Die Sucht nach Umfragen

Die Präsidentschaftswahlen in den USA sind eine Inszenierung im Sinne der Mediendemokratie, aber was ist der Reiz an den Ergebnissen der permanenten Wahlumfragen?

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Mit Erstaunen wurde von Kerry-Anhängern vermerkt, dass ausgerechnet bei FoxNews Kerry nun bei den Wählern, die zur Wahl gehen wollen, einen Vorsprung von zwei Prozent besitzen soll. Das Ergebnis der Umfrage hat eine Fehlerwahrscheinlichkeit von 3 Prozent, sagt also nicht allzu viel und reiht sich ein in eine Flut anderer Umfragen, die die Neugier befriedigen wollen, wie diese Wahl ausgehen wird, auf die die ganze Welt mit Spannung schaut. Bei der letzten Umfrage von Gallup vor der Wahl liegt hingegen Bush mit 49 zu 47 Prozent vorne. Bei den registrierten Wählern liegt allerdings Kerry mit 48 zu 46 Prozent vorne. Alles ist möglich.

A day that will decide the fate of the world. For once, the cliché wheeled out by desperate politicians trying to terrify their lazier supporters into voting is no lie. This is indeed the most important American election of modern times. Indeed, it is arguably the most important single election of modern times.

Artikel aus dem heutigen Independent

Das Ergebnis der Präsidentschaftswahlen in den USA wird die Welt verändern, wenn auch wahrscheinlich nur in Nuancen. Doch die Wahl wird ganz in der schon von Bush nach dem 11.9. vorgegebenen Dichotomie von Gut und Böse, Schwarz und Weiß, Wir oder Sie, Busch oder Kerry inszeniert. Es scheint um die Zukunft Amerikas, vielleicht der Welt zu gehen, wenn die Stelle des Präsidenten der einzigen Supermacht besetzt wird. Aber ein Präsident ist nur das Tüpfelchen auf dem i, vor allem in den USA, wo bei dem Zweiparteiensystem die Unterschiede der maßgeblichen politischen Kräfte längst weitegehend eingeebnet sind und eine radikale Opposition chancenlos ist.

Freilich gibt es Unterschiede, und sie können wichtig sein: innen- und außenpolitisch. Doch die Themen sind vermutlich in den USA nicht primär, es handelt sich bei diesen Wahlen vor allem, wie dies für sogenannte Mediendemokratien schon länger prognostiziert wurde, um Persönlichkeitswahlen. Alles ist ein bisschen wie ein Boxkampf vor großem Publikum, nur dass die zwei Konkurrenten kaum die Chance haben, direkt gegen einander anzutreten. Und natürlich gleich dies auch der Politik, die Bush stets verfolgt hat. Eliminiert man den Gegenspieler und die Führungsmannschaft - Osama bin Laden und al-Qaida, Saddam Hussein und sein Regime -, dann ist die Schlacht gewonnen. Dass dies nicht zutrifft, hat zwar die Bush-Regierung deutlich genug demonstriert, aber angekommen ist es nicht im Wahlkampf, der sich an die Oberfläche und die Personen hält. Genauso polarisiert, surreal und (Bild)Medien-zugeschnitten ist der Wahlkampf: Ist Bush weg, wird alles gut oder zumindest besser, verliert der liberale Spuk Kerry, hat Bush die Chance, das Angefangene erfolgreich zu Ende zu führen. Und die Menschen glauben wieder, sie hätten die Möglichkeit, tatsächlich etwas zu bestimmen, weswegen sie an die Wahlurnen oder eher: Wahlcomputer drängen, um dort mit Überraschungen technischer Art versorgt zu werden.

Einzig in den vorher gut abgesprochenen, möglichst als Ritual durchgezogenen Fernsehduellen treffen die Kandidaten für das höchste in den USA aufeinander. Die Arena mitsamt den Kampfbedingungen lässt aber keinen offenen Austrag zu. Die Medien wollen die Aufmerksamkeit aufrechterhalten und begrenzen die Zeit der gesamten Diskussion und der einzelnen Redebeiträge so, dass nicht wirklich mehr als Slogans ohne jede Begründung gesagt werden können. Die Themen und die Gesamtinszenierung wurde zudem von den Wahlkampfstrategen festgelegt. Es geht zwar ums "Gewinnen", also wer den besseren Eindruck macht, wichtiger aber ist fast, sich keine Blöße zu geben.

