zwei Wochen entscheidet die CDU bei einem "digitalen Parteitag" über ihren nächsten Vorsitzenden und vermutlich auch den kommenden Kanzlerkandidaten. Und da seit 1949 der CDU-Vorsitzende in den allermeisten Fällen auch der Bundeskanzler wurde, lohnt sich der genauere Blick auf die Alternativen in der Partei der Alternativlosigkeit.

Es gibt bislang keinen klaren Favoriten zwischen den drei Kandidaten: Friedrich Merz führt viele Umfragen an, so wie vor dem Hamburger Parteitag, bei dem er im November 2018 gegen Annegret Kramp-Karrenbauer unterlag; Armin Laschet scheint der Favorit der Partei-Apparatschiks und der schweigenden Mehrheit zu sein und als Merkel-Mann mit Regierungserfahrung in jeder Hinsicht Kontinuität zu verkörpern; Norbert Röttgen, den anfangs niemand für voll nahm, hat erheblich aufgeholt und sich in manchen Umfragen zuletzt nach vorne geschoben.

Solche Umfragen sind allerdings mit großer Vorsicht zu lesen: Nach was genau wird gefragt? Parteivorsitz, Kanzlerkandidatur oder beides? Und wer wird gefragt? Nur die Parteimitglieder? Unionswähler oder -sympathisanten, also auch die Bayern? Oder gar alle Wähler, also auch Parteimitglieder der Linken, die am Ende wohl kaum für irgendeinen der drei stimmen würden oder die gar nach der Maßgabe antworten, was für ihre Partei am günstigsten wäre?

Es geht bei der CDU-Vorsitzwahl um mindestens eine Richtungsentscheidung: Die zwischen einer Orientierung hin zur Mitte und einem Wiederaufwärmen des Profils einer konservativeren Union. Das ist heute die offene Frage. Die CDU muss sich entscheiden, ob sie auch nach Merkel weiter die Partei der Mitte sein will, oder ob sie diese Mitte einem Politiker wie dem SPD-Kanzlerkandidaten Olaf Scholz preisgibt. Gegen Merz wird Olaf Scholz als frischer Mann und Kandidat der Sicherheit erscheinen. Gegenüber Röttgen wiederum sähe Betonkopf Scholz ziemlich alt aus.

Zudem sollte man eine der wichtigsten Fragen nicht völlig vergessen: Warum gibt es jetzt überhaupt Vorstandswahlen? Weil Annegret Kramp-Karrenbauer an der CDU-Spitze gescheitert ist. AKK war zu führungsschwach, sie hat Absehbares zu spät kommen sehen, gezaudert, hat auch konkrete Fehler gemacht. Aber sie wurde auch von ihren Feinden zur Strecke gebracht. Und von einem Konzert interessierter Medien. All dies darf sich die CDU kein weiteres Mal erlauben. Der zweite Schuss muss sitzen.

Es geht um alles bei der CDU

Es geht also Mitte Januar um alles bei der CDU. Es geht um die taktische Aufstellung für den kommenden Bundestagswahlkampf im Herbst und bei den vorangehenden Landtagswahlen. Diese Landtagswahlen können im Übrigen bereits schnell wieder alles über den Haufen werfen, was in zwei Wochen entschieden wird, und jedes Kalkül zerstören.

Es geht aber noch mehr um die strategische Ausrichtung der Partei: Welche Schichten und Milieus der Gesellschaft sollen auch mittelfristig erreicht und bedient werden? Welche Parteien sind potentielle Bündnispartner und in welchen Fragen?

Und es geht um die Programmatik: Wofür steht die CDU? Versteht sie sich selbst als eine konservative Partei? Als eine liberale? Als eine neoliberale? Und wofür stehen diese Begriffe? Was meint die CDU, wenn sie von sozial spricht? Von Mitte?

