Die Quellen des Extremismus

Selbst wenn zwei Menschen dasselbe Wissen und die gleichen Wünsche haben, ziehen sie verschiedene Schlussfolgerungen daraus. Schlimmer noch: Sie bevorzugen dabei die extremen Seiten des möglichen Spektrums. Ökonomen erklären unser Verhalten mit einem neuen Modell.

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Dass die Lage im Irak vom Optimum weit entfernt ist, darüber sind sich alle US-Amerikaner einig. Ebenso darüber, dass ein demokratisches Zweistromland einem Gottesstaat nach iranischem Vorbild vorzuziehen wäre. Trotzdem sind die Menschen sich in ihren Schlussfolgerungen nicht einig - und folgen dabei tendenziell den extremen Seiten des Entscheidungsfreiraums. So fordern die einen ein umso härteres militärisches Durchgreifen, während die anderen für einen sofortigen Abzug aller amerikanischen Truppen plädieren. Ein bisschen hiervon und ein wenig davon - solche Vorschläge sind in der Regel deutlich unpopulärer.

Wenn nun Autor X diese Tatsachen in einem Telepolis-Artikel beschreibt, vollzieht sich im Kleinen ein ähnlicher Prozess: Obwohl die Telepolis-Leser, sollte man annehmen, sich durch die Bank einen qualitativ höchst wertvollen Text wünschen und sie ebenfalls gemeinsam die in der Realität stets vorhandenen Schwächen eines Artikels erkennen, bestehen die einen darauf, Herrn oder Frau X sofortiges Schreibverbot zu erteilen, während die anderen gleich und sofort viele weitere Artikel aus der selben Feder veröffentlicht sehen wollen (zugegebenermaßen überwiegt meist Reaktion 1). Ob nun im Großen oder im Kleinen, der Prozess führt jedenfalls in der Regel vom Optimum weg - meist sind „Ganz-oder-gar-nicht“-Entscheidungen eben nicht die, die zu den objektiv besten Ergebnissen führen.

Warum für Zwischentöne immer weniger Platz bleibt, wollen die Ökonomen Avinash Dixit von der Princeton University und Jörgen Weibull von der Stockholm School of Economics in einem Modell erklären, das sie in PNAS vorstellen, dem Fachmagazin der US-Akademie der Wissenschaften. Die einfachste Erklärung, dass die an der Willensbildung Beteiligten einfach nur in Wahrnehmung und Erklärung voreingenommen sind, genügt den renommierten Forschern nicht. Sie gehen vielmehr davon aus, dass politischen Prozessen eine ungesunde Tendenz zum Extremismus eigen ist, die sich aus ihrer Bimodalität speist - der Eigenschaft, dass sie zu einem von zwei möglichen Gipfeln streben. Dixit und Weibull gehen in ihrer Erklärung von einem Modell aus, dessen Grundlage zunächst ein fixer, aber vom Menschen in der Gesamtheit nicht erfassbarer Grundzustand der Welt ist. „Welt“ ist hierbei nicht unbedingt die Erde, sondern die Gesamtheit aller offenen und versteckten Variablen eines Systems. Was die Menschen sehr wohl beobachten können, ist die Politik (als die Summe aller bisherigen Entscheidungen), die den aktuellen Zustand der Welt herbeigeführt hat, sowie ein paar Indikatoren, die den Zustand der Welt beschreiben.

In unserer medial geprägten Gesellschaft nimmt die Anzahl der von den Konsumenten registrierten Faktoren wohl tendenziell ab - die Darstellung von Problemen wird etwa in BILD auf wenige Kernaspekte heruntergebrochen. Meist fordern Schlagzeilen eine bimodale Entscheidung des Lesers: Lieben oder Hassen, Ablehnen oder Akzeptieren. Was wir dabei beobachten, ist aber immer nur ein Index auf die tatsächlichen Prozesse, die sich in der Welt vollziehen: Im Irak zählen wir die toten US-Soldaten, in der Wirtschaft die Arbeitslosenrate. Diese Indices sind allerdings störbehaftet und oft nicht direkt mit der dafür grundsätzlich verantwortlichen Politik verknüpft. Die Arbeitslosenrate ändert sich eben auch in Anlehnung an die weltweite Konjunktur und die Jahreszeiten - nicht nur in Folge einer veränderten Wirtschaftspolitik.

Der Betrachter aktualisiert nun seine ursprüngliche Meinung über den Zustand der Welt anhand dieser störbehafteten Indikatoren. Genau dies berücksichtigen Dixit und Weibull in ihrem mathematischen Modell - und zeigen daraufhin, dass eben jenes Verhalten zu einer Polarisierung führen muss. Und zwar bereits ohne den Menschen Voreingenommenheit zu unterstellen. Weil Polarisierung in jeder Gesellschaft Schwierigkeiten aufwirft, gilt es, so die Forscher, daraus entsprechende Konsequenzen zu ziehen. Die Aufspaltung wird zum Beispiel erschwert, je mehr und je breitere Informationen den Menschen zur Verfügung stehen. Wenn, gerade in kontrovers diskutierten Fragen wie Militärpolitik oder Einwanderung, eine ausführliche Debatte geführt wird. Die Situation selbst muss genauer analysiert werden - und die Ergebnisse früherer Versuche, das betreffende Problem zu lösen, müssen breiter bekannt werden.