Daher bleiben die Auftritte der Kandidaten vor Ort wichtig. Sie dienen zwar nicht dazu, sich it Themen kritisch auseinander zu setzen, die die Kandidaten vertreten, sondern sollen vornehmlich bestätigen, dass man sich für den richtigen Mann entschieden hat. Mehr als die immer gleichen Floskeln hört man auch hier nicht. Zudem findet alles in Separation statt, manchmal sind die Kandidaten nur einige Hundert Meter voneinander entfernt. Aber es sind Welten.

Von außen, aus der Ferne gesehen ist besonders beeindruckend an diesem Wahlkampf die durch zahlreiche Umfragen hochgeputschte Spannung. Der Wahlkampf gleich in diesem Fall weniger einem Boxkampf, sondern einem Marathonlauf, den die Kandidaten auf verschiedenen Strecken, aber mit dem Blick auf das gleiche Ziel hinter sich bringen. Wer als erster einlaufen wird, ist unbekannt, so finden ständig Messungen statt, um die Wahrscheinlichkeit abschätzen zu können. Natürlich kommt der Konsens daher, dass die Nation gespalten ist und die Wahl so oder so wie schon 2000 wieder eng entschieden werden wird. Daher bleibt der Ausgang unberechenbar.

Auf und Ab: die Umfragen der Washington Post

Aber was macht die Faszination aus, täglich Umfrageergebnisse präsentiert zu bekommen, wo die Kandidaten stehen? Wir wirken sich diese Umfragen auf die Wahlkampfteams und die Wähler aus? Sie ziehen auf jeden Fall eine angeblich neutrale, distanzierte Position ein, auch wenn nun die Meinungsforschungsinstitute und die Medien mit ihren unterschiedlichen Ergebnissen konkurrieren. Gerade bei einem knappen Wahlausgang ist aus der Perspektive der Medien verständlich, dass die Etappen des Wettlaufs, der allerdings eher einem Auf und Ab gleicht, minutiös festgehalten werden. Die Wahlkampfteams werden ihre Werbung und ihre Auftritte nach den Umfragen ausrichten, wenn sie regionale oder thematische Schwächen indizieren. Aber warum will der Wähler täglich über sein künftiges Verhalten Wahrscheinlichkeitsaussagen erhalten?

Ein Wetterbericht sagt etwas voraus, auf das die Menschen direkt keinen Einfluss haben, auf das sie sich aber einstellen müssen oder können. Eine Wahlumfrage wirft auch einen Blick in die Zukunft, aber eine, die die Wähler als Gesamtheit selbst in der Hand haben, während der Einzelne nur daran glauben kann, dass seine Entscheidung kumulativ Bedeutung hat. Liegt Bush vorne, wird sich dann der Bush-Anhänger gemütlich zurück lehnen und nicht zur Wahl gehen, während der Kerry-Anhänger sich aufgerufen wähnt? Ist das Ergebnis einer Umfrage, das einen Sieg für Kerry voraussagt, für Bush oder für Kerry günstiger? Wird nicht die Unsicherheit eher bestätigt als beseitigt?

Hätten wir Lust, einem Fußballspiel zuzusehen, bei dem der Kommentator von der ersten Minute an darüber spekuliert, wer der Sieger sein wird? Nun ja, vielleicht wollen wir auf das Ergebnis wetten, aber es müsste unentschieden sein. Die Umfragen scheinen weniger die Wahrscheinlichkeit, sondern eher die Unsicherheit zu bestätigen. Der Wahlausgang wird trotz aller Voraussagen überraschend bleiben, auch wenn dies für die Politik weit weniger gilt. Immerhin gab es dann ein paar Wochen Suspense, dann können die Wähler wieder zusehen, was aus ihrem Auftrag gemacht wird. Dann werden die Umfragen wieder seltener, wenn nicht ein besonderes Ereignis wie der Irak-Krieg inszeniert wird. Das aber wird die Menschen langfristig nicht ruhig stellen, denn die Mediendemokratie samt Umfragen weckt Bedürfnisse nach Beteiligung, die durch medialen Suspense nicht wirklich eingelöst werden können.