Der eine Lackmustest ist hierbei das Verhältnis zu Merkel. Es ist kein Geheimnis, dass Laschet ein Merkel-Gefolgsmann ist, während zwischen Merz und Merkel kein Verhältnis existiert - so weit dass Merkel im Extremfall zuzutrauen wäre, dass sie nach einer Merz-Wahl die Kanzlerschaft vorzeitig hinschmeißt. Röttgen hat seine Distanz zur Kanzlerin unter Kontrolle.

Aber so einfach ist es nicht. Denn einerseits könnte Merz seine Partei auch im Falle eines Sieges nicht einfach umkrempeln und eine große Absetzbewegung vom Merkel-Kurs einleiten. Umgekehrt hat Laschet zuletzt immer öfters Gegenpositionen zur Kanzlerin eingenommen.

Das zweite Unterscheidungsmerkmal sind die Koalitionsoptionen. Merz steht auch hier für eine konservative Wende und einen Lagerwahlkampf, zwischen einem rechten, "bürgerlich"-"liberal" genannten, tatsächlich weder bürgerlichen noch liberalen, sondern rechtskonservativem und kleinbürgerlich dominierten Lager, und Gegnern, die Merz als "sozialistisch", "planwirtschaftlich", "utopistisch" und "verbotsorientiert" brandmarken würde. Solche Rote-Socken-Kampagnen mögen in den 1990er Jahren funktioniert haben, heute greifen sie nicht mehr.

Merz bevorzugtes Bündnis Schwarz-Gelb dürfte keine Mehrheit bekommen, die Beteiligung der AfD ist moralisch ausgeschlossen, die Grünen will und versteht er nicht - deswegen wäre Merz paradoxerweise als Vertreter der Disruption am ehesten der Kandidat für eine Fortsetzung der Großen Koalition.

Laschet steht für Jamaika. Die Beteiligung der FDP wäre ihm lieber, als allein mit den Grünen regieren zu müssen. Aber in der Partei steht Laschet für kein bisschen politischen Aufbruch, sondern für eine Fortsetzung des programmatischen Wackelpuddings: Ungreifbar, geschmeidig, nicht festzulegen, flexibel bis zur Unerkennbarkeit: Ein bisschen Grün, ein bisschen Braukohle, ein bisschen Freiheitsrechte, aber natürlich traditionelle Familie mit Gottesdienstbesuch am Sonntag, Schulen öffnen und Fleischfabriken nicht schließen. De facto eine bloße Fortsetzung der Ära Merkel ohne Merkel.

Röttgen vermittelt beide Positionen. Er hat in der Partei keine organisierte Gruppe hinter sich, was deswegen ein Vorteil sein kann, weil eine Niederlage von Merz gegen Laschet oder umgekehrt als Niederlage einer Parteihälfte gegen die andere und als deren Ausgrenzung empfunden werden könnte. In der CDU aber wünscht man sich möglichst keine solche Spaltung.

Ein neuer Vorsitzender muss in der Partei mehr noch als vor zwei Jahren integrieren können, nicht Repräsentant eines Lagers sein. Röttgen hat allerdings die Unterstützung der Jüngeren und vieler Frauen. Sein Programm ist Reform statt Disruption, Entschlossenes Auftreten statt Fahren auf Sicht. Und weil er in den Grünen den adäquaten Partner für ein wertkonservatives, gesellschaftspolitisch progressives Bündnis gefunden hat, wäre er der Mann für Schwarzgrün - und der Vorsitzende, der zugleich im Wahlkampf für die Grünen am unbequemsten wäre. Weil er ihnen am ähnlichsten ist.

Das dritte Unterscheidungsmerkmal sind die Persönlichkeiten der Kandidaten selbst. Und ihre potentielle Wirkung bei den Wählern. Die erkennbar problematischste Persönlichkeit von allen ist jene des Friedrich Merz. Unruhig, launisch, dauergekränkt, schnell reizbar, Zorn und innere Glut nur mühsam bezähmend, einen bösen Witz noch einmal den trockenen Hals herunterschluckend.